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Freitag, 3. Januar 2014

Odenwald-Tapete: Eine elende Jugend


Es ist ein goldener Herbsttag in den späten Neunzigern. Ich bin in meinem Auto, einem alten, blauen Einsergolf, auf der B45, Höhe Shelltankstelle/Michelstadt in Richtung Zell unterwegs: Eltern frisch getrennt, Mutter langfristig im Krankenhaus, Liebeskummer und Abiturvorbereitung – es hatte schon bessere Zeiten gegeben. Da zwitschert dieser Typ im Radio, das Wochenende werde er im Odenwald verbringen: tolle Luft, schöne Landschaft, nette Leute, genau der richtige Ort, um sich mal zu erholen. Meine ganze Teenagerwut entlädt sich und ich brülle das Radio an, dass die Menschen im Odenwald von genau den gleichen Katastrophen heimgesucht werden wie im Rest der Welt, ob ihm das nicht klar sei? Es kommt eben immer darauf an, wo man wohnt und wo Urlaub macht; auch der Pazifik vor der Haustür schützt nicht vor Schicksalsschlägen.

Wer hat da was gegen den Odenwald gesagt?
Obwohl mir diese Szene so intensiv in Erinnerung geblieben ist, kann ich nicht sagen, eine besondere Haltung gehabt zu haben gegenüber der Gegend, in der ich aufwuchs – außer dass ich es als Kind toll fand, immer draußen zu sein, durch die Wälder zu streifen, Baumhäuser zu bauen. Mein Vater, ein Berliner, der sich in den Odenwald zunächst verirrte und dann verliebte, der hatte eine Haltung, konnte stundenlang schwärmen über das wunderschöne Fleckchen Erde, an den es ihn verschlagen hatte. Ich fühlte mich von meiner Umgebung weder besonders bedrängt noch beflügelt, kann aber sagen, dass ich mich unterm Strich wohlgefühlt habe. Natürlich wird es einem als Teenager zwischenzeitlich immer zu eng dort, wo man lebt, aber Heidelberg war nah, Frankfurt erreichbar und außerdem konnte ich schon damals das Gefühl nicht abschütteln, man nimmt doch all die inneren Kämpfe mit, egal wohin man geht – weil sie genau da sind: innen; der Odenwald hatte damit nichts zu tun.

Im Online-Feuilleton der F.A.Z. erschien an Neujahr nun ein Wutausbruch der Autorin Antonia Baum, in dem sie sich über diesen Odenwald ereifert, auf den sie dereinst „im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden“ ist und der sie, verkürzt gesagt, umgebracht hätte, wäre ihr Deutschlehrer nicht gewesen. Der Odenwald ist nämlich, erfährt der Leser, ein Ort, der für Heranwachsende nicht weniger als „ein Todesurteil“ bedeutet, ist „lebensgefährlich“ für den Kopf – und alles dort „eine Wand, gegen die man im Kopf den ganzen Tag dagegenrennt“.

Idylle sieht überall gleich aus. Auch im Odenwald.
Schon als Kind sei man diesem Ort „hilflos ausgeliefert“, erinnert sich Baum, selbst zeit ihrer Kindheit und Jugend „der Odenwalddurchschnittlichkeit Inhaftierte und mit (ihrer) Familie an diesem Ort total Deplazierte“, wobei jene Deplatzierung auch darin begründet zu sein scheint, dass die Menschen im Odenwald offenbar allesamt mit eher minderer Intelligenz ausgestattet sind. Besonders gilt das für die Jungs im jeweiligen Alter der Autorin, die sogar richtig dumm sind, „das konnte einem nicht entgehen, selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte“.

Die Gegend an sich sei im Übrigen eine schöne, das Problem die hässlichen Gebäude, erdacht und erbaut von Menschen, denen die Region wohl egal sein müsse; aber auch – das wird weniger klar benannt und spricht doch mit Macht aus den Atempausen zwischen den Zeilen – die Leute, die hier leben, ohne zu begreifen, sie müssten eigentlich fort.

„Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine einzige Chance. Die Familienoberhäupter waren Männer, die Frauen meistens zu Hause, die Männer schrien die Frauen an, wenn sie selbst versagt hatten, die Frauen ließen sich von ihren Männern anschreien, und beide, Männer wie Frauen, wollten in der Nachbarschaft einen gepflegten Eindruck machen. Es gab dekorative Vasen und Glasfiguren, modische Sitzgarnituren, Helmut-Kohl- Biographien und Mädchen, die Schlampen waren, wenn sie im Alter von fünfzehn Jahren häufiger den Freund wechselten.“

Die Kindheit und Jugend der Antonia Baum scheint eine elende gewesen zu sein und so, wie andere Menschen dafür ihre Eltern verantwortlich machen, wälzt sie die Verantwortung ab auf das, was sie im Heranwachsen umgab, ohne ihr Inspiration gewesen zu sein. Dabei ist sie leider furchtbar beliebig: Mit diesem Teenagerfrust im Bauch könnte man sämtliche Vorwürfe, die sie dem Odenwald macht, einfach jeder ländlichen Region in Deutschland (und überall auf der Welt) entgegenschleudern. Der Gedanke ist der Journalistin zwar offenbar auch kurzzeitig gekommen (der Odenwald ist „an Hässlichkeit und Traurigkeit eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind“), allein er ändert nichts daran, dass die Mittzwanzigerin auf ihrer Teenagerwut seltsam hängengeblieben scheint.

Es macht den Artikel aber zu allem auch noch furchtbar unoriginell, weil er wiederkäut, was schon oft beschrieben wurden: Die Wut Heranwachsender auf eine sie eng umschließende Ländlichkeit, in der einfach nichts passieren will – und auf die Weite eines Landkreises, die in diesem Alter gefühlt mehr Freiheit nimmt denn gibt, weil eben nicht im Minutentakt eine U-Bahn durch sie hindurchrauscht, um uns an einen anderen, vermeintlich besseren Ort zu bringen. Ob aber das alleine gefährlich ist für den Kopf, ein Todesurteil oder auch nur ein Alleinstellungsmerkmal des Odenwaldes darf, wie gesagt, bezweifelt werden.

Daneben hadert Baum mit der Frage nach einer Heimat. Man kann nun dem Begriff an sich misstrauen, sollte es auch oft genug – denn er ist missbraucht worden für Schrecklichkeiten, von denen man sich fernhalten muss, wenn einem der Kopf und das Herz funktionieren. Es nutzt aber nichts, all seine Angst vor den Dummen, Rechten und Unverbesserlichen diesem Wort aufzuladen, und zu glauben, man habe sie ausgetrickst, indem man es nicht mehr verwendet. (Man stelle sich zum Beispiel den Versuch vor, mit Peter Kurzeck, was ja leider nicht mehr möglich ist, über sein Werk zu sprechen, ohne den Begriff Heimat zu benutzen.)

Heimat – Home – Zuhause, rein emotional betrachtet wird damit zunächst lediglich ein Ort, Mensch oder Ding beschrieben, zu dem wir eine emotionale Verbindung haben, wohin wir zurückkehren können und wissen, wir werden erkannt und erkennen wieder. Das kann, wie Baum selbst schreibt, für Bücher gelten (in ihrem Fall darüber hinaus für ihre Kleidung und besonders ihr Bett), für Menschen oder Musik und natürlich auch Orte; solche, an denen wir aufgewachsen sind oder solche, an denen wir uns niedergelassen haben. So richtig konsequent wirkt Baum aber ohnehin auch mit dieser Skepsis nicht, da sie das Wort erst dem rechten Lager zuordnet und später munter weiter verwendet; Lektorate sind heutzutage eben überflüssiger Luxus.

Warum die F.A.Z nun einen Artikel veröffentlich, der das Spießertum bejammert, dabei aber mit den ausgelutschtesten aller Klischees über den ländlichen Raum und das, was es bedeutet, darin aufzuwachsen, hantiert, die man überhaupt zusammentragen kann, bleibt allein ihr Geheimnis. Die Verfasserin ist nebenbei übrigens Buchautorin, ihren Roman rezensierte die F.A.Z. einst mit folgenden Worten:

„Antonia Baums vollkommen lebloses Debüt, in dem eine junge Frau in Berlin nach der Liebe sucht, wird als neue deutsche Literatur verkauft. Was für ein Irrtum! Sapperlot! Welch eine Verzweiflung muss herrschen auf den deutschen Verlagsfluren, wo offenbar jedes noch so missglückte Debüt mit Handkuss angenommen wird.“

Das war Ende 2011, seit Februar 2012 arbeitet Baum laut Autorenvita für die Zeitung. Offenbar wurde ihr dort eine zweite Chance gegeben, vielleicht sollte sie selbiges mit dem Odenwald tun – nicht etwa dieser Region, sondern sich selbst zuliebe...


Der Originalartikel in der F.A.Z. – klick.
Der Odenwald(kreis) bei Wikipedia – klick, klick.
Peter Kurzeck über Heimat als Ort und Sprache – klick, klick.

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Montag, 3. Juni 2013

Freitag, 18. Juli 2008

Mein Haus am Ende der Straße


Nachdem ich aus der Heimat, in die ich hineingeboren wurde, ausgezogen war in eine, die ich mir selbst suchte, wurde ich bei meinen Freunden bald als Wandernomadin bekannt. Etwa einmal pro Semester – so rechneten wir damals – packte ich meine Kartons und suchte mir ein neues Dach über den Kopf, weil das alte nicht mehr zu mir passte; nur einmal blieb ich etwas länger, doch dann zog es die beste Mitbewohnerin der Welt in ein fernes Land – und mich drei Straßenzüge weiter.

So ging das, bis ich mich verliebte. Zuerst in einen Mann, der mir schon zwei Jahrzehnte voraus gelebt hatte. Dann zeigte er mir seine Wohnung und ich blickte an dem braunen Haus empor, lugte ums Eck in Richtung Güterbahnhof und sagte: „Hier wollte ich wohnen, seit meine Füße mich zuerst in diese Stadt trugen“ – denn so war es. Oft hatte ich bei Spaziergängen oder Radausflügen in die Fenster des Gebäudes geschielt und mich gefragt, was das für Menschen waren, die ihre Schaukelstühle in den wunderschönen runden Erkern aufgestellt hatten.

Bald darauf suchte ich gerade wieder nach vier Wänden, zwischen die meine Möbel und Träume passten, doch unter keinem Dach floss genug Luft für meine durstigen Lungen. In einem April, bei Dreharbeiten in Dijon, klingelte mein Handy und daraus sprach der alte Mann, den ich mittlerweile zu lieben glaubte, den Satz: „Die Wohnung im vierten Stock ist freigeworden. Was meinst du?“ Ich meinte, dass es Irrsinn war, mich verschlucken zu lassen von seiner Nähe, doch als ich die Wohnung eine Woche darauf betrat, zum ersten Mal über den Dielenboden glitt und aus dem vierten Stock auf die Kreuzung blickte entflammte mein Herz für sie; im Juni desselben Jahres zog ich ein.

In lauen Sommernächten huschten meine Füße in den Monaten darauf über ausgelegtes Zeitungspapier, schwang ich bei offenem Fenster darauf nachts die Pinsel und bemalte meine Wände, lackierte Möbel, schrubbte Fußbodenleisten und putzte Dielen – und um mich herum wuchs das erste Zuhause, in dem ich ein Ankommen verspürte. Und mich so wagte, die braunen Umzugspappkisten der Vergangenheit erst in den Keller zu räumen, dann sogar zu verschenken.

Sechs Stockwerke, siebzehn Wohnungen und ein Laden, sechs Jahre, drei Monate und achtzehn Tage – und ein Strauß voller Geschichten und besonderer Momente, in einem Haus, dessen Bewohner mir in fünfundsiebzig Monaten so vertraut geworden sind. Da ist der alte Mann im fünften Stock, der jeden Tag zu seiner Frau auf den Friedhof fährt, seit vielen Jahren schon. Klein und schmal, mit einem feinen Schnapsatem, begegnet er mir im Hausflur und seine trüben Augen leuchten auf, wenn wir uns unterhalten. Manchmal füllen sie sich auch mit Tränen, immer dann wenn die Erinnerung an verlorene Zeiten und Lieben zu stark wird, dann ruht sein Kopf für einen Moment an meiner Schulter, und wenn er sich wieder aufrichtet, ist das Strahlen in seine Augen zurückgekehrt.

Da ist das Ehepaar in der Wohnung ihm gegenüber, dessen Wohnung noch mit einem Kohleofen beheizt wird, für den der wortkarge Mann im Winter oft stundenlang den Lastenaufzug betätigt. Deren Söhne mit ihren bildhübschen Frauen und drolligen Kindern die beiden oft besuchen, und wenn sie wieder gehen steht die gütige Frau am Fenster, um ihnen nachzuwinken; und das Lachen ihrer Enkel klingt von der Straße hinauf in meine Wohnung.

Da ist die alte Dame im dritten Stock, die schon länger in diesem Haus wohnt, als manche Ehe währt – goldene Hochzeit können sie und ihre Wohnung im nächsten Jahr feiern. Und daneben die Mutter mit ihren beiden Söhnen, die ich sechs Jahre lang aufwachsen gesehen habe, von übermütigen Grundschülern zu Teenagern, die mittlerweile die Wochenenden in Abwesenheit der Mama auch mal alleine daheim verbringen dürfen. Und die dann die Musik aufdrehen, was mich nicht stört, weil sich umgekehrt auch niemand beschwert, wenn mir Leonard Cohen nachts um halb drei noch „Suzanne“ vorsingt.

Da ist die ehemalige Erzieherin im dritten Stock, die seit über vierzig Jahren im Haus wohnt und sich darum kümmert, dass alles hier seine Ordnung hat. Mit bunten Zetteln, die zuweilen wütend klingen und Drohgebärden, über die ich mich anfangs ärgerte – bis ich begriff. Wie viel das alles ihr bedeutet und welch großes, gutes Herz unter ihrem Hausmantel schlägt, das sich oft einsam fühlt; so wurden wir zu Treppenhausratschen, sie und ich, unbesehen der dreieinhalb Jahrzehnte die uns trennen, und haben unzählige Plaudereien am kühlen Geländer geführt, von dem seit langem die Farbe abblättert.

Da ist die Frau im ersten Stock, die vor zwei Jahrzehnten aus der Türkei in die Stadt am Rhein kam und immer Besuch bekommt, von ihren Kindern aus der Stadt nebenan, oder ihrer Verwandtschaft vom fernen Bosporus. Die ich häufig in der Stadt treffe – und es hat ein paar Jahre gedauert, bis sie mich auch dort erkannte und nicht nur unter dem Dach, das wir teilen, sie im ersten, ich im vierten Stock.

Und da ist der kleine, runde Italiener, der im Erdgeschoss ein Klamottengeschäft betreibt, wo er immer meine Pakete entgegennimmt, wenn ich nicht da bin und auch meine Lieblingstreppenhausratsche aus dem dritten Stock auf das Klingeln des Mannes im gelben Sprinter nicht öffnet. Wenn ich die braunen Wunderkisten dann bei ihm abhole, strahlt er unter seiner goldenen Brille hervor und ruft laut, „Ciao, Bella, wie geht es Ihnen, meine liebe, schöne, junge Frau?“, und immer muss ich lachen und dachte schon oft, es sollte ihn auf Rezept geben, denn nichts ist besser für müde Geister und überspannte Nerven, als die donnernden Komplimente meines kleinen, dicken Italieners.

Sie alle haben mich gehalten, als das mühsam erbaute Konstrukt zwischen mir und dem Mann, den ich einst zu lieben glaubte, längst zerbrochen war und seine alte Wut mir tiefe Wunden ins junge Fleisch geschlagen hatte. Da wollte ich zuerst gehen, herausfliehen unter dem Dach, das uns einte, mich hoch über den Wolken und ihn am Boden – doch andererseits, was wog er alleine schon gegen all die wundervollen Menschen, die mich hier umgaben; und so bin ich geblieben.

Nun aber ist die Zeit im runden Erker vorbei, die Ratschereien mit meiner Gesprächsfreundin aus dem dritten Stock, die heimlich durchs Treppenhaus getragenen und unter Fußmatten versteckten Nikoläuse oder die Eisenbahngeschichten des alten Herrn, fünftes OG links – denn nach sechs Jahren, drei Monaten und achtzehn Tagen werden es ab nächstem Monat andere Wände sein, zwischen denen ich mein Heim einrichte und neue Menschen, denen ich im Hausflur begegne.

Darauf, den bisher fremden Ort mit meinen Erinnerungen zu bemalen und meiner Zukunft zu füllen, freue ich mich ungeduldig; dies’ Fleckchen Heimat in meinem Haus mit dem runden Erker aber – niemals werde ich es vergessen.


Tja, was sagt man dann, nach all der Zeit: Alles Gute?
Hört sich komisch an – und so ist mir auch zumute.
[Reinhard Mey]


Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut.
[Arthur Schnitzler]

*



Dienstag, 1. August 2006

...where I left a Piece of my Heart


Sie waren mir besonders, die zehn Tage im Jahr. Als „hier“ noch Heimat war und er nicht schwankte, der Boden, auf den ich nun unsicher meine Füße setze. Der Ort, an dem ich keinen Platz mehr habe. Der Heimat geblieben ist, alt, aber kein Heim mehr bietet, neu, weil sich alles den Veränderungen der Zeit unterwerfen muss, ohne dass wir danach gefragt werden, ob uns das nun passt oder nicht.

Ich denke an meinen Vater – denn es waren auch seine zehn Tage. Dieses riesige, bunte Fest voller Menschen, mit den flackernden Lichtern, die das Dunkel der Nacht durchzucken, hat ihn und mich gleichermaßen angezogen, so, wie auch Bären dem Geruch des Honigs folgen – weil das eben so ist. Das große, beleuchtete Rad dreht sich, immer und wieder, ich sehe in den Nachthimmel und den Gondeln hinterher, bis mir schlecht wird davon.

Ich kann, wenn ich die Augen schließe, das Häuschen sehen, in dem mein Paps die letzten Wochen seines Lebens verbracht hat. Es ist nur ein paar Minuten von hier den Berg hoch. Oben, unterm Dach, das Gästezimmer – mein Zimmer. Dort wollte ich übernachten, jeden Sommern, mit drehendem Schädel, nach dem Fest. Mit ihm die ersten Biere trinken. Und dann losziehen, weiter, Freunde treffen. Die alten.

Nun trinke ich mein Bier ohne ihn. Dafür mit einer Schulfreundin, bei der ich später auch übernachte, nun, da ein fremder Mann im Haus meines Vaters lebt. So werde ich also keine Nacht mehr im Gästezimmer unterm Dach verbringen – und habe ich ohnehin nie, wo doch alles so schnell ging, plötzlich, in jenem Januar.

Heute nun also bei jener Freundin, alten, der ich mal die Haare geschnitten habe, in der zweiten Klasse. Was großen Ärger gab, mit ihrem Vater, vor dem ich mich fürchtete – ebenso wie sie. Der Arzt war, außerdem noch Alkoholiker – und sich umgebracht hat, zehn Jahre ist das jetzt her. Und ich bin mir nicht sicher, ob das eine ganz andere Geschichte ist, oder vielleicht einfach die selbe.

Mit Bier und Zigaretten ziehen wir über das Fest und plötzlich fällt mein Blick auf die Halle, kaum hundert Meter von uns entfernt. „Hej“, sage ich, „lustig: Hier war ich seither nie.“ „Seit wann?“ Ich muss nicht wirklich nachdenken, tue aber so – nur kurz, bevor ich grinse, „na, seitdem der Papi gestorben ist“. „Was hat das mit der Halle zu tun?“ „Hier ist es passiert.“ „Echt, ich dachte in der anderen, weiter da unten?“ Sie deutet irgendwohin ins Leere. Ich weiß nicht welche Halle sie meint, schüttle den Kopf und denke dabei, so lustig war das doch gar nicht – aber ihr ist es noch nicht einmal aufgefallen. Doch da schiebt sich ihre Hand in meine, ist sie an meiner Seite mit einem Blick, der heute noch alles so versteht wie früher. Weil es eben Dinge gibt, die sich der Veränderung der Zeit nicht unterwerfen lassen; zum Glück.

Als wir noch zur Schule gingen, sind wir in den großen Ferien zehn Tage lang jeden Abend auf dieses Fest gezogen, um gemeinsam zu feiern, uns und das Leben, zu lachen, in der warmen Luft der endlosen Sommernächte, Karussell zu fahren – und dann, wenn die Geräte das Drehen an unsere Mägen und das Bier es an unsere Köpfe weitergegeben hatten, in Scharen nach Hause zu wanken und irgendwie beseelt in unsere Jugendzimmerbetten zu fallen.

Mein Kopf sendet eine vergrabene Erinnerung aus jedem Jahr das ich je hier verbracht habe an mein waches Herz, und in jeder Sekunde dieses Abends spüre ich ebenso viele Gründe um zu lachen wie um zu weinen, liebe ich es hier zu sein – und hasse mich auch dafür, diesen Abend zwischen „heute“ und „gestern“ auf dem lauten, bunten Fest zu verleben; zumal freiwillig.

Und spüre doch, dass es an der Zeit war für diese Begegnung mit dem Gestern. Weil ein Teil von mir in jeder der Ecken steckt, die ich an diesem Abend streife. Ein Bild von mir in jedem dieser Menschen, die mich erinnern wie ich sie: vielleicht nicht ganz richtig, vielleicht sogar völlig falsch, dabei aber immer echt, einfach, weil es da all diese Jahre gab, die wir geteilt haben. Das macht sie mir wichtig, immer noch – obwohl ich es vergessen hatte, unterwegs. Wichtig, weil ich zwar nicht meine Wurzeln bin, mich aber wohl fühle daran, sie hier zu spüren, nach langer Zeit wieder.

Es liegt immer ein Schmerz im Abschied, doch er folgt der Wut erst nach, kommt nicht mit ihr und auch nicht davor. Was zunächst aussah wie eine Verabschiedung, ist in Wahrheit nur hilfloses Abwenden gewesen. Denn erst, wenn die Wut sich zurückgezogen hat, ist der Moment gekommen, wiederzukehren, um noch einmal Abschied zu nehmen, ehrlich nun – dort, wo vor langer Zeit ein Teil des eigenen Herzens zurückgeblieben ist.

Wo ich es schließlich in den Begegnungen mit Menschen an diesem Abend wiedergefunden habe – und eingesammelt. Nicht, um es mitzunehmen, dahin, wo ich nun bin, sondern um es zu verbuddeln, genau da, wo meine Wurzeln sich tief in die Erde gewühlt haben. Damit mein wilder Herzschlag sie am Leben hält und ich zurückkehren kann, jederzeit, um mich ihrer zu vergewissern.

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