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Dienstag, 10. September 2013

Robert Enke: Ein allzu kurzes Leben

Lesen, das ist eine emotionale Angelegenheit. Ein Einlassen in die Geschichte, die sich entfaltet, ein Abtauchen in die Seiten, deren Umblättern zart die Innenseite der Hände streichelt. Es ist der Auftakt einer ganz besonderen Beziehung – der zwischen Lesendem und Schriftsteller, die Berührung zweier Welten außerhalb der Welt, dort, wo die Imagination des einen und die Phantasie des anderen sich treffen. Bücher schaffen Veränderung – bei dem, der sie schreibt und dem, der sie liest.

Bei einer Biografie wird dieses besondere Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser um eine Person erweitert – und das anders, als es bei Protagonisten in einem Roman der Fall ist. Für die Begegnung mit dieser Person muss sich der Leser auf den Autor, bei dem er einen Wissensvorsprung voraussetzen darf, verlassen können. Auch seine Beziehung zu dieser Figur, der tatsächlichen, aus dem Leben ins Buch transportierten, ist abhängig vom Blick des Schriftstellers auf den Gegenstand seines Schaffens. Kann die Verbindung über Bande gelingen?

Ronald Reng: Robert Enke. (Foto: Verlag)

„Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“ – die 427-Seiten starke Biografie des Sportjournalisten Ronald Reng über den Torwart, der sich im November 2009 das Leben nahm, stiftet die Beziehung zwischen Enke und dem Leser in beinahe schmerzlicher Intensität. Das einfühlsame Portrait gelingt dank seines hervorragenden Autors auf allen Ebenen. Nicht nur ist Reng ein weit gereister Sportjournalist, der den Fußball versteht und mit Leidenschaft für das Spiel brennt, seine Schreibe ist warm, klug und spannend. Die enge persönliche Verbindung des Autors zu Enke und dessen Witwe Teresa spricht aus jeder Zeile über den Privatmenschen Robert Enke; und Reng vermag es ohnehin, jedes Thema, das er anpackt, mit einer beinahe poetischen Zärtlichkeit zu unterlegen – die niemals zu weit geht, nie in den Kitsch abdriftet. In einem Satz: Dieses Buch ist ein Geschenk.

Ein Geschenk allerdings, dessen Auspacken dem Leser schmerzlich vor Augen führt, in welcher Welt wir leben. Wie wir, als gesellschaftliche Gemeinschaft, viel zu häufig versagen dabei, die aufzufangen, die schwach sind oder sich als schwach empfinden. Der Druck, der auf Enke lastete, seine furchtbare Scham im Umgang mit der Depression, hält uns den Spiegel vor – der Blick hinein ist beschämend.

„Ein Glückskind, eigentlich“ – so lautet das erste Kapitel des Buches. Und die Erkenntnis, dass Enke doch, eigentlich, irgendwie, ein Glückskind war, begleitet den Leser auf seiner Reise durch dessen Lebensgeschichte. Die große Liebe zu Teresa, mit der Robert Enke sein Leben schon früh teilte, das Elternhaus, das ihm scheinbar alles mitgab, der Beruf, den er liebte. Wieso dann immer wieder diese Angst? Woher dann diese Verunsicherung, warum die Zweifel und dunklen Gedanken?

Weil eine Krankheit, egal welche, dem Anspruch widerspricht, zu funktionieren. Der Hoffnung auf Glück. Weil eine Depression, scheinbar muss man das immer wieder betonen, eben genau das ist: eine Krankheit. Die den Menschen genauso schonungslos attackiert wie ein Herzleiden, wie Krebs – weil sie den Körper ebenso belastet, den Betroffenen ebenso durchschüttelt, ihn angreifbar macht, schutzlos und abhängig von der Hilfe anderer. Um die es sich aber umso schwerer bitten lässt, weil neben der Angst vor der eigenen Schwäche die noch größere vor der Stigmatisierung mitschwingt.

Der Eindruck, der nach der Lektüre von Enkes Biografie zurückbleibt ist so schlicht wie bitter: Der Torwart hat sich immer wieder dagegen entschieden, Hilfe offen anzunehmen, weil er sich nicht vorstellen konnte, anschließend seinen Beruf weiter ausführen zu dürfen. Die Berufung als Nummer Eins ins Nationalteam, für Enke großartige Chance und immense Belastung zugleich, besiegelte dabei auf tragische Weise sein Schweigen, alle Überlegungen, mit der Krankheit doch an die Öffentlichkeit zu gehen, wurden für ihn so hinfällig. Ein Torwart muss stark sein, muss alles aushalten können, dieses öffentliche Bild war auch Enkes Überzeugung. Die Angst, mit der vermeintlichen Schwäche seine Chance zu vergeben, war zu groß. Und am Ende mit und in dieser Angst auch der Druck.

Dass der sensible, stets um seine Mitmenschen besorgte Enke sich gerade vor einen Zug wirft und einen anderen zum Komplizen seines Selbstmordes macht, die Tatsache steht für Reng wie ein Symbol: Robert Enke hat an diesem Novembertag keine Hoffnung mehr gehabt, keinen Ausweg mehr gesehen. Und nein – es gibt kein gesellschaftliches Schuldprinzip für Selbstmord. Doch es gibt eine Verantwortung, die wir tragen, im Umgang miteinander, auch und gerade im Angesicht von Krankheit, Not und Schwäche. Prominente Schicksale wie das von Robert Enke erinnern uns daran – es bleibt zu hoffen, dass sich daraus in kleinen Schritten ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Enkes Tod und die tragischen Umstände haben das Land im November 2009 betroffen gemacht und den Ruf nach Veränderungen laut werden lassen – aber was ist seither tatsächlich passiert? Rengs Buch leistet einen wichtigen Beitrag: für den Wandel und gegen das Vergessen. Lesebefehl!


Ronald Reng
Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben
427 Seiten
Piper Taschenbuch
9,99 Euro

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Donnerstag, 5. September 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (5): Ihr könnt nach Hause fahr'n!

Es ist natürlich wunderbar, wenn das Stadion ausverkauft ist. Von mir aus dürften gerne zu jedem Heimspiel der Mainzer 34.000 Fußballfans kommen. Da nehme ich auch in Kauf, dass ich früher im Block sein muss als an anderen Spieltagen, um meinen Stehplatz zu ergattern. Dass ich fremden Menschen körperlich deutlich näher komme, als ich es im Normalfall anstrebe. Und dass um mich herum neben den von anderen Kicks gewohnten Gesichtern etliche sind, die man eben nur sieht, wenn der FC Bayern oder Borussia Dortmund zu Besuch kommen. So weit, so in Ordnung.

Bis, ja, bis einige dieser Selten-Stadion-Besucher zum ersten Mal den Mund aufmachen. Und auch zum einzigen Mal. Weil sie ihn anschließend nämlich für satte neunzig Minuten nicht wieder zukriegen.


Motzt doch, so viel ihr wollt, ich finde es toll hier. (Foto: Anne Karn)
Natürlich bekommt man es bei jedem Spiel mit verbalen Klassikern zu tun, was die Bewertungen und Sprüche einiger Umstehender angeht. So ist weithin bekannt, dass Torhüter Christian Wetklo „nix kann“, vor allem „keine Abschläge, der Wurflegastheniker“ – ich möchte mal wissen, welcher verdiente Spieler eines anderen Vereins ähnlich wenig Kredit in bestimmten Fan- oder Anhängerlagern genießt: traurig. Aber derlei Sprüche kennt man ja, also ruhig Blut und am Spiel erfreuen.

Genau das, sich am Spiel zu erfreuen, ist den Selten-Stadion-Besuchern mit verbaler Dauer-Diarrhöe aber offenbar fremd. Schon zehn Minuten gespielt und es steht noch immer 0:0? Im Spiel gegen einen in dieser Saison schier übermächtigen FC Bayern München? Da wird es doch unbedingt Zeit für eine erste Bewertung der spielerischen Gesamtleistung auf Seiten der Mainzer: „Grottenkick.“ Wehmütig erinnert man sich da an Zeiten, in denen bei Spielen gegen den Rekordmeister jedes Mal ein kleines Freudenfeuerwerk abgebrannt wurde, wenn zehn Minuten ohne Gegentor verstrichen waren – oder einfach ein Pass gelang.

Akustisch kommt indes alles so, wie es nun einmal kommen muss: „Der Kirche spielt doch schon für die Bayern“, fachsimpelt man hinter mir durch die nasskalte Februarluft, gefolgt von einem lauten und vollmundigen: „Kirche, du Penner, fahr doch gleich mit denen nach Hause.“ Anschließend wird der gelungene Scherz gemeinsam belacht und das Thema mit der Feststellung abgeschlossen: „Bei mir würde der Depp ja den Rest der Saison auf der Tribüne hocken.“ Tja, und bei mir hätte der Absender dieser Aussage Stadionverbot, aber das Leben ist nun mal kein scheiß Ponyhof.

Das Gemoser jedenfalls nähert sich seinem vorläufigen Höhepunkt. Auf Seiten der Nullfünfer kann eigentlich überhaupt niemand irgendwas. Nicolai Müller „schläft heute beim Gehen“, Shawn Parker ist „total überschätzt“ und Andreas Ivanschitz ist „der größtmögliche Chancentod“. Auch Christian Heidels Sachverstand muss unbedingt angezweifelt werden, weil er Noveskis Vertrag verlängert hat, obwohl der „schon uralt“ ist und in der ersten Halbzeit auch einen (!) Fehlpass zu verbuchen hat. Fast folgerichtig denn auch die Beobachtung, der „peinliche Tuchel“ gehe „voll auf den Sammer los“ und Niki Zimling sei (Achtung, Brüller!) „zimling schlecht“ ins Spiel gekommen.

Kurz vor Ende der Partie dann beim Blick auf einige Anhänger der Münchner, die im Stehblock der Nullfünfer die Auswärtsmannschaft lautstark feiern (wobei die Frage erlaubt sein muss, ob die sich nicht entweder woanders hinstellen oder etwas weniger ekstatisch aufführen können) die wehmütige Feststellung: „Bayernfan müsste man sein!“… „Aber bitte, mach das doch!“, möchte man ihnen da zurufen. Oder anders ausgedrückt: „Geh mit dem Fußballgott – aber geh.“

[Zuerst veröffentlicht im Februar 2013 auf www.allgemeine-zeitung.de]

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Samstag, 11. Mai 2013

Sternenhimmel über der Wüste: Die Farbe der Nacht

„Als ich erwachte, saß ich auf meiner Veranda. Das kalte Telefon in beiden Händen. Der Akku war leer, er hatte sich klaglos verbraucht. Wie oft ich wohl angerufen hatte. Wieder und wieder, Stunde um Stunde. Aber nie eine Antwort, kein einziges Mal.“ – Madison Smartt Bell: „Die Farbe der Nacht“

Gut 30 Jahre sind vergangen, seit Mae ihre Geliebte Laurel zuletzt gesehen hat. Nun entdeckt sie diese wieder – im Fernsehen, als eine der ungläubigen, verstörten Beobachter der einstürzenden Türme des 11. September. Durch dieses Quasi-Wiedersehen geht eine Wunder auf, so will es dem Leser zunächst erscheinen; bald schon wird aber klar, Mae ist längst selbst zur Wunde geworden – offen stehend und blutend.

Die Farbe der Nacht. (Foto: Verlag)
Der Blick, den Autor Madison Smartt Bell durch die Augen seiner Ich-Erzählerin auf das Amerika der letzten sechs Jahrzehnte wirft, ist ein schonungsloser. Er schickt seine Figur in eine durch und durch abartige Welt, umgeben von perfiden Menschen wandelt sie in zunehmender Abgestumpftheit durch den Morast ihres Lebens. Dessen Szenen sind in ihrer Eindeutigkeit fast schon zu banal – der Bruder, der sie missbraucht und dann für eine andere Frau „verlässt“, die Eltern, die sie vernachlässigen, die Gesellschaft, in der sie keinen Halt findet – und wirken doch nie platt oder beliebig.

In den Sechzigerjahren wird Mae Teil einer Kommune, für deren zerstörerische nächtliche Feldzüge Bell sich Charles Manson zum Vorbild nimmt. Gewalt, Mord, Drogen und Sex greifen bei den Sektenmitgliedern ineinander wie die stumpfen Zacken eines Zahnrades und können jederzeit zur Orgie anschwellen. Angst und Euphorie, Blutrausch und Erregung, das alles schafft Einheit und wird zu einer zerstörerischen Bewegung, mit der die Gruppe zuerst andere, aber letztlich auch sich selbst vernichtet, da sich ihre Mitglieder zu sicher fühlen.

Als die Polizei die Kommune hochnimmt, sind es alleine Mae und Laurel, die sich zuerst verstecken können und dann gemeinsam fliehen. Für eine Weile bleiben beide in scheinbarer Unbeschwertheit zusammen, wirken befreit aus den Klauen der Sekte; bis sie ihren Anführer in der Wüste treffen und eine erneute Bluttat sich so zwischen die Frauen schiebt, dass ihre Wege sich fürderhin trennen.

Mae lebt in einer Wohnwagensiedlung, als der Leser ihr begegnet. Sie arbeitet in einem Casino in Nevada, vögelt mal für den Rausch und mal gegen Geld, berauscht sich neben dem Sex an Drogen und Gewalt. Wenn sich die Wüste abkühlt, zieht sie mit ihrem Gewehr unter dem Sternenhimmel durch die nächtliche Einsamkeit, umgeben von derselben Stille, die ihre gewalttätigen Streifzüge einst kennzeichnete. Diese äußere Stille schafft eine innere Ruhe, die Mae sonst vergeblich sucht, zugleich schafft sie für den Leser kleine Inseln der Erholung im atemlosen Tempo der Geschichte.

Mae wird Laurel aufsuchen, so viel ist klar – aber was passiert, wenn die beiden Frauen sich nach all der Zeit gegenüberstehen? Und feststellen, die gemeinsame Zeit hat eine von ihnen in einem Leben der Zerrüttung wieder ausgespuckt, während die andere ihres seit der Trennung in der Wüste in die Formen der gesellschaftlichen Erwartung gegossen hat?

Bells Buch ist schnell und intensiv, seine Geschichte und ihre Figuren wirken lange nach. Ein Phänomen ist zudem, wie er es schafft, in all der scheinbaren Eindeutigkeit dieser Schilderungen nie ein Urteil über seine Hauptfigur zu fällen, ihr vielmehr sogar Momente der Nähe mit dem Leser erlaubt. Die Sprache der Erzählung bohrt sich unter die Haut, sie ist poetisch und eindringlich und Bell findet Bilder, die weder zu schwach wirken noch überzogen – sondern immer genau richtig. Ein absolut empfehlenswertes, aufwühlendes Leseerlebnis.


Madison Smartt Bell
Die Farbe der Nacht
238 Seiten
Verlag: Liebeskind
Preis: 18,90 Euro

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Montag, 14. Januar 2013

Kompakt: Musik für meine Ohren

Was ich an Interviews liebe: Wenn Leute erzählen, sie seien in einem Haushalt voller Musik und Literatur aufgewachsen. Das klingt warm und klug, nach einem guten Zuhause. Zugegeben, auch bei uns gab es viele Bücher und an Musik bestand kein Mangel – von Literatur zu sprechen, wäre aber mehr als übers Ziel hinausgeschossen. Und beim genannten Zitat denke ich irgendwie an andere Musik als den Soundtrack meiner Kindheit: Gitte, Milva und Udo Jürgens. Und doch, unterm Strich haben mir meine Eltern die Begeisterung für Musik und das Lesen mitgegeben, und das ist ein großes Glück. Die entsprechenden Inhalte habe ich über die Jahre Stück für Stück gefunden; und finde sie noch.

Es kann ja nicht immer Livemusik sein… (Foto: Marieke Stern)
Der Vorteil beim Lesen ist, dass ich mir über die Ausstattung keine Gedanken machen muss: Einfach ein Buch kaufen, ab auf die Couch – und alles ist gut. Und da ich mir, trotz Grundaffinität in Sachen Technik, niemals einen Reader zulegen werde, ändert sich an dieser Simplizität auch nichts. Anders sieht das bei Musik aus, denn die spielt sich nun mal nicht auf dem Zeigefinger ab, vielmehr braucht es dazu ein Gerät, doch genau an diesem Punkt betrete ich beherzt das Tal der Ahnungslosen... Als Kinder hatten wir zuerst Kassettenrekorder, nannten später tragbare CD-Player unser Eigen und waren als Teenager stolz auf die erste eigene Kompaktanlage. Die klang zwar im Vergleich zum Plattenspieler im Wohnzimmer ein wenig blechern, genügte aber, um den ersten Stock in der gewünschten Lautstärke zu bedröhnen.

Im Grunde ist mein Stand bei Anlagen ähnlich wie der bei Musik: Ich kann sehr gut unterscheiden zwischen „gefällt mir“ und „gefällt mir nicht“ (bei den Anlagen gleichbedeutend mit „klingt gut“ und „klingt eher nicht so toll“); viel weiter komme ich aber nicht. Ehrlich gesagt ist auch nicht auszuschließen, dass mir ein Mangel an Qualität erst mal gar nicht auffällt – oder ich mich mit der Zeit daran gewöhne: Die Anlage, die in meinem Auto für Musik sorgt, verursacht auf längeren Fahrten körperliche Schmerzen, und das Radio in meinem Badezimmer liegt gerne mal etliche Takte neben der korrekten Empfangsspur.

Zuhause war ich lange mit zwei guten Freunden aus meiner Jugend ausgerüstet: meinen Kompaktanlagen aus den Neunzigern. Das ging so lange gut, bis eine das Zeitliche segnete. Relativ zeitgleich übrigens mit meinem Kühlschrank, der zwar nicht vollständig kaputt ist, aber funktional mit einer halb abgebrochenen Tür doch sehr eingeschränkt: Er schließt zwar vollständig ab, einen Kühlschrank einhändig einzuräumen (weil die zweite Hand die Tür hält) ist aber anspruchsvoller, als es sich zunächst anhört... Ich schweife ab, doch das aus gutem Grund: Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich entschieden hatte, was ich zuerst ersetzen möchte – die verblichene Anlage oder den verwundeten Kühlschrank. Das mag lang erscheinen, aber zu dem Thema kann man sich etliche Gedanken machen – und zwischenzeitlich gingen meine Überlegungen vom Plattenspieler (wenn man schon etwas Neues anschafft, dann…) bis zum Auszug (wo der Kühlschrank eh schon kaputt ist…) und wieder zurück zur kleinen Lösung: Kompaktanlage (und im nächsten Winter den neuen Kühlschrank).

Klar: Wer für kleines Geld die Möglichkeit zurückerobern möchte, im Wohnzimmer Musik zu hören, die tatsächlich dort abgespielt wird (und nicht aus dem Schlafzimmer herüber plärrt) darf keine klanglichen Wunder erwarten. Aber so ein bisschen zum Genießen soll das neue Teil ja schon sein. Also ab zum Großhandel meiner Nachbarschaft – von Vertrauen kann keine Rede sein, andererseits darf ich elektronische Geräte aber auf keinen Fall im Fachhandel kaufen: Das endet nämlich so, dass ich viel zu viel Geld ausgebe, weil mich der freundliche Verkäufer erfolgreich dahingehend eingelullt hat, dass – naja, das eben notwendig ist. Ein freundlicher Verkäufer nähert sich mir auch im Großhandel, und er scheint entzückt, als ich zur Schilderung meiner Kaufabsichten ein Zettelchen aus der Manteltasche friemele. Darauf, so vermutet er, habe ich die technischen Eckdaten notiert, auf die es mir ankommt? Beschämt halte ich ihm meine Notizen hin: 40x26 – die Abmaße des Regals, auf dessen Kopf ich meinen Neuerwerb gerne stellen möchte. Der Verkäufer lässt seinen Kopf hängen.

Zumindest sind wir uns einig, was seine Vorführ-CD angeht: Adele verursacht uns beiden Kopfschmerzen. Gegen den Lärm aus einem kleinen CD-Player brülle ich an, der klänge wie mein alter Kassettenrekorder. Der Verkäufer nickt traurig, ich gebe meine Größenvorgaben auf und wir nähern uns den Kompaktanlagen. Die beäuge ich zunächst kritisch: Müssen die derart bunt sein? Und derart hässlich? Mein Verkäufer schaut immer noch traurig. Er zeigt mir die Sonderangebote, die mich allesamt nicht ansprechen. Ich frage vorsichtig, was er sich als Zweitanlage ins Haus holen würde? Mit gerümpfter Nase antwortet er, nichts in dieser Preisklasse – und deutet auf die größeren, schöneren Anlagen mit sattem Bass: Aber ich werde nicht auf den Fachhandelstrick hereinfallen! Und plötzlich – ist das schon Resignation oder ein ehrlicher Versuch? – geht er beherzt auf zwei der kleinen Anlagen zu: Diese könne er guten Gewissens empfehlen.

Ich beäuge – nicht so hässlich. Ich horche – nicht so scheppernd. Ich setze ein fachmännisches Gesicht auf – nicht so überzeugend. Und – ich entscheide mich für eine der beiden Kompakten. Die erweist sich dann leider als ausverkauft und ich bin mir nicht sicher, wer den Tränen näher ist: mein Verkäufer oder ich? Doch es gibt noch ein Happy End: Ich bekomme das Ausstellungsstück, mit 15 Prozent Nachlass auf den schon reduzierten Preis – und als ich mich bei dem Verkäufer für seine geduldige Beratung bedanke, scheint ihn das ehrlich zu freuen. Oder er ist einfach nur erleichtert, dass ich, mein Zettelchen und die Anlage endlich aus seinem Beratungsradius verschwinden...

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Samstag, 15. Dezember 2012

George Pelecanos: Der coolste Autor Amerikas

Manchmal ist das Fernsehen selbst dann zu etwas gut, wenn gerade keine Sportschau läuft. Dann ist allerdings selten das deutsche Programm zu loben, sondern eher der US-Bezahlsender HBO. Der produziert nämlich in beeindruckender Regelmäßigkeit Fernsehserien, die in ihrer Qualität jeden hiesigen TV-Film um lockere Längen hinter sich lassen. Das allein ist schon positiv, doch mit dem Überschwappen eben jener Serien nach Deutschland ist noch längst nicht Schluss: Auch manch ein Musiker oder Autor, der hierzulande leider viel zu lange unter dem allgemeinen Radar flog, wird damit einem breiteren Publikum bekannt. Und das ist eine wirklich gute Nachricht, schließlich stolpert nicht jedermann zufällig über Steve Earle oder George Pelecanos – um nur mal zwei Beispiele zu nennen.

Krimi- & Drehbuchautor George Pelecanos beim Brooklyn
Book Festival 2008. (Foto: David Shankbone/CC 3.0)
Die Bekanntschaft mit Earle, dem genialen Troubadour, habe ich dem Soundtrack zu „Brokeback Mountain“ zu verdanken, die mit Pelecanos, dem phantastischen (Krimi-)Autor, dem Bücherregal meines Freundes. Für alle, die sich bislang weniger glücklich schätzen konnten, kommen beide seit einiger Zeit auch via „The Wire“ ins Wohnzimmer. Die in Baltimore angesiedelte Crime-Serie ist nicht nur für sich genommen eine kleine Sensation, sie wird inzwischen auch von Pelecanos mitgeschrieben und produziert. Und Earle glänzt darin nicht nur durch Gastauftritte, sondern liefert in Staffel 5 auch seine Version der Titelmelodie „Way Down in the Hole“ – im Original übrigens von Tom Waits; wer den noch nicht auf dem Radar hat, dem ist allerdings nicht zu helfen.

Pelecanos wird häufig als Amerikas coolster Autor tituliert; eine Behauptung, die man gerne hinnimmt. Der Nachkomme griechischer Einwanderer hat zuerst mit seiner „Nick-Stefanos“-Trilogie („A Firing Offense“, „Nick's Trip“, und „Down by the River Where the Dead Men Go“) auf sich aufmerksam gemacht, in der er seinen Protagonisten mit der eigenen griechischen Herkunft ausstattet. Drogen, Alkohol, Frauen, Waffen und Kriminalität in Washington DC – was in der Synopsis beliebig wirken könnte, bekommt bei Pelecanos einen ganz eigenen Klang, eine besondere Dichte und ein sehr spezielles Tempo.

Den Klang erzeugen neben der Sprache des Autors seine ausführlichen Beschreibungen der Musik, die den Soundtrack zum Leben seiner Figuren bildet. Die Dichte entsteht aus der großen Nähe zu eben diesen Figuren und, ebenso wie das Tempo, dank der zahlreichen Dialoge. Gleichzeitig ist der Fluss der Story an sich – anders, als man es von Krimis vielfach kennt – kein reißender: Pelecanos muss keine Reifen quietschen oder Gebäude explodieren lassen, muss seine Helden nicht in wüste Ballereien schicken, um Spannung zu erzeugen. Die entsteht vielmehr aus seinen Figuren heraus, ihren Haltungen, inneren Kämpfen und Kollisionen mit der Welt um sie herum.

Dem Krimi wird gerne vorgeworfen, er sei „bloße Unterhaltung“ und somit nicht tauglich, auch als Literatur durchzugehen. Fraglos gibt es viele schlechte Krimis – wohl auch, weil in den letzten Jahren aus einem wahnsinnigen Hype heraus per se zu viele Krimis veröffentlicht wurden. Und vor allem, weil es eben in jedem Genre (auch) schlechte Bücher gibt. Wer aber ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie literarisch Krimis sein können, der sollte sich in der Buchhandlung seines Vertrauens einen Roman von George Pelecanos bestellen. Die Verfasserin dieser Zeilen hat neben seiner Erstlingstrilogie (nur auf Englisch erschienen) auch „Drama City“ (2005) und „The Cut“ (2011) gelesen, kann aber – schlussfolgernd und aus zweiter Hand – auch fast alles andere empfehlen, was der Mann zu Papier gebracht hat.

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Donnerstag, 29. November 2012

Kris Kristofferson in Frankfurt: Help me make it through the Night

Yeah, alright: „Don’t judge a book by its cover“, so heißt es. Und das ist ja auch richtig, aber ganz ehrlich – da kommt dieser kahlrasierte Typ in die Frankfurter Jahrhunderthalle. Arme tätowiert, Hände tätowiert, am Hals hochtätowiert bis zu den Ohren. Und sagt ehrfürchtig zu seiner Begleitung: „Ich hab’ schon am ganzen Körper Gänsehaut.“ Worauf der Kumpel stumm nickt und wiederum der Tätowierte spricht: „Ich glaub’, den Abend krieg’ ich nicht rum, ohne zu heulen.“ Äh?

Der Mann, der solche Reaktionen bei seinem Publikum hervorruft, noch bevor er jemals die Bühne betreten hat, ist Kris Kristofferson – und die Runde, vor der er in Frankfurt spielen wird, mit illuster gut beschrieben: Zwischen die obligatorischen Cowboyhüte und -stiefel in Braun, Schwarz und Gold mischt sich eine Gruppe, die ausschaut, als komme sie gerade von einem Date mit Elvis Presley. Alte Damen, wackelig und gebückt an Stöcken auf dem Weg zu ihren Sitzen, nehmen Platz neben Popcorn kauenden Kerls, und Damen mit schweren Perlenketten sitzen bei Altrockern mit langem Silberschweif.

Mit seinem aktuellen Album „Feeling Mortal“ und den alten Hits
auf Tour: Kris Kristofferson. (Foto: KK Records)
Silber ist mit seinen 76 Jahren längst auch der Mann auf der Bühne – dazu bei allem Glauben auch abergläubig: Seit Jahren beginnt er jedes seiner Konzerte mit „Shipwrecked in the Eighties“; bringt Glück. Irgendwie könnte er aber auch den Titelsong der Teletubbies singen (haben die einen Titelsong?), das Publikum ist so oder so von der ersten Sekunde an verliebt. Und ja, es gibt etliche Künstler, die mit ihrem Publikum umgehen können, aber nein, verliebt ist trotzdem nicht zu hoch gegriffen – es könnte einem vielmehr schon fast unheimlich werden dabei, wie sehr hier gemeinsam geschwelgt wird. Und mit dem beschleunigten Herzschlag dieses Abends ließe sich ohne Probleme über einen sehr kalten Winter kommen.

Als der Texaner mit „Here Comes that Rainbow again“ seinen gerademal vierten Song anstimmt, wird im Auditorium schon erstmals schüchtern mitgesungen und gebrummelt. So anrührend die Story, angesiedelt in einem Truck-Stop, so ehrlich der Vortrag; in den kurzen Pausen, die Kristofferson macht, vernehmliches Schneuzen, gemischt mit verzückten Seufzern. Das klingt übertrieben? Und ist doch erst der Anfang.

Bei Klassikern wie „Help Me Make it through the Night” oder „Nobody Wins” („But Obama won, which means: We all win!“) wird der ergraute Musiker auf der Bühne von einer Welle der Zuneigung und Euphorie umspült. Die Reaktion auf neuere Stücke wie „Closer to the Bone“ fällt kaum weniger begeistert aus. Dazu immer wieder murmelnde Anerkennung für die Textnetze, die Kristofferson mit leichter Hand über seinem Publikum auswirft: „One more Rainbow for the Road“ (This Old Road)… „I may never get to Heaven, but I’ve seen a lot of Stars“ (The Heart) – und die trockene Feststellung des gläubigen Christen: „You don’t have to be as good as Jesus – you just have to ask yourself: ‚How would Gary Cooper handle it?‘!“

In der Pause („Do whatever you do in an intermission, they asked me to give you one! “) – noch mehr Cowboystiefel und strahlende Gesichter. „Das tut mick so wunnebah!“, erklärt ein Native-English-Speaker seinem Sitznachbarn, der erwidert: „Da hätte man echt was verpasst, wenn man heute nicht hier gewesen wäre.“ Dazwischen unzählige „Ohs“ und „Ahs“ und immer wieder die simple Feststellung: „Der ist einfach so toll.“

Einer, der mit 76 Jahren nichts verlernt hat. Den das Leben ruhiger gemacht hat, ohne sein Feuer ausgehen zu lassen. Der spürbar erfüllt ist von einer tiefen, ehrlichen Dankbarkeit darüber, wohin dieses Leben ihn getragen hat. Und der in der Lage ist, in anderen so viele Gefühle zu wecken, weil er sie in sich trägt – der nichts tut, als seinen Herzschlag zu übertragen auf die Menschen um sich herum.

„Like a Bird on a Wire, like a Drunk in a Midnight Choir, I have tried in my Way to be free“ – diese Songzeile Leonard Cohens will Kristofferson dereinst als Inschrift auf seinem Grabstein wissen. An diesem Abend steht ein Mann auf der Bühne, der seine Freiheit gefunden hat – und sein Glück.

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Samstag, 17. November 2012

Mother’s little Helper: Was bleibt

Eigentlich sollte es ein entspanntes Wochenende mit der lieben Familie werden: Zu Papas Pensionierung kommt Marko (Lars Eidinger) samt Söhnchen zu Besuch zu seinen Eltern. Nicht im Gepäck ist die Kindsmutter, denn von der lebt er getrennt – was Mama und Papa aber nicht wissen sollen. Im Zug ein netter Flirt, doch am Bahnhof im elterlichen Kaff stellt sich die Dame als Freundin seines Bruders Jakob (Sebastian Zimmler) heraus; die Laune kann das aber nicht trüben.

Spaziergang mit Papa Günter (Ernst Stötzner), der von seinen Reiseplänen im Unruhestand berichtet. Ob die Mama… ? Nein, die wird nicht mitkommen; in all den Jahren habe er sich das Recht erworben, sich jetzt mal nur um sich zu kümmern. Seine Frau Gitte (Corinna Harfouch) weiß davon freilich nichts, die freut sich nach jahrzehntelanger berufsbedingter Fernbeziehung vielmehr darauf, ihren Gatten künftig mehr um sich zu haben.

„Kannst du sicher sein?“ Mutter & Sohn. (Foto: Verleih)
Beim Abendessen – Mama, Papa, die erwachsenen Söhne, einer mit Freundin, der andere mit Kind – der Donnerschlag: Mutti hat die Pillen abgesetzt. Immerhin, alles ändert sich, ihr Mann beschreitet neue Wege, da wolle auch sie einen neuen Schritt wagen. Die erhoffte Freude seitens ihrer Lieben allerdings bleibt aus, denn Mutti ist depressiv, auf ihre Pillen seit Jahren eingestellt – und wer will schon die Verantwortung dafür mittragen, dass es ihr auch ohne gutgehen wird? Eben.

Kein Verständnis demnach auch für Verständnis: Sohnemann Jakob, leidlich erfolgreicher Arzt mit eigener Praxis aus dem Portemonnaie des Vaters, herrscht den fernen Berlinbruder als naiv an, als Marko laut überlegt, ob in der Entscheidung der Mutter nicht auch eine Chance liegen könne? Kein Mut, sondern Schwachsinn und Rücksichtslosigkeit – und wieso meldet sich da überhaupt einer zu Wort, der die letzten Jahre nie da war; der die Angst nicht kennt davor, den Schlüssel ins elterliche Türschloss zu stecken und nur Schweigen zu hören.

Daneben drückt den Vater, von Stötzner leider stocksteif und leidlich glaubwürdig gespielt, ein ganz anderer Schuh: Die mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattete Gattin will ihn auf den anstehenden Reisen begleiten. Dagegen spricht vor allem eines: Zwar ist er durch 30 Jahre Pillen und Therapie bei ihr geblieben – zumindest irgendwie ein wenig, wochenends – doch wer will dazu noch große Gefühle von ihm erwarten? Längst lebt er daneben heimlich mit einer anderen Frau…

Der Vater verschnupft, Jakob betrunken und Marko irgendwie um eine Lösung bemüht – all das geschieht in strenger Abkopplung von Gitte, die ihre Lieben umsorgen darf, aber nicht wissen soll, worüber sie miteinander reden. Ob ihnen klar sei, wie das ist, bricht es plötzlich aus ihr heraus? Immer Flüstern, stets verschlossene Türen, keine Teilhabe, nur geschont werden: zum Kotzen.

Am späten Abend ein Moment der Nähe mit Marko. Rotwein, ein bisschen davon ist jetzt, ohne die Pillen, doch erlaubt. Ein freundliches Gespräch, dann ihre Hoffnung und der alles entscheidende Satz des Sohnes, achtlos dahingeplappert die Frage: Wie kann sie sicher sein, dass Günter sie noch liebt, nachdem er jahrzehntelang mehr Pfleger als Ehemann war? Das basse Erstaunen, das durch Gittes Gesicht wandert, die offensichtliche Erkenntnis: darüber hat sie noch nie nachgedacht. Eben so klar für die Zuschauer: nun wird sie nie mehr damit aufhören können – wohl aber aus dieser neuen Ohnmacht eine Entscheidung für sich ableiten.

Hans-Christian Schmid erzählt seinen Film vor allem über die Figuren, und neben vielen anderen ist eine große Stärke der Geschichte, dass man sie alle verstehen kann: Den Sohn, der gegangen ist, weil sein Leben eben so spielte, der sich daraus keinen Vorwurf machen lassen will. Den, der bleibt, und versucht, sich selbst zu sagen, es ist aus der Verantwortung heraus – und nicht wegen der Verlockung des väterlichen Geldes. Die Mutter, die sich der Krankheit nicht beugen möchte, sondern echtes Verständnis einfordert, die sich nicht abfinden will, sondern ihren eigenen Weg gehen. Obgleich geschmälert durch die schwache darstellerische Leistung: den Vater, der wegrennt, aber nicht so ganz, der bleibt, aber nur so halb.

Die Familie als Kollektiv, die helfen will, zugleich aber hilflos ist und ja: in manchen Momenten auch zurückschreckt; aus Überforderung. Pausen für sich einfordert vom Gefühl der Verantwortung, im tiefen Wunsch, dafür nicht gleich wieder mit dem eigenen schlechten Gewissen konfrontiert zu sein. Die Ohnmacht und die Sprachlosigkeit aller Beteiligten.

Neben dem Verständnis für die Figuren steht Wut, die sich zum einen ableitet eben aus der Empathie für die jeweils anderen. Wütend macht aber auch die Starre aus Angst und Bequemlichkeit, in der die Figuren sich selbst gefangenhalten, und dass sie zu wenig mit- und zu viel übereinander reden. Denn so, wie Markos Satz im Gespräch mit der Mutter unvermeidlich die Katastrophe auslöst, in der dieser Film schließlich (vor einem versöhnlichen Nachklapp) mündet, hätten viele kleine Sätze zur rechten Zeit, so die Hoffnung, der Familie auch ein anderes Ende bescheren können. Schließlich lässt sich auf die Frage „Was bleibt?“ nur eine Antwort finden: Jeder neue Tag – und das, was wir daraus machen.


Was bleibt
Buch: Bernd Lange
Regie: Hans-Christian Schmid
Darsteller: Corinna Harfouch, Lars Eidinger
Deutschland, 85 Minuten, FSK: 12

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Freitag, 24. August 2012

Bitte nicht (ver)schlucken

Überlegen Sie mal, wie viele Menschen es gibt, mit denen Sie gerne in der Badewanne sitzen (würden)? Und jetzt ziehen Sie Benicio del Toro oder Chloë Sevigny ab, wie viele bleiben da übrig? Je nach dem, was Sie in der Wanne vorhaben, dürfte das zumeist einer sein; niemand kommt bei dieser Überlegung aber wohl auf mehrere Hundert. Und trotzdem rennen wir bei diesem Wetter alle ins Schwimmbad, um mit unzähligen wildfremden Menschen – zu baden.

Ich schwimme unglaublich gerne. Bin überhaupt gern im Wasser, Meer, Badewanne, Pool – das ist mein Element, immer schon gewesen. Will heißen, bei steigenden Temperaturen gehöre ich zu den ersten, die Richtung Schwimmbad pilgern, um dort meine Bahnen zu ziehen, statt in den Feldern laufen zu gehen. Schwimmen, das ist prima zum Abschalten, da ist man ganz auf sich zurückgeworfen, nicht einmal Musik ist möglich, nur das gleichmäßige Gleiten, das Rauschen im Ohr, die Sonne, die sich im Wasser bricht...

Beim nächsten Mal lieber wieder ins Meer, statt
ins Schwimmbecken. (Foto: Marieke Stern)
Ach ja, und der leicht renitente Nebenmann, der nach dem Motto „dies ist meine Bahn, von ihr werde ich nicht weichen“ alles aus dem Weg krault und tritt, was nicht ohnehin angesichts seiner Wasserhiebe die Flucht ergreift. Aber – Schwimmen entspannt ja so herrlich; von derlei menschlicher Überdrehung lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen.

Viel eher Anlass zur Beunruhigung gibt der Blick durch die Taucherbrille: Wer gerne abends nach dem Büro noch seine Bahnen zieht, weiß, wovon ich rede – unfassbar, welche Menge an Haaren nach einem Sommertag im Becken schwimmen. Damit meine ich nicht die einzelnen, langen Haare, die an den gespreizten Schwimmfingern hängen bleiben; nein – ganze Büschel menschlichen Haupthaares liegen auf dem Beckenboden. Allein, wenn sie dort nur blieben – doch in der ewigen Bewegung des Wassers tanzen die Büschel vom Boden gen Oberfläche. In einem Wort, ekelhaft. Fast nicht auszuhalten, von einem solchen Büschel am Fuß berührt oder gar am Bauch gekitzelt zu werden. Bitte kotzen Sie jetzt nicht: Es sind Menschen im Wasser.

Die übrigens, sofern unter 20 und männlich, gerne mit ihren Boxern statt einer Badehose ins lauwarme Nass hüpfen. Was genau so lange egal ist, bis man zum ersten Mal etwas darüber liest, wie viel mehr Urin auf diese Weise ins Wasser gelangt – weil die Boxer natürlich nicht frisch, sondern vorher schon zwei bis 100 Stunden getragen sind, bis sie am Unterleib ihres Besitzers ins Wasser gleiten. Merken Sie was? Sie müssen jetzt ganz stark sein; und dürfen sich auf keinen Fall fragen, was noch so alles in der Boxer… Nein.

Als kleinen Kindern hat man uns erzählt, wer im Schwimmbad ins Wasser macht, färbe es damit lila – so ist die Pinkelwutz überführt; und wir hielten dicht. Heute wünschte ich mir manchmal, es wäre so. Denn mehr als die Boxershorts machen mir die Aufenthaltszeiten manch eines jugendlichen Casanovas im Becken Sorge. Da kann mir doch niemand erzählen, dass die Jungs mit ihren Minibläschen nicht ab und an unauffällig einen Mittelstrahl ins Wasser lassen.

Wer nach 16 Uhr ins Becken gleitet, kann sich überdies die Sonnencreme sparen. Das machen Geruch und Anmutung sofort klar: Im Laufe eines Tages wäscht das Poolwasser derart viel Sunlotion von verschwitzten Körpern, dass selbstcremen Verschwendung wäre. Es ist natürlich auch zu viel verlangt, dass die Schwimmbadbesucher sich kurz unter die Dusche stellen, bevor sie sich in die Massenbadewanne stürzen.

Das Schlimme – diese Gedanken lassen sich mit jeder Bahn schwieriger abschütteln, während man durch tanzende Haarbüschel gleitet. Wie viele Menschen waren wohl allein heute in dem Becken, wie viele Liter Schweiß sind ins Wasser geflossen, wie viel Sonnencreme, wie viele Kids und Erwachsene haben sich beim Pinkeln mit dem Gedanken beruhigt, dass das doch eh keiner merkt? Wie kann es nur sein, dass am Grund des Beckens um diese Uhrzeit genügend Pflaster versammelt sind, um einen Kriegsverwundeten zu versorgen, warum gehen Frauen mit Binden oder Slipeinlagen ins Wasser (und verlieren sie dann noch) – und woher kommen nur diese Unmengen an Haaren; eine reine Fundgrube für Perückenmacher.

Ein Bekannter hat kürzlich erzählt, er habe nach dem Besuch im Freibad Fußpilz bekommen. Nicht etwa aus mangelnder Hygiene – sondern vor Ekel. Ich versuche, beim Schwimmen an das Hochgefühl zu denken, das mich ergreifen wird, wenn ich aus dem Wasser steige und in die Wiese falle, erschöpft, aber glücklich, müde, aber stolz. Meine Strecke absolviere ich bei diesem Wasserzustand trotzdem ziemlich sicher in neuer Rekordzeit. Kurz vor Ende passiert es dann doch – ein junger Schlacks springt neben mir ins Becken, die Welle überrascht mich – und ich verschlucke mich am haarigen Wasser. Da hilft nur eines, Zuhause schnell einen Schnaps hinterher kippen, um abzutöten, was das Chlor verschont hat – sicher ist sicher. Prost!

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Donnerstag, 16. August 2012

Rum Diary: Vergnüglich fern der Vorlage

Literaturverfilmungen sind so eine Sache für sich. Einerseits ist die Feststellung richtig, dass der Vergleich mit der Vorlage selten zielführend ist – der Film muss auslassen, Schwerpunkte setzen, er darf abseits des Originals wandeln und Mut zur Lücke beweisen. Aber geht nicht andererseits der Leser mit einer gewissen Neugierde darauf ins Kino, um welche Bilder der Regisseur die eigene Vorstellung von einer Geschichte bereichern wird? Und will nicht eine Literaturverfilmung letztlich eben das – eine bekannte Story in einem zweiten Medium neu erzählen? Und beruft sich damit letztlich selbst (und durchaus bewusst) auf ihre Vorlage? Was den Vergleich doch geradezu fordert…

Miss Berechnend und Mister Gonzo. (Foto: Verleih)
Die Macher von „Rum Diary“ (Original: „The Rum Diary“) widmen ihr Werk denn auch am Ende dem Autor des gleichnamigen Romans, Hunter S. Thompson – wäre interessant zu erfahren, wie ihm der Film gefallen hätte. So viel vorweg, man kann seine Zeit sicher schlechter investieren als in diesen Kinobesuch. Wie bereits in „Fear and Loathing in Las Vegas“ schlüpft Johnny Depp mühelos in die Story des Gonzo-Journalisten, wenn auch „The Rum Diary“ durch die schon legendäre Depp’sche Mimik bisweilen etwas überzogen wirkt: gerade in der Drogenszene – die so im Buch übrigens nicht vorkommt. Insgesamt aber machen die Schauspieler ihre Sache ordentlich und der zusätzliche Schuss Ironie schadet nicht.

Was der Geschichte allerdings keinesfalls gut tut, ist der Umstand, dass sich der Film von einer zentralen Figur trennt; mit weitreichenden Folgen. Die Story: Journalist Paul Kemp heuert in den späten Fünfzigerjahren bei einer kleinen Zeitung in Puerto Rico an. Die Zeiten sind unruhig, die Touristen sind es auch, und die Lektüre des Blatts soll alles, nur nicht die Laune trüben. Journalismus zur „Lage der Nation“ ist nicht gefragt – also besaufen sich Kemp und seine Kollegen allabendlich mit Rum und genießen dazu Burger um Burger: Ihr Job fordert sie nicht so sehr, als dass sie ihn nicht auch verkatert geschaukelt bekämen.

Kemp, Kollege Yeamon und Fotograf Sala pflegen in der gleißenden Hitze Puerto Ricos eine Männerfreundschaft mit Hindernissen: Mit Sala teilt sich Kemp eine Wohnung, was ihn aber zunehmend nervt; Yeamon wiederum lebt mit und liebt das Mädchen, das auch durch Kemps Träume spukt: Chenault. Dann wäre da noch Geschäftsmann Sanderson, mit dem Kemp sich gerne auf den einen oder anderen Drink trifft; positiver Nebeneffekt – dabei fällt ab und an ein Job für ihn ab. Ein Umstand, der ihm sein Auskommen auch dann sichern könnte, wenn die marode Zeitung tatsächlich den Bach hinunter gehen sollte.

Der Film nun streicht Yeamon – und dichtet dessen Mädchen Geschäftsmann Sanderson an. Aus einer eher naiven jungen Frau, die ohne Zögern ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen hat, um bei dem Mann zu sein, der ihren Pulsschlag beschleunigt, wird so eine berechnende, kühle Blondine, die mehr Klischee ist als Charakter. Während Thompsons Chenault oft noch schier kindlich wirkt, ein Mädchen im Körper einer Frau, das sich seiner Wirkung auf Männer kaum bewusst ist, erschafft der Film eine stets kalkulierende Frauenfigur, die ihre weiblichen Reize ganz gezielt einsetzt, um genau das zu bekommen, was sie möchte.

Das aber ändert die Geschichte nicht nur im Bezug auf Chenault selbst, sondern ist auch wesentlich für die Rolle des Paul Kemp – weil unvorstellbar scheint, dass die Romanfigur Kemp sich für die Filmfigur Chenault (Amber Heard) interessiert hätte. Und während wiederum Thompson die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich Stück für Stück seine Freiheit und Unabhängigkeit erarbeitet, begibt sich Kemp im Film in große Abhängigkeit von seinem Gönner Sanderson (Aaron Eckhart): Er ist es, der Kemp letztlich das Auskommen sichert, während der Journalist im Roman zumindest seine finanzielle Freiheit Stück für Stück selbst gestaltet.

Yeamons Unberechenbarkeit und sein Jähzorn, die das Männertrio in schwierige Situationen bringen und letztlich Chenault überhaupt erst in Kemps Arme, dichtet der Film Sala (Michael Rispoli) an – dessen Charakter so am Ende arg überfrachtet wirkt. Und weil es so schön amerikanisch ist, lässt Regisseur Bruce Robinson seinen Paul Kemp am Ende eine Revolution um die noblen Werte des Enthüllungsjournalismus anzetteln. Statt sich also, wie bei Thompson, die Sonne auf den Pelz scheinen und den Rum durch den Hals fließen zu lassen, wollen Robinsons Journalisten ihr Blatt mittels einer Story über die wahren Zustände im vermeintlichen Urlaubsparadies retten. Anstatt in der karibischen Hitze Burger zu futtern und Kette zu rauchen, wird für die hohe Moral des Berufsstandes geackert. Wenn auch leider vergeblich.

Macht aber am Ende irgendwie auch nichts. Draußen ist endlich Sommer, der Film zaubert passend zur Hitze einen wunderschönen, karibischen Bilderreigen auf die Leinwand. Das Meer war lange nicht mehr so nah, Johnny Depp interpretiert Kemp neu, aber glaubhaft – lediglich die Burger und der grenzenlos ausgeschenkte Rum fehlen der Szenerie schmerzlich. Der Film ist absolut vergnüglich; es empfiehlt sich allerdings, den Roman lediglich als lose Vorlage zu begreifen – und vor dem Kinobesuch nicht noch einmal hineinzuschauen. Danach lässt sich Thompsons Original hingegen wieder bestens genießen. Yo ho, and a bottel of rum.


Rum Diary
Buch & Regie: Bruce Robinson
Darsteller: Johnny Deep, Aaron Eckhart, Amber Heard
USA, 120 Minuten, FSK: 12

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Freitag, 6. Juli 2012

Der Bauch des Glücks: 17 Mädchen

Alles besser machen als die eigenen Eltern. Nie mehr alleine sein. Und für immer bedingungslos geliebt werden. So lauten die Gründe, die Camille (Louise Grinberg) in „17 Mädchen“ dazu bewegen, ihr Baby zu bekommen, als sie ungewollt schwanger wird. Ihren besten Freundinnen verkündet sie diesen Entschluss mit strahlenden Augen in der Schulmensa. Und die reagieren weder verwundert noch ängstlich, sondern nehmen das Strahlen der Freundin auf – künftig sind Babys, schwangere Körper und Erziehung ihre Themen.

Mit 17 hat man noch Träume – oder? (Foto: Verleih)
So viel ist klar, der Gedanke, ein besseres Leben führen zu wollen, kann einem schon kommen, als Teenager in einem aussterbenden französischen Kaff. Vor Wut auf die Verhältnisse, Langeweile, aus Liebeskummer, Frust mit den Eltern, Verunsicherung oder der Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben, das noch so unfrei scheint. Ob dagegen ausgerechnet eine Schwangerschaft hilft, darf allerdings angezweifelt werden – so wie grundsätzliche der Mechanismus, schwanger zu werden, um die eigenen Lebenssituation magisch zu verbessern.

Camille aber beschwört die Chancen, die ihr das eigene Baby bieten wird, derart eindringlich, dass ihre Freundinnen sich nach und nach entscheiden, ihr Heil ebenfalls in der Schwangerschaft zu suchen. Unter den ungläubigen Augen der Schulkrankenschwester lässt sich Mädchen um Mädchen einen Schnelltest aushändigen, tanzen die Teenagerinnen beglückt singend und lachend durch die Schulflure, wenn sie die Bestätigung dafür erpieselt haben, zur Gruppe der Schwangeren zu gehören. Und anschließend wird das Leben am Strand mit Alkohol und einem Joint gefeiert – mit 17 ist man schließlich unverwundbar, schwanger hin oder her. Und über das Baby als echten Menschen wird ohnehin nicht wirklich nachgedacht, nur über seine Rolle als Schlüssel zum Glück der Mutter.

Männer übrigens spielen in diesem Szenario erst recht keine Rolle: Väter sind ebenso unerwünscht wie Eltern. Sex als Mittel zum Zweck – und als die Jungs mitbekommen, dass sie den Mädchen zur Befruchtung herhalten sollen und plötzlich gar nicht mehr so scharf sind auf Beischlaf, wird ihnen von den findigen jungen Damen schon mal ein Fünfziger für den Klo-Quickie angeboten. Ist ja schließlich eine Investition in die Zukunft…

Schwangerschaft als Lifestyle, der wachsende Bauch als trotziges Accessoire und Mutterschaft als Lösung aller irdischen Probleme – je länger der Film dauert, umso verwunderter reibt der Zuschauer vor der Leinwand sich die Augen. Natürlich ist es charmant, 17 hübschen, jungen Mädchen beim Träumen zuzusehen. Selbstverständlich hat die Geschichte bezaubernde Momente, wenn sie von den innigen Freundschaften und vom Zusammenhalt der Clique erzählt. Ohne Frage beeindrucken die jungen Schauspielerinnen und verwöhnt die Kamera den Zuschauer mit traumhaften Bildern. Und natürlich warten die Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin mit einem starken, schönen Motto auf, wenn sie beteuern: „Nichts kann ein träumendes Mädchen aufhalten.“

Wie unkritisch der Film seine Protagonistinnen auf ihrer Reise begleitet, irritiert bei diesem Thema dennoch gewaltig. Quasi als Gegenentwurf dazu, wie die Frauenbewegung einst ihr Recht auf Abtreibung als wichtigen Teil weiblicher Selbstbestimmung einforderte, feiert „17 Mädchen“ die Schwangerschaft als ein, nein das Mittel, um dem eigenen Leben Inhalt und Perspektive zu geben. Ist diese These ohnehin schon nicht allgemeingültig, wirkt sie als Lösungsentwurf für Teenager schlicht verantwortungslos – da hilft angesichts von Thematik und Genre auch der Einwand nicht, dem Film ginge es nicht um Realitätsnähe.


17 Mädchen
Buch & Regie: Delphine & Muriel Coulin
Darsteller: Louise Grinberg, Juliette Darche, Roxane Duran
Frankreich, 86 Minuten, FSK: 12

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Dienstag, 5. Juni 2012

Liebeserklärung mit Biberfellmütze: Moonrise Kingdom

Es hätte nicht viel gefehlt am Ende von „Moonrise Kingdom“, und die Zuschauer wären in Applaus ausgebrochen. Kein Wunder. So nah wirkte der Film, so lebendig – man fühlte sich eher, als falle der letzte Vorhang im Theater. Verklinge die letzte Zugabe bei einem atemberaubenden Konzert. Stattdessen – die Kinoleinwand, dunkel nun. Und noch ein Vergleich – dieses Auftauchen, wie aus einem Buch, beinahe; so weit die Rückkehr. Als habe man einen verzauberten Wald verlassen. Und trage nun etwas von diesem Zauber in sich.

Die Crew für die beste Unterhaltung. (Foto: Verleih)
Ein Feuerwerk der Kreativität, die Formulierung klingt ein wenig bemüht. Und gilt für den neuen Film des Texaners Wes Anderson doch in bestem Sinne. Denn der strotzt nur so: vor Kreativität und Ideen, vor Spielfreudigkeit der Darsteller, vor Farbe, Wärme, Gefühl und Geräusch – vor Magie und entzückenden Einfällen.

Es ist nicht seine Geschichte, die ihn zu etwas so besonderem macht, sondern die leichte, verspielte Hand, mit der Anderson sie erzählt. Die sympathische Skurrilität der Darsteller, die knallbunten Bilder, der absolute Wille zum Abstrusen. All das hätte auch daneben gehen können;das  tut es schließlich oft genug. In „Moonrise Kingdom“ aber fügen sich die einzelnen Teile zu einem wunderbaren und berührenden Puzzle, das man nicht mehr vergisst.

Sam liebt Suzy. Suzy liebt Sam. So weit, so gut – nur, dass Sam (Jared Gilman) und Suzy (Kara Hayward) im Sommer 1965 gerade zwölf Jahre alt sind. Und sich deswegen von den Erwachsenen mit der absurden Vorstellung konfrontiert sehen, ihr gemeinsames Leben noch einige Jahre aufschieben zu müssen. Dem wollen sich die beiden nicht fügen und flüchten gemeinsam; ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wenn das eigene Zuhause Teil einer geradezu lächerlich kleinen Insel ist, der sich ein Sturm unbekannten Ausmaßes nähert. Und doch nicht hoffnungslos.

Für die Erwachsenen bedeutet die Flucht der Kinder nichts als Scherereien. Scout Master Ward (Edward Norton) muss ob des verlorenen Schützlings um seine Position innerhalb der Pfadfindergruppe fürchten, Inselpolizist Captain Sharp (herrlich selbstironisch: Bruce Willis), darum bangen, seine Affäre mit Suzys Mutter (Frances McDormand) könne auffliegen. Und die Mutter selbst wirkt ohnehin verbogen. Im Zweifel davon, neben ihrer Familie herzuleben, die die Anwältin im weitläufigen Anwesen schon mal per Megafon zu Tisch bittet.

Derweil schlagen Sam und Suzy ihr Lager am Strand auf. Reden über Bücher und Musik. Fangen Fische und grillen. Überwinden trotz allen gebotenen Ernstes ihrer Liebe federleicht deren erste Krise (Suzy offenbart sich Sam und der lacht sie aus), tanzen – und Sam darf beim Küssen Suzys Brüste berühren. Da hat er ihr bereits Ohrringe aus Angelhaken gebastelt und ihr damit, weil Suzy gar keine Ohrlöcher hat, selbige gestochen. Und unter seiner Biberfellmütze heraus hat er dem Mädchen mit dem knalltürkisenen Lidschatten, das für ihn den magischen Feldstecher abgenommen hat, seine Liebe gestanden; sie hat das Bekenntnis erwidert.

Der Soundtrack, den Alexandre Desplat dem Film als gar nicht so heimlichen Hauptdarsteller mitgegeben hat, ist dabei regelmäßig mehr als das: Fällt mit einem Schnitt in die Szene, wenn die Musik diese plötzlich nicht mehr abstrakt umschmeichelt, sondern Hank Williams aus Captain Sharps Autoradio durch die Einsamkeit des traurigen Bullen bricht – wunderbar.

Sharp ist es auch, der aus der eigenen Melancholie die Traurigkeit der beiden Ausreißer begreift. Ihr Glück darüber, in ihrem Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein, ein Gegenüber gefunden zu haben. Der dieses Glück ernst nimmt, ohne dass Anderson ihn dafür aus der Verantwortung lässt, die Zuschauer auch zum Lachen zu bringen. Und der sich schließlich so weit auf die Seite von Sam und Suzy schlägt, dass der Rest der apathischen, desillusionierten Welt der Erwachsenen sich mitschlagen lässt, lassen muss.

Das Ende des Films gerät denn auch etwas kitschig, doch das ist verzeihlich. Schließlich haben wir es hier mit einem Märchen zu tun, irgendwie. Was aber nicht bedeutet, dass sich darin keine kleinen Weisheiten über das Leben finden ließen. Wen man sich nur traut, hinabzusteigen in die Seelenbilder des Wes Anderson. Im wahrsten Wortsinn: großes Kino.


Moonrise Kingdom
Buch: Wes Anderson, Roman Coppola
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Bill Murray, Bruce Willis, Tilda Swinton
USA, 94 Minuten, FSK: 12

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Dienstag, 8. Mai 2012

Be freakin' friendly, oder: Nicht in diesem Land

Kürzlich ist es mir tatsächlich passiert: Als ich, beladen mit zwei schweren Einkaufstüten, die Straße hinunterschnaufe, stellen sich mir zwei Typen in den Weg. Ihre langen Leiber werfen große Schatten auf den Gehweg zu meinen Füßen. Langsam hebe ich den Blick. „Brauchst du Hilfe?“, fragt einer der beiden. Und ich bin so perplex, dass ich antworte: „Nein, danke.“ Ich meine, wer rechnet denn auch mit sowas? Selbstlose Freundlichkeit vollkommen Unbekannter im Alltag? Nicht in diesem Land (und vermutlich auch in keinem anderen…).

Willkommen in der sozialen Kälte. (Foto: Marieke Stern)
Normal sind doch eher solche Szenen: Eine alte Dame schleift unter Aufbietung all ihrer Kräfte mit beiden Händen eine Einkaufstasche hinter sich her. In unmittelbarer Nähe stehen einige Jugendliche, einer der Typen ist bewaffnet mit einer kleinen Tüte von Douglas. Kichernd macht er seine Kumpels auf die Tütenschleiferin aufmerksam, bevor er mit seinem Parfumerie-Täschchen ihr mühsames Schleppen nachahmt. Ich hätte den dummen Kerl ja liebend gerne umgeworfen, habe mich aber doch entschieden, stattdessen der alten Dame mit ihrer Tüte zur nächsten Bushaltestelle zu helfen.

Oder wie wäre es mit etwas Szenischem aus dem Straßenverkehr? Freitagabend in der vollkommen überfüllten Innenstadt. Unmöglich, hier voranzukommen, völlig egal doch also, ob und wer und wie man zu so etwas absurdem wie seinem Recht kommt, beispielsweise dem, unbedingt noch vor irgendwem abzubiegen oder einzufädeln, oder... Trotzdem verteidigen spießige Feierabendanwärter verbissen jeden Zentimeter, brüllen, fuchteln und zeigen Mittelfinger, statt einem Mitmenschen mal freundlich entgegenzukommen. Kinderstube? Fehlanzeige.

Noch schlimmer als die Straße – der Supermarkt. Darüber, wie scheinbar zivilisierte Bürger auf dem Weg zur Kasse ihre hässliche Fratze zeigen, ließen sich ganze Bücher verfassen. Klassiker Nummer 1: Kunde mit maximal drei Artikeln nähert sich mit schüchtern zu Boden geworfenem Blick. „Äh, Entschuldigung, ich habe nur“ – und kommt nicht weiter, weil die Kundin vor ihm keift: „Mir egal, ich hab es eilig und war vorher da.“ Funktioniert in Sachen unverschämt auch mit Wut auf den Kleinsteinkäufer, dann mittels Trick: Kunde mit wenigen Artikeln kommt an die Kasse, deutet irgendwo nach vorne und sagt: „Ich habe das noch kurz geholt, meine Frau/Schwiegermutter/Nichte steht weiter vorne“ – und schiebt sich so bis zur Kassiererin, bei der er seelenruhig zahlt.

Dann die Geschichte, die vor einer Weile meiner besten Freundin passiert ist. Völlig überforderter Typ knallt eine Weinflasche neben, statt auf das Warenband. Während meine Freundin mit Tempos bewaffnet auf allen Vieren kriecht, um ihm mit seiner Pfütze zu helfen, öffnet nebenan eine weitere Kasse, und – genau: Der so Unterstützte zieht wortlos von dannen. Ist ja irgendwie nicht mehr seine Sauerei, jetzt, wo jemand anders sich darum kümmert. Überhaupt haben es Menschen offenbar nie so eilig wie an Kassen. Das gilt für Kunden wie für Kassiererinnen, denen grundsätzlich auch bei sichtlich bemühten älteren Herren die Geduld fehlt, deren Münzzählung abzuwarten. Da können diese noch so hilfesuchend und freundlich schauen beim Suchen und noch so offensichtlich auf ein nettes Wort oder zumindest ein Lächeln hoffen, der Drache an der Kasse kriegt die Zähne nur zum Zetern auseinander.

Bleibt die Gretchenfrage, wo will dieser Text hin und was möchte uns die Autorin sagen? Na, zum einen, dass sie wütend ist und die Nase voll davon hat, täglich solche Szene zu beobachten. Viel wichtiger aber, dass es so einfach ist – ganz kitschig – jeden Tag einen verdammten Unterschied zu machen, anstatt die Welt zu verpesten. Es hingegen aber niemanden weiterbringt, bei den Nachrichten oder einem Blick auf die Arbeitslosenstatistik über soziale Kälte zu jammern. Und sie gleichzeitig jeden Tag zigfach selbst zu produzieren.

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Donnerstag, 26. April 2012

Das Mädchen und der Star: My Week with Marilyn

„Liebst du mich, Colin?“, fragt die junge blonde Frau. Aufgelöst in ihrer eigenen Verunsicherung. Betäubt von den ewigen Tabletten. Und so offensichtlich alleine, dass es einem nach dem Herzen greift. „Ja“, antwortet der, und weiter: „Du bist wie eine griechische Göttin für mich.“ Ganz so, als ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hätte. „Ich bin keine Göttin“, flüstert sie. Dann, noch leiser: „Ich will nur wie ein ganz normales Mädchen geliebt werden.“ Und damit ergibt sich das Mädchen, das für einen kurzen Moment aufgeblitzt war hinter der Fassade des Stars, wieder in ihre Rolle – die der Marilyn Monroe.

Für die Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ reist die Schauspielerin im Sommer 1956 nach England. Laurence Olivier will seiner Komödie mit der „berühmtesten Frau“ der Welt das gewisse Etwas und sich als Hauptdarsteller einen Jungbrunnen verpassen. Und Marilyn Monroe fühlt sich, trotz der eindeutigen Genrezuordnung des Films, durch Oliviers Ruf als ernsthafte Schauspielerin gefordert – ein Missverständnis.

Michelle Williams als Marilyn Monroe. (Foto: Verleih)
Denn Regisseur Olivier hat erst keine Ahnung, worauf er sich mit seinem kapriziösen Star einlässt, und dann keine Nerven, um auf die Schauspielerin einzugehen. Schließlich soll die nur hübsch mit dem Po wackeln und dafür sorgen, dass er daneben gut aussieht. Stattdessen verschafft sie ihm graue Haare, weil sie regelmäßig um Stunden verspätet am Set auftaucht. Und treibt ihn in den Wahnsinn, weil sie auch dann nur spielen kann, wenn sie mit Hilfe von Paula Strasberg ihre Rolle fühlt.

So wenig Marilyn die Rolle fühlt, so sehr ist sie sonst von ihren Emotionen bestimmt. Wenn sie denn ihr gehören, die Gefühle, die scheinbar unkontrolliert durch ihren begehrten Körper rauschen – immerhin, es könnten auch einfach Reaktionen ihres Nervensystems auf die vielen Tabletten sein, mit denen sich die Schauspielerin durch den Tag hilft. Denn auf diese, wie unzählige andere Formen von Unterstützung, ist der labile Star längst angewiesen.

Dass ihr dritter Ehemann Arthur Miller ihr diese entzieht, indem er während der Dreharbeiten für eine Woche zurück nach New York reist, empfindet Marilyn deshalb wie einen neuen Teil in der scheinbaren Fortsetzungsgeschichte ihres Lebens: sie wird verlassen, wieder. In ihrer tief empfundenen Verunsicherung scheint sie nach dem Augenpaar Ausschau zu halten, das sie mit der größten Bewunderung anschaut – es sind die des dritten Regisseurs, Colin Clark.

Auf dessen tagebuchartigen Veröffentlichungen über seine Woche(n) an der Seite des Stars während der Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ basiert der Film „My Week with Marilyn“ von Simon Curtis – vielleicht ist es also nicht Curtis' Schuld, dass der inhaltlich arg belanglos daher kommt: Allein die Tatsache, dass sich ein Star darin tummelt, muss ein fremdes Tagebuch ja noch nicht interessant machen.

Da ist es nur folgerichtig, dass der Regisseur sich weniger auf Clarks dünnes Geschichtchen über die angebliche Liaison verlässt als auf die Stärke der erwähnten Figuren. Die durchweg großartig besetzt sind: Julia Ormond verleiht ihrer Vivienne Leigh Würde und Kraft, Zoe Wanamaker verhindert konsequent negative Gefühle gegenüber ihrer Paula Strasberg, Kenneth Branagh als Laurence Olivier ist der personalisierte Nervenzusammenbruch auf Zeit und schließlich, zum Niederknien: Judi Dench als humorvolle, warmherzige Sybil Thorndike.

Die Stars des Films aber sind, titelgerecht, Marilyn Monroe – und die wunderbare Michelle Williams, die ihre Rolle weniger spielt als sich ihr hinzugeben. So bezaubernd der Augenaufschlag, das Lachen, der Hüftschwung. So überzeugend die Angst, das Zittern, die Verzweiflung. Ihre eigentliche Leistung aber besteht darin, in einem Film, der vermeintlich von der Fremdbestimmtheit des als Norma Jeane geborenen Stars erzählen will, diesen Trugschluss aufzulösen: Marilyn Monroe, das war nie mehr als eine Rolle. Und so unglücklich diese das Mädchen Norma Jeane auch oft gemacht haben mag, war es letztlich sie, und nur sie, die diese Rolle kontrollierte.

Weil sie sich bewusst dafür entschieden hat, das Mädchen, das scheinbar niemand lieben konnte, aufzugeben für den Star, den allen bewundern. Auch wenn der Preis dafür war, selbst genau das zu tun, was sie allen anderen zum Vorwurf machte – dieses Mädchen zu verlassen.


My Week with Marilyn
Buch: Adrian Hodges
Regie: Simon Curtis
Darsteller: Michelle Williams, Julia Ormond, Eddie Redmayne
USA, 99 Minuten, FSK: 6

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Donnerstag, 19. April 2012

Wieheißtdunochgleich?

I know I love your Music, but what's your
Name again? (Pressefoto: Tex Perkins)
Eigentlich würde ich von mir selbst behaupten, ein relativ gutes Gedächtnis zu haben. Das geht sogar so weit, dass sich manche Dinge hartnäckig dort oben festsetzen, die ich eigentlich überhaupt nicht behalten möchte. Es sei denn, es geht um Namen – da bin ich aufgeschmissen. Und damit meine ich nicht alleine die regelmäßigen Aussetzer bei Filmtiteln, Songs, Prominenten oder Vereinsnamen außerhalb der Fußballbundesliga…

Namensdemenz 1: Menschen – allgemein
Wenn Leute sagen, sie vergessen kein Gesicht, leuchtet mir das ein: Ich weiß bei der Begegnung mit Menschen normalerweise auch sofort, ob ich sie vorher schon mal getroffen habe. Schwieriger – aber zu meistern – ist dann, denjenigen zuzuordnen. Steht er oder sie beim Fußball neben mir im Block? Ist mit meiner besten Freundin zur Schule gegangen? Oder arbeitet bei der örtlichen Postfiliale? Besteht ein direkter Bezug zu der Person, folgt die Grübelei nach deren Namen – das kann dauern… Und wird erst von peinlichem Schweigen, später dann Schweißausbrüchen begleitet. Denn wie bekommt man sein Gehirn dazu, eine Information preiszugeben, die man in der Situation noch nicht einmal eingrenzen kann? Da bleibt nur, hektisch durchs Alphabet zu stolpern, und es mit einem lächelnden, „Na, du“ zu versuchen.

Namensdemenz 2: Menschen – Verwechslung
Mein persönliches Waterloo ist das permanente Durcheinanderwerfen bestimmter Namen. Die für alle außerhalb meines eigenen Oberstübchens gar nicht mal klingen, als ob sie irgendetwas gemein hätten. Paradebeispiel: Nils und Jens. Wobei das weniger im direkten Gespräch passiert, als wenn ich mich über Leute unterhalte und sie beispielsweise grüßen lasse – was unter Umständen Irritation bei der Partnerin auslöst. „Grüß Jens lieb von mir!“ „Wer ist Jens?“ „Äh…“ Ebenfalls das Zeug zum Klassiker haben Inge und Christel, zwei Namen, die nun wirklich komplett verschieden sind, immerhin aber die Gemeinsamkeit teilen, beide zu einer meiner Tanten zu gehören. Und relativ neu aber schon recht fest etabliert in der Hitliste: Thorsten und Carsten.

Namensdemenz 3: Menschen – Endungen
Diese spezielle Form der Namensdemenz hat mich schon in handfeste Streitereien verwickelt – und ist zugleich jene, über die ich im Alltag am häufigsten peinlich errötend stolpere. War der richtige Name des Kollegen nun Christoph oder vielleicht doch Christopher? Und im Umkehrschluss, heißt der Freund der besten Freundin dann (auch) Christoph(er)? Da fällt ja, ganz ernsthaft, auch irgendwann die Möglichkeit weg, sich noch mal höflich zu erkundigen, was denn nun stimmt. Hieß der Walter jetzt Ulbrich oder Ulbricht, bin ich verknallt in die Musik von Tex Perkin oder Tex Perkins und heißt Frankfurts Heribert Bruchhage oder Bruchhagen? Alles Namen, mit denen ich doch seit Jahren hantiere, aber jede Eselsbrücke, die ich mir je geschaffen habe, ist irgendwie nicht bis zum Ende schlüssig oder einfach umkehrbar – und hinterlässt mich ratlos.

Was hilft ist einzig, auf die Toleranz der Menschen um mich herum zu hoffen – und zumindest im Fall drei ab und zu ein bisschen zu nuscheln. Tröstlich immerhin die Beinahe-Gewissheit, dass es sich bei meiner Namensdemenz um eine erbliche Angelegenheit handelt. Schließlich hat mein Vater früher familiäre Frühstücke damit belustigt, mich mit dem Namen meiner großen Schwester anzusprechen, die kleine mit meinem – und von der großen wiederum mit dem Namen seiner Jüngsten zu reden. Verschont vom väterlichen Namenskarussell blieb damals lediglich mein Bruder, aber der heißt auch Jörg und das würde nicht einmal ich mit irgendetwas verwechseln...

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Mittwoch, 28. März 2012

Take Shelter – Im Auge des Sturms

Letztlich geht es in Jeff Nichols’ Film „Take Shelter“ vor allem um eines: Vertrauen. Wem kann ich noch trauen, wenn ich mir selbst zu misstrauen beginne? Können die Menschen, die ich liebe und die mich lieben mir auch dann vertrauen, wenn ich keine Erklärung für mein eigenes Verhalten finde? Und wie weit darf oder muss dieses aus der Liebe geborene Vertrauen gehen? Nichols’ Antwort ist denkbar einfach: Vertrauen ist die Grundlage für jede zwischenmenschliche Beziehung, die er auf der Leinwand zum Leben erweckt. Und wenn man sein ambivalentes Ende denn hoffnungsvoll deuten mag, dann im Zusammenhalt seiner Figuren – die sich entschieden haben, einander vollkommen zu vertrauen.

Curtis mit Tochter Hannah und Ehefrau Samantha. (Foto: Verleih)
Curtis laForche (Michael Shannon) hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt: Ehefrau, Tochter, Hund, Häuschen, Job – und für jedes Problem (wie die Gehörlosigkeit der Tochter) gibt es eine Lösung (in diesem Fall: seine außergewöhnlich gute Krankenversicherung). Diese Idylle ist echt, mag Curtis auch beim Plausch mit Kumpel und Arbeitskollege Dewart (Shea Wigham) nach dessen Prahlerei, er plane einen Dreier mit seiner Gattin und einer Internetbekanntschaft, leicht bedauern, so etwas sei mit seiner Frau nicht denkbar. Aber – diese Idylle ist auch bedroht, das spüren Curtis und die Zuschauer von Anfang an; nicht nur, weil der Regen, der auf den Familienvater herunterprasselt, eine unerklärliche, ölige Konsistenz hat.

Wem vertraue ich meine Ängste und Zweifel an, wem meine (vermeintliche) Schwäche? Es sind nicht nur seine Visionen vom öligen Regen, die Curtis zu schaffen machen, sondern auch seine Albträume. In denen unglaubliche Stürme aufziehen, Schwärme von Vögeln den Himmel verdunkeln, schließlich aus ihm heraus fallen, seine Tochter in Gefahren gerät, vor denen er sie nicht schützen kann – und die Welt aus den Fugen. Auch, weil Curtis nicht mehr weiß, wem er noch trauen darf: Es sind in diesen Albträumen gerade die Menschen, die er am meisten liebt, die ihn bedrohen, angreifen und verletzen. Und so, wie diese Visionen und Albträume ineinander übergehen und miteinander verschmelzen, greift beides in seine Realität. Wird er gerade wahnsinnig? Oder sind seine Träume Vorboten auf ein drohendes Unheil? Und wenn sie Vorboten sind, heißt das, dass er den Menschen, die ihn darin verraten, auch im Leben nicht mehr vertrauen kann?

Nichols bietet gleich mehrere mögliche Erklärungen für das, was mit Curtis passiert. Mag sein, der Vorarbeiter sieht tatsächlich Dinge, für die seine Umwelt kein Gespür hat. Oder der Familienvater ist krank, verliert den Verstand: Seine Mutter (Kathy Baker) war etwa in seinem Alter, als bei ihr psychotische Schizophrenie diagnostiziert wurde. Gerade zu ihr bemüht sich Curtis zuerst um ein gewisses Vertrauen, mit seinem Besuch in ihrem Heim; der aber scheitern muss. Dennoch, der rationale Curtis scheint sich zunächst mit der Variante, seiner Mutter in ihre Krankheit zu folgen, fast am wohlsten zu fühlen und beginnt eine Gesprächstherapie.

Obwohl der Boden, über den der Familienvater tastend geht, schwankt unter seinen Schritten, ist es immer wieder er selbst, dem Curtis vertraut, gibt er den Glauben an seine eigene Wahrnehmung nie auf. Und folgt den Warnhinweisen, die er daraus bezieht, in der festen Hoffnung, so die Menschen schützen zu können, die er liebt – auch wenn es zunächst wirkt, als würde er durch sein Handeln alles zerstören. „I’m doing this for us. I know you don’t understand.“ Zwei Sätze, in denen Curtis’ ganzes Dilemma liegt. Und die letztlich eben diesen Glauben an sich selbst ausdrücken – in dem er sich seiner Frau Samantha (großartig: Jessica Chastain) schließlich auch anvertraut. Von seinen Albträumen und Visionen erzählt. Und so ihr Vertrauen zurückgewinnt, mitten im scheinbaren Wahnsinn, der ihn dazu treibt, den Sturmbunker hinterm Haus auszubauen – obwohl doch alle Finanzen in die Gesundheit der Tochter fließen sollen.

Der Rest seiner Umwelt freilich rückt immer weiter vom scheinbar in den Irrsinn driftenden Curtis ab; zuletzt auch Dewart, der gemeinsam mit seinem Freund den Job verliert, nachdem der unerlaubt Werkzeug und Maschinen aus der Firma geliehen hat – für seinen Bunker. Auf einer Feier, zu der die Familie geht, weil Samantha „something normal“ braucht, etwas Normales, zum Luft holen, zum Kraft schöpfen, kommt es zum Eklat, als Dewart Curtis angreift – so lange, bis der explodiert. „You think I’m crazy?“, brüllt der Hüne, nachdem er einen Tisch umgeworfen hat, als sei es ein Glas Wasser. „There’s a storm coming like nothing you have ever seen and not one of you is prepared for it!“ Die Gesellschaft zittert und schweigt. Tochter Hannah (Tova Stewart) schaut den Vater aus großen Augen an – ist es Angst, die darin liegt? Wird Samantha das Kind – nun doch – an der Hand nehmen und wegführen, von hier, vom Vater, und wird das mühsam erkämpfte Vertrauen brechen?

Regisseur Nichols selbst sagt über seinen Film: „I think it’s a lot about communication. We all carry these fears and doubts. They will always be there, whether it’s fear of the government collapsing, or the environment, or you can’t pay your bills, whatever. We’ll always have something to worry about. And I think where relationships maybe get damaged is in people not sharing those fears with their significant others. That seemed like an answer to me, and an interesting ending for this problem that I’d built up in this film.“ So kommt es, dass dessen Ende schließlich weniger ambivalent ist, als es zunächst scheinen mag.

Die Frage, ob Curtis tatsächlich krank ist oder nicht, ob der Sturm nun kommt oder der dunkle Himmel ein falscher Alarm ist, ob die apokalyptischen Bilder des Filmes und die Visionen seiner Hauptfigur Parabeln sind auf unsere, auf die amerikanische Gesellschaft im Hier und Jetzt – all das ist letztlich nicht wesentlich. Wesentlich ist das Kleine im Großen. Wichtig sind die Beziehungen, die wir führen. Worauf es ankommt sind die Sprache, die wir wählen und der Weg, den wir gehen. Wenn wirklich ein Sturm kommt, das Ende der Welt, fehlen uns allen die Mittel, um das aufzuhalten. Aber wir entscheiden, wie wir unser Leben bis dahin gestalten. Was uns wichtig ist. Und wen wir an der Hand halten, wenn die Apokalypse uns trifft. Das mag auf dem Papier kitschig klingen, bei Jeff Nichols ist es jedoch ganz große Kinokunst.

Take Shelter
Buch & Regie: Jeff Nichols
Darsteller:  Michael Shannon, Jessica Chastain, Shea Wigham
USA, 121 Minuten, FSK: 12

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Freitag, 9. März 2012

Der Knoten der Distanz: Barbara

Es dauert bis kurz vor Schluss, dann vermag Christian Petzolds „Barbara“ endlich zu berühren: für einen kurzen Moment, immerhin. Die Leinwand ertrinkt in kühlem Nachtblau. Barbara (Nina Hoss), Ärztin, aufgrund eines Ausreiseantrages 1980 von Berlin in die Provinz verschickt, sitzt am Ostseestrand und blinzelt gegen die Tränen. In ihrem Schoß liegt die aus dem Jugendwerkhof Torgau geflohene Stella (Jasna Fritzi Bauer) und Barbara wird, so viel ist klar, gleich auf ihre vorbereitete Flucht in den Westen verzichten – und stattdessen das Mädchen schicken.

Bitte recht unnahbar: Nina Hoss als Barbara. (Foto: Verleih)
Die Geste, so nobel und übermenschlich auf der einen Seite, ist auf der anderen alles andere als das. Lediglich ein Trotz nämlich, konsequent zumindest in der Ausgestaltung der Figur. Im Westen wartet zwar der Geliebte, das gelobte Land; aber der Traum vom Leben dort funktioniert für Barbara nicht mehr. Seit nämlich der Mann, von dem sie sich geliebt fühlte und verstanden, ihr zwischen den Laken des Interhotels zugeraunt hat, in ihrem neuen Leben brauche sie nicht mehr zu arbeiten: Als ob eine wie sie denkbar wäre ohne ihren Job.

Nina Hoss spielt Petzolds Barbara mit nur einem Gesichtsausdruck – spöttisch – dafür aber mit zwei Frisuren: Der streng gezurrte Knoten, um ihre Unnahbarkeit zu verdeutlichen und die offene Lockenpracht immer dann, wenn sie sich am Leben verletzt, Demütigung erfährt. Subtil ist anders, aber der Film ist auf eine seltsame Weise offensiv, bisweilen fast plump in seinen Aussagen.

Unübersehbar brennt ihr Kollege André (Ronald Zehrfeld) für die Neue aus Berlin. Überdeutlich hält Barbara die Distanz zu allem und jedem. Für Zwischentöne ist da kein Platz und mag sein, es ist Petzolds Weg um ein Regime zu beschreiben, in dem diese gleichfalls fehlten – dem Film aber nutzt es nicht. Ebenso wenig wie die nun wirklich ausschließlich plumpe Episode über den Stasimann, der Barbara bespitzelt, quält und überwacht und dessen Frau gerade der Krebs dahinrafft. Es ist eine Aussage ohne Wert, dass der Verlust eines geliebten Menschen auch dieses kaltherzige Arschloch beutelt: Oder glaubte tatsächlich irgendwer, ein Diktator weine nicht am Grab seines Kindes?

Offensichtlich ist auch, dass Barbara Nähe zwar abblockt, aber eigentlich doch sucht, augenscheinlich sind ihre tiefen Verletzungen, die sie auf Wunden anderer mit großer Empathie reagieren lassen. Und Petzolds Film zeigt beides mit großer Eindringlichkeit: Die fast nackte Ärztin im eigenen Badezimmer, hilflos einem System ausgeliefert, dessen Durchsuchungen in der Wohnung anfangen und vor dem menschlichen Körper nicht Halt machen. Die schreiende Stella beim Abtransport zurück nach Torgau, kurz aufgefangen in den Armen der Ärztin – das sind Momente, die haften bleiben. Trotz aller Distanz und Sprödigkeit, die der Film auch in diesen Szenen bewahrt.

Am Ende fügen sich die einzelnen Teile nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Die nicht-angetretene Flucht gibt, so sehr der Zuschauer es besser weiß, André das Gefühl, Barbara habe sich irgendwie für ihn entschieden. Stella wird, zwar gut gemeint, aber vollkommen ohne Schutz, in ein neues Leben beinahe ausgeliefert. Und wie Barbara auch nur einen weiteren Tag in diesem System überleben will, dahinter steht das größte Fragezeichen.

Unterm Strich fühlt man sich ein wenig, als habe man gerade schlicht eine mäßige Lovestory gesehen, bei der die DDR weniger Thema als Setting ist – verschenkt.


Barbara
Buch & Regie: Christian Petzold
Darsteller: Nina Hoss, Jasna Fritzi Bauer, Ronald Zehrfeld
Deutschland, 105 Minuten, FSK: 6

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Dienstag, 14. Februar 2012

Gestorben wird immer

Als im Oktober 1991 Roy Black starb, war ich 13 – und himmelte mit meiner Schwester allabendlich Orry Main alias Patrick Swayze in „Fackeln im Sturm“ an. Bis eines Tages zur gewohnten Sendezeit statt des Südstaatenepos mit wenig Tiefgang und viel nackter Haut die Nachricht vom Tod des Schlagersängers den Bildschirm dominierte. Wir ratlos davor sitzen blieben. Irgendwann mitzufühlen begannen. Und am Ende Tränen flossen: Weil uns das Gesicht dieses Mannes über die Jahre vertraut geworden war. Sein Schicksal uns bewegte. Und dessen mediale Aufbereitung uns vermutlich etwas überforderte.

Als im September 2009 Patrick Swayze starb, erfuhr ich die Nachricht beim Fernsehen im Newsticker – und erinnerte mein Bedauern. Swayzes Krankheit war zuvor in den Medien oft Thema gewesen. Sein einst scheinbar vertrautes Gesicht dem eines vom Krebs gezeichneten Mannes gewichen. Und als ich mich tags darauf bei Facebook tummelte, setzte ich zum ersten Mal die Buchstaben RIP – Rest in Peace in meine Statusmeldung, um meiner Anteilnahme Ausdruck zu verleihen.

Sterben 2.0: Remembering Whitney – soziales Vermissen. Foto: Screenshot

Heuchler, Spießer, Besserwisser
Ich weiß nicht, wie viele Menschen an jenem Septembertag 2009 sinnlos ihr Leben verloren haben. Opfer von Unfällen, Hunger, Gewalt oder Willkür wurden. Genauso wenig weiß ich das über jenen Oktobertag im Jahr 1991. Was ich aber ziemlich sicher weiß ist: Die Anzahl der Facebook-Postings, in denen Menschen sich im Netz an Swayze erinnern, vermag daran nichts zu ändern.

Soziale Netzwerke wie Facebook haben unsere Kommunikation verändert. Einige Aspekte daran sind positiv, andere negativ: Die Diskussion ist hinlänglich bekannt, sie wird sich weiter entwickeln und verändern – und das ist auch sinnvoll. Aber der Spaß hört natürlich sofort auf, wenn der Tod ins Spiel kommt, und wird durch eine Verbissenheit und moraline Entrüstung ersetzt, die ich scheinheilig finde.

Worum geht es eigentlich?
Ausgangspunkt ist der Tod eines Prominenten. Es folgt die mediale Verbreitung dieser Neuigkeit durch klassische Medien sowie User von sozialen Netzwerken: Nachrufe im Feuilleton – wie gerade bei Whitney Houston –, Verlinkung von Videos, Fotos und Archivartikeln, persönliche Erinnerungen an Erlebnisse rund um sowie mehr oder weniger mit dem Prominenten, Beileidsbekundungen auf dessen Facebook-Wall.

Dann setzt auch schon die Gegenbewegung ein. Angeführt häufig von Usern, die dem verblichenen Promi nichts abgewinnen können – weshalb die Hysterie um seinen Tod natürlich voll peinlich ist. Weitergetrieben von denen, die sowieso alles schlecht finden, was in sozialen Netzwerken passiert (warum sie sich hier dennoch tummeln, bleibt auf ewig ihr Geheimnis). Schließlich schwingt die Keule der Moralapostel über all jene hinweg, die ins kollektive Klagen eingefallen sind, denn: In Afrika hungern Kinder. Unbestreitbare Tatsache. Schreckliche Tatsache. Tatsache, mit der wir alle uns viel zu wenig auseinandersetzen. Es aber genau hier genau so zu tun – ist schlicht Bigotterie.

Leben und sterben lassen
Ich bin gegen Massenhysterie. Neige nicht zur blinden Bewunderung. Halte nichts von Star-Rummel. Und mit kollektivem Irgendwas kann ich wenig anfangen. Ich trauere nicht um Whitney Houston, weil sie mich zu Lebzeiten nicht interessiert hat – trotzdem lässt mich die Nachricht über einen solchen Tod nicht kalt. Es hat seit Roy Black natürlich ungezählte prominente Todesfälle gegeben. Mit einigen habe ich mich auseinandergesetzt, indem ich darüber geschrieben habe (Robert Enke). Viele sind mir kaum im Bewusstsein haften geblieben (äh…). Wieder andere habe ich auf Facebook geteilt (Gil Scott-Heron). Und dann gibt es noch solche, bei denen mir meine Tränen heute ein bisschen peinlich sind (sorry, Roy).

Sich aus einer Art Reflex heraus zum Tode jedes Prominenten zu äußern ist mir fremd, ich empfinde es aber als anmaßend, das bei anderen zu verurteilen. Weil ich den Schaden nicht erkenne, der dabei entstehen soll – und anderen wiederum fremd sein mag, was ich im Netzwerk teile. Womit wir bei der Frage wären, was genau eigentlich die aufgeregten Moralapostel tun oder posten, wodurch es den hungernden Kindern in Afrika besser geht? Den gewaltsam Unterdrückten in Syrien? Den sozial Benachteiligten vor ihrer eigenen Haustür?

Inwiefern unterscheidet sich ihr Belehrungs-Reflex vom Beileids-Reflex derer, über die sie sich erheben? Anders gefragt, macht es uns etwa zu besseren Menschen, den Tod Einzelner, wenn sie denn bekannt sind, grundsätzlich an uns abprallen zu lassen? Und steht nicht jeder prominente Todesfall, der uns berührt, letztlich im Kontext zu unserem eigenen Leben, unseren Gefühlen – was ist so schlimm daran, denen hier Ausdruck zu verleihen? Ist es nicht vielmehr naiv zu glauben, ausgerechnet der Tod, mit dessen Umgang wir als Einzelne ebenso wie als Gesellschaft oft derart ringen, werde in den sozialen Netzwerken auf wundersame Weise nicht stattfinden?

Dass dabei danebengehauen, übertrieben und sich gegenseitig auf die Nerven gegangen wird, sind keine Alleinstellungsmerkmale. Ich habe auch nicht das Bedürfnis, täglich darauf hingewiesen zu werden, wer welche Farmville-Kuh sucht. Wer andersherum keinesfalls mit Spieleanfragen belästigt werden möchte. Die neuen Umfragewerte der Hornochsen-Partei zum Wiehern findet. Oder ein spuckhässliches Kind bekommen hat. Der Charme der sozialen Netzwerke und ihre Penetranz liegen ganz nah beieinander: Wie bei so vielen Dingen im Leben. Die meisten davon verschwinden nur leider nicht vorübergehen, wenn ich den Rechner abschalte. Vorteil Facebook. RIP, Whitney.

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