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Donnerstag, 12. September 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (6): König Fußball

Als ich am Sonntagmorgen um viertel vor neun in den Fanzug von Köln nach Mainz gestiegen bin, hätte meine Laune besser kaum sein können. Mit einer Handvoll Freunde saß ich zwischen wehenden Fahnen und an der Gepäckstange im Fahrtwind auf- und abwandernden, rot-weißen Schals und strahlte mit glückseliger Vorfreude in den Pfingsttag. Alles roch nach Aufstieg, am Ende einer Saison, in der nicht immer alles optimal gelaufen war, aber unglaublich viel richtig gemacht wurde; sich hin- und wieder auch das nötige Quäntchen Glück eingefügt hatte. Heute Köln schlagen. Nächste Woche St. Pauli. Und in der kommenden Saison zurückkehren in die erste Bundesliga – das war der Plan.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders. (Foto: WP)
Das dumme an Plänen, sie können noch so gut durchdacht sein, treffen sie nicht ein waren alle Rechenspielchen umsonst. Im Fußball kommt erschwerend hinzu, dass die Fans der Gegenseite einen Plan haben, der mit dem eigenen in der Regel unvereinbar ist – und beiden kann ein Spieltag unmöglich gerecht werden. Das macht an sich noch nichts; es sei denn, am Ende unterliegt der eigene Plan. Und genau das ist am Sonntag schließlich passiert.

Denn als das so beschworene Aufstiegshalbfinale zwischen Mainz 05 und den Geißböcken aus Köln nach 90 Minuten abgepfiffen wird, sind es die Rheinländer, denen mit Sicherheit der Sprung zurück ins Oberhaus geglückt ist – wir Mainzer torkeln leicht benommen umeinander, starren mit einiger Fassungslosigkeit aufs Feld und unsere Jungs, die wirken, als seien sie gerade gemeinschaftlich einem Schwertransporter unter die Räder gekommen. Hinter ihnen nähern sich kreischend einige Kölnfans, die das ausdrückliche Verbot, den Rasen zu betreten missachten – allerdings nicht etwa, um mit ihrem Team zu feiern, sondern um unseres zu bepöbeln.

War’s das? Hämmert es hinter meiner Brust – und sofort springt der Rechenschieber in meinem Kopf wieder an und addiert sich durch alle möglichen Endergebnisse; als hätte ich das im Verlauf der Woche nicht schon unzählige Male getan. Am Ergebnis hat sich nichts geändert: Hoffenheim muss heute unentschieden gespielt haben, nur so hätten wir am kommenden Sonntag, bei einem eigenen Sieg und einem erneuten Unentschieden oder einer Niederlage der SAP-Jungs die Chance, doch noch aufzusteigen. Als die Anzeigetafel im Rhein-Energie-Stadion zuletzt die Zwischenstände auf den anderen Plätzen angezeigt hatte, lag Hoffenheim 1:0 in Führung. Mir wird übel, ich stehe seit zwei Stunden in der Sonne, mein Kopf dreht sich und ich stürze aus dem Block.

Die Idee haben außer mir noch ein paar Tausend andere Menschen. Gegen meine frustrierten Tränen anblinzelnd, bahne ich mir einen Weg durch die Menge. Als ich in den unteren Bereich des Stehblocks gelange, kommt vor der Absperrung gerade die Mannschaft an, grüßt mit leeren Gesichtern gen Fans. Die Impulse, sie alle tröstend in den Arm zu nehmen oder ihnen für dieses seltsame Spiel einen Tritt in den Hintern zu verpassen, halten sich zuerst noch die Waage, doch je länger ich in die betröppelten Mienen schaue, umso mehr will ich aufmunternde Umarmungen verteilen – und fange nun doch noch an zu heulen. Aber auch damit bin ich in dem Moment nicht alleine, um mich rum kullern die Tränen aus zahlreichen Augenpaaren und die feuchten Spuren durch die aufgeheizten Gesichter haben etwas tröstlich Verbindendes.

Vor dem Block treffe ich meine Mitfahrer wieder, die den ersten Frust bereits aus den Trikots geschüttelt haben. Denn Offenbach ist gegen Hoffenheim in letzter Minute der Ausgleich gelungen, noch ist nicht alles verloren, wir bekommen am nächsten Sonntag eine letzte Chance. So liegen wir uns in den Armen, heulen noch ein, zwei Tränchen, schimpfen ein bisschen hinterher und bis wir am Bahnhof Köln-Deutz ankommen, hat der Humor bereits wieder die Oberhand gewonnen – mag der auch reichlich gallig sein. „Ich hatte es im Gefühl, dass wir heute nicht gewinnen“, meint einer am Gleis. „So ist es doch immer bei uns – spannend bis zur letzten Sekunde.“ Und mit breitem Grinsen schiebt er hinterher: „Aber macht nichts, nächste Woche daheim aufsteigen wird viel geiler.“

Ich nippe an meinem Bier. Blinzle in die Sonne. Und versuche, die Rechenmaschine in meinem Kopf zum Stillstand zu bringen, zumindest bis zum nächsten Wochenende. Denn wir haben ja noch eine Chance, auch wenn die – ausgerechnet – an das Scheitern der Dollarschlepper aus Hoffenheim geknüpft ist. Solange sie aber überhaupt besteht, darf sich gerne daran festgehalten werden. Außerdem – daheim aufsteigen ist viel geiler. Und bei uns darf man sogar auf den Rasen.

[Zuerst veröffentlicht im Mai 2008 auf www.neon.de]

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Donnerstag, 5. September 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (5): Ihr könnt nach Hause fahr'n!

Es ist natürlich wunderbar, wenn das Stadion ausverkauft ist. Von mir aus dürften gerne zu jedem Heimspiel der Mainzer 34.000 Fußballfans kommen. Da nehme ich auch in Kauf, dass ich früher im Block sein muss als an anderen Spieltagen, um meinen Stehplatz zu ergattern. Dass ich fremden Menschen körperlich deutlich näher komme, als ich es im Normalfall anstrebe. Und dass um mich herum neben den von anderen Kicks gewohnten Gesichtern etliche sind, die man eben nur sieht, wenn der FC Bayern oder Borussia Dortmund zu Besuch kommen. So weit, so in Ordnung.

Bis, ja, bis einige dieser Selten-Stadion-Besucher zum ersten Mal den Mund aufmachen. Und auch zum einzigen Mal. Weil sie ihn anschließend nämlich für satte neunzig Minuten nicht wieder zukriegen.


Motzt doch, so viel ihr wollt, ich finde es toll hier. (Foto: Anne Karn)
Natürlich bekommt man es bei jedem Spiel mit verbalen Klassikern zu tun, was die Bewertungen und Sprüche einiger Umstehender angeht. So ist weithin bekannt, dass Torhüter Christian Wetklo „nix kann“, vor allem „keine Abschläge, der Wurflegastheniker“ – ich möchte mal wissen, welcher verdiente Spieler eines anderen Vereins ähnlich wenig Kredit in bestimmten Fan- oder Anhängerlagern genießt: traurig. Aber derlei Sprüche kennt man ja, also ruhig Blut und am Spiel erfreuen.

Genau das, sich am Spiel zu erfreuen, ist den Selten-Stadion-Besuchern mit verbaler Dauer-Diarrhöe aber offenbar fremd. Schon zehn Minuten gespielt und es steht noch immer 0:0? Im Spiel gegen einen in dieser Saison schier übermächtigen FC Bayern München? Da wird es doch unbedingt Zeit für eine erste Bewertung der spielerischen Gesamtleistung auf Seiten der Mainzer: „Grottenkick.“ Wehmütig erinnert man sich da an Zeiten, in denen bei Spielen gegen den Rekordmeister jedes Mal ein kleines Freudenfeuerwerk abgebrannt wurde, wenn zehn Minuten ohne Gegentor verstrichen waren – oder einfach ein Pass gelang.

Akustisch kommt indes alles so, wie es nun einmal kommen muss: „Der Kirche spielt doch schon für die Bayern“, fachsimpelt man hinter mir durch die nasskalte Februarluft, gefolgt von einem lauten und vollmundigen: „Kirche, du Penner, fahr doch gleich mit denen nach Hause.“ Anschließend wird der gelungene Scherz gemeinsam belacht und das Thema mit der Feststellung abgeschlossen: „Bei mir würde der Depp ja den Rest der Saison auf der Tribüne hocken.“ Tja, und bei mir hätte der Absender dieser Aussage Stadionverbot, aber das Leben ist nun mal kein scheiß Ponyhof.

Das Gemoser jedenfalls nähert sich seinem vorläufigen Höhepunkt. Auf Seiten der Nullfünfer kann eigentlich überhaupt niemand irgendwas. Nicolai Müller „schläft heute beim Gehen“, Shawn Parker ist „total überschätzt“ und Andreas Ivanschitz ist „der größtmögliche Chancentod“. Auch Christian Heidels Sachverstand muss unbedingt angezweifelt werden, weil er Noveskis Vertrag verlängert hat, obwohl der „schon uralt“ ist und in der ersten Halbzeit auch einen (!) Fehlpass zu verbuchen hat. Fast folgerichtig denn auch die Beobachtung, der „peinliche Tuchel“ gehe „voll auf den Sammer los“ und Niki Zimling sei (Achtung, Brüller!) „zimling schlecht“ ins Spiel gekommen.

Kurz vor Ende der Partie dann beim Blick auf einige Anhänger der Münchner, die im Stehblock der Nullfünfer die Auswärtsmannschaft lautstark feiern (wobei die Frage erlaubt sein muss, ob die sich nicht entweder woanders hinstellen oder etwas weniger ekstatisch aufführen können) die wehmütige Feststellung: „Bayernfan müsste man sein!“… „Aber bitte, mach das doch!“, möchte man ihnen da zurufen. Oder anders ausgedrückt: „Geh mit dem Fußballgott – aber geh.“

[Zuerst veröffentlicht im Februar 2013 auf www.allgemeine-zeitung.de]

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Donnerstag, 29. August 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (4): Glückliches Findelkind

Meine Jungs, alle seit frühester Kindheit Fans „ihres“ Vereins, haben mir etwas erklärt über Fans und ihre Teams. Der Fan, so sagen sie, sucht sich seinen Verein nicht aus, vielmehr wählt der Verein seine Fans. „Dein Verein findet dich“, erklären sie mir, „das kann schon ganz früh sein, kann aber auch seine Zeit dauern. Aber du musst ihn nicht suchen, du darfst dich entdecken lassen!“ Die so ernsthaft vorgetragene Weisheit haben sie natürlich von Nick Hornby geklaut, aber irgendwie ist es eine schöne Vorstellung, fast ein wenig zu romantisch und verklärt für die Jungs, die Woche um Woche im Block stehen oder vor der Glotze sitzen, um die Spiele ihrer Mannschaften zu verfolgen. Und heute (Anmerkung: am 25. Februar 2007) habe ich von Herzen begriffen, wie recht sie haben.

Thanks for giving me a Home. (Foto: WP)

Nicht etwa in meinem Stadion, sondern beim Seitensprung: Mit einem Kumpel, der zu den derzeit schwer gebeutelten Fans der Männer am Geißbockheim gehört, habe ich den Nachmittag im Rhein-Energie-Stadion verbracht und die Hoffnung der Kölner auf einen Heimsieg ihrer Truppe geteilt. Vielleicht, so hatte ich gestern Abend noch gedacht, kann ich ein bisschen von der glücklichen Stimmung der Mainzer mit ins fremde Stadion retten, habe mich also sogar mit meinem Glücksschal unter die Anhänger gewagt, weil man doch nicht gefeit ist davor, einen kleinen Aberglaube mit durch die Spieltage zu tragen.

„Wir haben hier übrigens die Mainzer Glückseligkeit mit an Bord heute!“, stellt der Kumpel mich seinen Jungs vor, von denen einer mit einem geschnaubten, „boah, gehen die mir auf die Eier grad!“, reagiert. Aber ich nehme es ihm nicht übel, die Mainzer Hinrunde ist nicht vergessen und ich weiß, wie sehr eine dauerhaft miese oder ergebnislose Leistung des eigenen Teams einem auf die Stimmung drücken kann.

Zur Erinnerung: Ein einziges Spiel hat die Klopp-Elf in der Hinrunde für sich entscheiden können, mit elf Punkten hat die Mannschaft sich in die Winterpause verabschiedet und so manchen Fan sehr ratlos zurückgelassen – was soll man da noch tun, wenn sich über Wochen und Monate gar nichts zu bessern scheint; schon gar nicht zählbar?

Die Hoffnung nicht aufgeben. Den Glauben nicht verlieren.

„Jetzt erst recht!“, zierte als Schriftzug die Caps und Mützen von Spielern und Trainerstab. „Wir können das hier noch wenden!“, wurde Kloppo nicht müde zu wiederholen. „Mainz ist noch nicht abgestiegen, auch wenn das manch einer jetzt schon glaubt!“, beteuerten Präsident und Manager mit fester Stimme.

Und die Fans? Standen zu ihrer Mannschaft, ohne sich erkennbare Vertrauensmängel anmerken zu lassen. Natürlich schummeln jene, die sagen sie hätten keinen düsteren Moment gehabt, in dem ihnen der rechte Glaube fehlen wollte. Selbstverständlich hat man das Stadion oder die Kneipe mal verlassen und geflucht über den Grottenkick, neben dem einem mehr Bier in den Hals geflossen war als geplant – oder man sich im Stadion den Arsch abgefroren hatte – und für was?

Aber das brachte die Besetzung der Mainzer Fanblöcke nie dazu, ihre Unterstützung für das Team aufzugeben. Die Spieler wurden nach jeder Heimniederlage mit einem überzeugten „Auswärtssieg“- Sprechgesang angefeuert, Trainer und die Buben in rot-weißen Shorts niemals angefeindet oder gar ausgebuht. Als die Mannschaft auf den letzten Platz abrutschte, bekräftigten wir unseren Zusammenhalt mit dem Verein, indem wir Transparente trugen, auf denen zu lesen war: „Ich geh mit meiner Laterne!“ Und heute, wo in Mainz plötzlich ein Spiel nach dem anderen gewonnen wird, da gibt es keinen Fan, der sich nicht sicher ist, einen Anteil am wiedergekehrten Erfolg zu haben, „weil, ich hab an die Jungs geglaubt“. Eben!

Das ist mein Verein.

Anders in Köln. Um der zurzeit glück- und erfolglosen Mannschaft Druck zu machen, boykottieren Teile der Fans das Spiel gegen den SC Paderborn, indem sie die komplette erste Halbzeit nicht im Block sondern vorm Stadion verbringen. Bei der Mannschaftsaufstellung kommt von den Rängen kein Applaus, keine Unterstützung, nur vereinzelte Pfiffe und Buh-Rufe ertönen, dieselbe Geräuschkulisse beim Einlaufen der Mannschaften. Während der ersten Minuten des Spiels herrscht unheimliche Stille. Lediglich der Block mit den Fans aus Paderborn feuert die eigenen Jungs an und ein kleines, dickes Mädchen direkt hinter mir schreit, egal was auf dem Platz passiert, gellende Anfeuerungsrufe.

Als der SC Paderborn in Führung geht, klatschen und johlen viele der Kölner Fans, teils aus Häme, teils aus Frustration, die ersten Besucher verlassen das Stadion. Ich möchte auf den Platz rennen und die Spieler umarmen – die zugegebenermaßen eine miese Leistung abrufen, dabei aber derart verunsichert wirken, dass sie mir einfach nur leid tun. Während ich dem Trainer Daum still dafür grolle, dass er gestern in Interviews noch nicht einmal danach klang, hinter seinen Buben zu stehen oder den Glauben an sie zu haben: Wie soll da denn noch was zusammenlaufen?

Den Kölnern gelingt noch vor der Halbzeit der Ausgleich, was ein zwischenzeitliches Stimmungshoch bei den Fans einleitet. In der zweiten Hälfte des Spiels sind auch die Blöcke wieder gefüllt, eine Weile wird die Mannschaft angefeuert, auf jeden Fehlpass jedoch – und von denen gibt es etliche – setzen erneute Pfeifkonzerte ein. Da plötzlich fällt mir die Theorie wieder ein, nach der ein Verein sich seine Fans aussucht – und nicht der Fan den Verein wählen kann. „Was lachste?“, fragt mein Kumpel der Köln-Fan und ich schüttle leichthin den Kopf, „ach, nix!“. Immerhin – er hat die Wahl des Vereins tapfer angenommen und steht, wie es sich gehört, in guten und schlechten Zeiten treu zu ihm.

Und ich? Bin gerade ein bisschen beschwipst von dem Glücksgefühl, das mich überrollt – und möchte meinem Verein gern Danke! zurufen. Danke, dass du mich ausgewählt hast, zu deiner Anhängerschaft zu gehören, mein Mainz 05!

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Mittwoch, 21. August 2013

Nostalgie triftt Vorfreude (3): Der heilige Schuh


Als ich an diesem Spieltag meine Wohnungstür öffne, steht der Zwerg mit heftig in die Falten geworfener Stirn im Hausflur und sagt, den Finger anklagend auf seinen Cousin gerichtet: „Der Sebi ist für die Eintracht!“ Knapp fünf Jahre ist mein Neffe alt und muss feststellen, rein fußballerisch betrachtet hat sich der Feind bis in unsere Familie hineingewagt... Ich zupfe an seinem Trikot, in das er langsam aber sicher hereingewachsen ist: „Das tut mir leid für den Sebi, vor allem, weil wir ihn und seine Eintracht gleich haushoch aus dem Stadion fegen.“ Mein großer Neffe lacht, während wir uns zur Begrüßung umarmen, Jakob aber irritiert sein neues Wissen. „Und wenn ich jetzt auch für die Eintracht bin?“, erkundigt er sich. „Dann nehmen wir dich nicht mit“, scherze ich; Fußballerziehung verträgt kleine Drohgebärden. Jakob beeilt sich zu sagen: „Ich mach doch nur Quatsch. Wir sind Mainzer.“ Und dabei schlingt er seine kleinen Ärmchen um meine Beine und strahlt zu mir herauf.

Auf dem Weg zum Stadion fällt Jakob eine weitere Besonderheit auf – fast alle Fans im Bus tragen ihre Trikots, sein Cousin aber ein normales T-Shirt. „Hat der Sebi denn kein Trikot?“, wundert er sich. „Doch, aber das darf er bei uns im Block nicht anziehen.“ Der Zwerg macht große Augen. „Das ist verboten?“ „Ja.“ „Aber meins nicht, gell?“, versichert er sich. „Nein, aber du trägst ja auch das richtige Trikot.“ Zart befühlt Jakob da das Mainz05-Emblem, und als er den Blick des Großen sucht und findet, liegt kindliche Genugtuung darin.

Auf gehts, Mainzer. (Foto: Sebastian Gölz)
Die Atmosphäre im Stadion ist sensationell. Vielleicht ist es, bei aller Abneigung gegen den inflationären Gebrauch dieses Begriffs, tatsächlich eine Art Derby-Fieber, vielleicht auch das gute Wetter, aber die Luft knistert definitiv. Jakob sitzt im Q-Block direkt vorne am Gitter auf dem Geländer und saugt alles in sich auf. „Heute ist mein erstes ganzes Spiel“, erklärt er Sebi – bei seinem ersten Besuch im Stadion waren wir mit nur einer Halbzeit eingestiegen – und ist ein wenig eifersüchtig, als der erklärt, er sei schon öfter für ganze Spiele hier gewesen. „Und immer haben die Mainzer verloren“, grinst er. „Heute nicht“, sagt Jakob gelassen voraus.

Als die Choreografie über unsere Köpfe hinwegrauscht werden die Augen des Zwergs so groß und rund wie Wagenräder. Als „You’ll never walk alone“ erklingt, beschwert er sich lautstark darüber, keinen eigenen Schal zu haben. Und als das erste Tor fällt, bekommt er es nicht mit, weil er gerade staunend die Menschen im Block beobachtet und dem Spielfeld seinen Rücken zugewandt hat. In den Jubel fällt er natürlich trotzdem mit ein, hüpft auf dem Geländer auf und ab, klatscht erst mich ab und dann den etwas unwilligen Sebi. „Mist“, murmelt der.

„Wer ist der Mann mit dem gelben T-Shirt?“ „Das ist der Schiedsrichter.“ „Und wieso haben die Schiedsrichter da draußen Fahnen in der Hand?“ „Das sind die Linienrichter.“ „Wer sind die Kinder mit den Bällen?“ „Balljungen.“ Eine Frage jagt die nächste und es ist verrückt, wie viel der kleine Mann wahrnimmt, was er alles wissen will und wie die neuen Informationen in seinem Kopf zusammengesetzt und weiterverarbeitet werden.

Der Große beobachtet das Spiel mit zunehmender Sorge, ich behalte mit demselben Gefühl ein paar Fans in unserem Rücken im Auge, die Umstehende schubsen und bepöbeln. Als das vermeintliche 2:0 als Abseitstor aberkannt wird, boxt sich einer von ihnen durch die Menge, klettert einen halben Meter neben dem Zwerg am Absperrgitter hoch, schüttelt und brüllt. Ich beuge mich zu Jakob. „Alles okay?“ Sein Blick hängt am Spiel, den Zaunaffen scheint er nicht wahrzunehmen, geschweige denn, dass ihm die Situation Angst macht. Stattdessen fällt er mir Minuten später zum tatsächlichen 2:0 um den Hals und lacht sich kringelig über den leidenden Gesichtsausdruck seines Cousins.

„Wieso muss der Mann gehen?“ In der 43. Minute erlebt der Kleine seine erste rote Karte. „Weil er einem anderen Spieler wehgetan hat.“ Jakob überlegt und ich kann beinahe sehen, wie hinter seiner Stirn die Parade von Spielern abläuft, die heute bereits die Wiese geküsst haben. „Das machen die aber doch dauernd“, stellt er erwartungsgemäß fest. „Aber diesmal war es besonders schlimm.“ Die Erklärung stellt ihn zufrieden, zumal bereits erneut Grund zum Jubeln besteht und dafür, Sebi auszulachen – es steht 3:0. Der Große schlägt sich wacker angesichts seiner sich in ihre Bestandteile auflösenden Mannschaft.

Die zweite Halbzeit – ereignislos. Umso ereignisreicher die Minuten nach dem Spiel, als die komplette Mannschaft auf den Zaun beordert wird, samt Manager und Präsidenten. Jakobs Augen gehen von rund auf kugelrund. „Was machen die denn da“, wispert er, es klingt ein wenig ehrfürchtig. „Die wollen den tollen Sieg mit uns feiern. Und sich bedanken, weil wir dabei geholfen haben.“ „Wir?“ „Na klar, wir haben sie doch angefeuert.“ Die Idee scheint dem Zwerg zu gefallen, er strahlt. „Schau mal Jakob“, ist es nun an mir zu flüstern – denn inzwischen ist Ivanschitz direkt vor unserer Nase auf den Zaun geklettert. „Was“, wispert er aufgeregt zurück. Ich deute auf Ivanschitz’ Fuß. „Mit dem hier hat er das 1:0 geschossen.“ Der Zwerg zögert nur einen kurzen Moment. Dann streckt er die Hand aus – und berührt für einen kurzen, unvergesslichen Moment den heiligen Schuh.

[Zuerst veröffentlicht im Juli 2011 in der TORToUR # 27]

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Donnerstag, 15. August 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (2): Brief an Oliver Kahn

Adidas-Brücke, München. (Foto: Arturo de Albornoz – CC2)

Lieber Oliver Kahn,

mit den Toren beim Fußball ist es ein bisschen so wie mit dem weiblichen Orgasmus: Man darf sich nicht zu früh freuen. Denn nicht alles, was sich ankündigt, landet auch wirklich wie gedacht im Tor; manchmal scheitert man stattdessen unerwartet kurz vor dem Ziel. Beim Spiel von Mainz 05 gegen Hannover 96 am Samstag hat es viele dieser Kurz-vorm-Ziel-scheitern-Situationen gegeben. Momente, in denen man sich schon sicher war, aufschreien wollte, toben vor Begeisterung, heulen vor Glück! Nur, um Sekunden später festzustellen, der entscheidende Stoß war – wieder – daneben gegangen. Im Fußball, wie beim weiblichen Orgasmus, können Millimeter über Sieg und Niederlage entscheiden.

Warum ich ihnen das erzähle, verehrter Oliver Kahn, hat nichts damit zu tun, dass Sie vor ein paar Jahren mit ihren Frauengeschichten die Schlagzeilen diverser Boulevardmagazine bestimmt haben, denn zum einen war und ist mir das gleich – zum anderen sind diese Dinge mittlerweile zum Glück längst in den Hintergrund getreten. Im Vordergrund steht Ihr Job beim FC Bayern, den Sie – das sei mal betont – wirklich gut machen. Was nur leider nichts nutzt, da der Rest der Mannschaft sich in dieser Saison (zur großen Verwunderung der Liga und völliger Verzweiflung von Uli Hoeneß und ihrer selbst) zu einer Gurkentruppe von gar zu erschreckender Mittelmäßigkeit zurückentwickelt hat. Aber das ist nicht der Grund meines Briefes.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Heimspiel meiner Mainzer gegen Ihren FC Bayern in der vorvergangenen Saison? Wir haben zwar verloren, aber das war nicht weiter wichtig, denn durch die Ergebnisse auf den anderen Plätzen hatten wir trotzdem die Klasse gehalten; nach Abpfiff feierte das ganze Stadion, ihr Team mit meinem. Und alle waren froh und glücklich. Ich auch, obwohl ich nicht dabei war, sondern bei einem Konzert in Köln. Was nicht weiter verwunderlich ist, denn ich verpasse tragischerweise die meisten entscheidenden Spiele. Warum ich Sie an dieses Spiel erinnere, hat einen simplen Grund: Ich möchte an Ihr Herz appellieren; und an ihre Hände. Ich möchte, dass Sie sich erinnern, wie wohl der FC Bayern sich bei uns gefühlt hat – auch wenn Sie, so wie ich, nur aus Erzählungen von dieser Begegnung wissen, denn an besagtem Tag stand ihr Kollege Rensing im Tor.

Und dennoch, erinnern Sie sich – was die Kollegen darüber erzählt haben. Wie schön das war, so freundlich empfangen zu werden. Etwas, das ihrem Club ja nicht allzu häufig passiert, denn notorische Gewinner haben das Pech, nicht allzu beliebt zu sein in ihrem Umfeld. Erinnern Sie sich an den Sieg. An die Feier mit unseren Buben. An die ausgelassenen Humba-Tänze ihrer Mannschaftskollegen, allen voran Roy Makaay, der gar nicht mehr aufhören wollte mit dem auf-und-nieder und dem über-den-Boden-rutschen. Erinnern Sie sich?

Gut.
Denn wir brauchen Ihre Hilfe.

Ihnen ist vielleicht zu Ohren gekommen, dass die Mainzer die Hinrunde leider weitestgehend verschlafen haben. Die Gründe jetzt mit Ihnen durchzudiskutieren, würde die verlorenen Punkte leider auch nicht wiederbringen, deswegen nur so viel: Es war sicher Unvermögen dabei. Aber auch viel Pech. Und – was viel wichtiger ist – wir sind zurückgekommen! Und haben in den ersten Spielen der Rückrunde eine fantastische Siegesserie hingelegt. Es war wirklich wieder eine Freude, den Buben zuzuschauen – und ratz, fatz standen wir für ein paar Spieltage richtig gut da, haben sogar die Rückrundentabelle angeführt. Leider nur vorübergehend, denn nach der tollen Serie kam ein kleiner Einbruch, dann wieder ein wenig Pech dazu – und nun läuft uns die Zeit weg.

Der Mainzer Fan an sich, so müssen Sie wissen, hat es ohnehin gerne ein bisschen spannend, also spricht nichts dagegen, wenn sich erst am 34. Spieltag in der 93. Minute entscheidet, in welcher Liga wir in der Folgesaison spielen. Diesmal könnte es allerdings richtig knapp werden – und nun kommen aber auch wirklich Sie ins Spiel. Mein Tipp ist ja, dass wir die Bayern am letzten Spieltag schlagen müssen, um die Klasse zu halten. Nun kann man sich ja momentan darauf verlassen, dass ihre Kollegen im Sturm nichts auf die Reihe bekommen – aber um Sie mache ich mir doch Sorgen. Sie sind, trotz ihres Alters, einfach noch zu gut. Deswegen meine bescheidene Bitte, ob Sie nicht ein paar Bälle, die eigentlich kein Problem darstellen würden für einen Torwart ihres Formats, einfach reinlassen könnten?

Ich weiß, das muss in Ihren Ohren reichlich absurd klingen, aber sehen Sie es mal so: Für die Bayern wird es an diesem Tag um nichts mehr gehen. Für uns aber, für uns geht es um alles. Denn Jürgen Klopp irrt, wenn er sagt, die 2. Liga sei nicht die Hölle. Und Sie könnten sich ganz nebenbei für die komplette Region unsterblich machen.

Ach bitte, werter Oliver Kahn, tun Sie mir den Gefallen und denken wenigstens Mal darüber nach?

Herzlichst Ihre,
Mara Braun


PS: Eins noch, es ist gut möglich, dass uns ein Sieg nicht genügt, sondern wir auch noch was an der Tordifferenz schrauben müssen, aber Ihnen fällt bestimmt etwas ein, wie man 17 Bälle unauffällig in den Kasten lässt.

PPS: Und der Ehrlichkeit halber sei zugegeben – beim Torwart Duell im letzten Jahr habe ich für Jens Lehmann gehalten. Der kommt einfach besser aus dem Tor und hat den geileren Arsch. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel...

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Donnerstag, 8. August 2013

Nostalgie trifft Vorfreude (1): Die Leiden des tapferen Fans

Freitag, kurz vor 23 Uhr. Eine Hand senkt sich langsam und unerwartet auf meine Schulter. Ich zucke erschrocken darunter zusammen und kehre nur langsam aus meiner Gedankenwelt in die Realität dieses Abends zurück. „Entschuldigung, wir würden gern Feierabend machen!“, lächelt ein Mann in neongelber Weste mich freundlich an. „Sie müssten dann bitte mal gehen.“ Ich erwidere nichts, greife nur stumm nach meiner Jacke, verstecke das Gesicht bis zur Nase im roten Rollkragen meines Pullovers und verlasse mit gesenktem Kopf als Letzte an diesem Abend den Block. Da ist der Abpfiff nach dem 1:3 gegen Aachen schon über eine halbe Stunde her.

Die Metalltreppe scheppert laut unter jedem meiner übellaunigen Schritte. Vor dem Block schaffen sich zwei Halbstarke ihren Frust von der Seele, indem sie sich gegenseitig beschimpfen. Ich finde sie daneben, genau wie die, die aufhören, die Mannschaft anzufeuern, sobald sie hinten liegt. Schönwetterfans. Heute sind wir zuerst in Führung gegangen, 1:0 durch Marco Rose, 29. Minute. Nur vier Minuten später gelingt der Alemannia jedoch der Ausgleich, mit freundlicher Unterstützung von Dimo Wache, auch das noch. Weiter fünf Minuten später liegen wir plötzlich 1:2 hinten und gehen so auch in die Pause.

Those were the days of fame and glory. Äh... (Foto: WP)

Die zweite Halbzeit wird von beiden Teams sehr hitzig geführt, sowohl was die Spielzüge als auch was die Fouls angeht. Die Stimmung auf dem Platz wirkt extrem aggressiv und das überträgt sich auf die Ränge. Dazu die vielen verpassten Chancen: um die 60. Minute herum habe ich das Gefühl, wir hätten nach dem Wieder-Anpfiff schon zehn Tore schießen können, allein, wäre da nicht die verfluchte Schwäche im Abschluss. Die Jungs kombinieren wirklich fein, bis kurz vors Tor ist ihnen selten ein Vorwurf zu machen – aber dann trifft einfach niemand den verdammten Kasten. 

Viel einfacher wird es nicht im Sport: Wer die Buden nicht macht, der kann auch nicht gewinnen. Und die, die am heutigen Abend nicht treffen und deswegen auch nicht gewinnen – sind leider wir. Aachen hingegen trifft sogar noch zum 1:3 und ist mit diesem Sieg neuer Tabellenführer. Das feiert der Aufsteiger begeistert tanzend auf unserem Rasen. Und während die Mainzer Fanblöcke sich recht schnell lichten zu dieser späten Stunde, singen die Anhänger der Alemannen ausgelassen mit ihrem Team. Ich schaue ihnen dabei zu und kann sie nicht leiden.

Fußball funktioniert nicht über den Kopf, zumindest nicht hier im Block, genauso wenig wie in den Herzen der Fans. Weil es eine emotionale Angelegenheit ist, der man mit Argumenten nicht beikommen kann, schon gar nicht im Moment einer Niederlage. Ich finde deswegen auch alle Aachener Fans doof, die mir auf meinem Heimweg noch entgegenkommen. Weil sie auf der falschen Seite stehen. Und sich heute Abend freuen dürfen, in unserem Stadion, über ihren Sieg.

Enttäuschte Leidenschaft führt zu Frust, und der steckt mir tief in den Knochen. Zwei angetrunkene Alemannia Fans nähern sich Fahnen schwenkend und brüllen mir mit bierschwangerem Atem ins Gesicht, „Mädchen, du liebst den falschen Verein!“ – mich kitzelt die Faust in meiner Anoraktasche, heimlich, still und böse, und ich knurre ein halbes dutzend Unanständigkeiten in meinen Rollkragen.

Polizisten eskortieren die Fans der gegnerischen Mannschaft zum Bahnhof und ich finde das nur angebracht, denn sicher sind sie alle gemeingefährlich. Die zerren, wenn man sie aus den Augen lässt, bestimmt auch an den Trikots der weiblichen Fans, vor allem an meinem, das neu ist und wunderschön, ein Geburtstagsgeschenk. Die haben ja, denke ich böse bei mir, nicht mal eigene Farben, hier in der ersten Liga, „schwarz gelb, schwarz gelb“ singen sie, als kämen ihre Fanbusse aus Dortmund, nicht Aachen.

Am Ende eh alles dasselbe. Wir haben verloren und sie gewonnen.
Wir sind arm dran und die gemein. Meine Fußballseele schmerzt.

„Auswärtssieg, Auswärtssieg“, brüllen begeistert zwei kleine, bezopfte Mädchen in schwarz-gelb, die wollen so gar nicht zu meinem Bild vom aggressiven alemannischen Trikotzupfer passen. Aber ich habe heute Abend keinerlei Ambitionen mehr, Vorurteile gegenüber gegnerischen Mannschaften abzubauen, die uns daheim schlagen.

Stattdessen beschließe ich, dass Auswärtssiege ab heute verboten sind. Zumindest in unserem Stadion. Die Regelung tritt per sofort in Kraft. Kann bitte jemand in Bremen Bescheid sagen deswegen? Die drei Punkte in vierzehn Tagen bleiben hier. Danke.

[Zuerst veröffentlicht am 13. Oktober 2006 auf www.neon.de]

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