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Freitag, 8. November 2013

Der zwölfte Mann nimmt Abschied


Heute vor vier Jahren stand Robert Enke zum letzten Mal im Tor von Hannover 96. Zwei Tage später nahm er sich in der Nähe seines Wohnhauses das Leben. Für das Mainz 05-Fanzine „Die TORToUR“ habe ich mich damals mit seinem Tod, den Reaktionen und der Trauerfeier im Stadion beschäftig.

So haben wir das Thema damals bebildert. (Montage: Die TORToUR)
Wenn man bedenkt, dass ich nach Michael Jacksons Tod tagelang damit beschäftig war, die Augen darüber zu verdrehen, welche Welle der Hysterie durch die Welt (und vor allem das Netz) rollte, mag es seltsam erscheinen, wie sehr mich Robert Enkes Tod schon seit Tagen beschäftigt. Aber letztlich zählt eben immer auch die persönliche Bezugsgröße – und nicht nur gibt es mir nahe stehende Menschen, die mit Depressionen zu kämpfen haben, Robert Enke war als Fußballer zudem Teil eines Systems, dem ich mich ebenfalls zugehörig fühle. Und er hatte als Mensch etwas an sich, auf das man sich irgendwie einigen konnte. Es gibt eben Typen, die polarisieren und solche, die einem sofort sympathisch erscheinen; so einer war Enke. Dazu die Geschichte mit seiner Tochter, das sind irgendwie Bilder, die man nicht vergessen hat, die einen Bezug herstellen zu diesem Menschen, obwohl man ihn nicht oder nur über Fernsehbilder kannte.

Ehrlich, so lange ich denken kann, war mir Hannover 96 einfach egal. Dann kam die Episode mit Hanno Balitsch, der sich zu fein war für Mainz 05 und zu einem Verein wollte, der „oben mitspielt“ – es wurden die 96er. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich über jede Niederlage der Niedersachsen gefreut, mit freundlichen Grüßen an einen, dem die emotionale Intelligenz fehlte für das System Mainz 05. Der Verein lag plötzlich auf der nach Lautern offenen „Ich kann euch nicht ab, das ist nicht rational, das ist einfach so“-Skala kurz hinter der Eintracht. Aber Enke, den mochte ich. Außerdem war er mittlerweile Teil der Nationalelf und mir als Nachfolger von Jens Lehmann lieber als Tim Wiese.

Die Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen wird in der Psychologie in Phasen eingeteilt. Dazu gibt es verschiedene Modelle, einige gehen von vier Phasen aus, andere von fünf, gemein ist aber allen, dass am Anfang völliger Unglaube über den Tod steht, der erst mit der Zeit durch heftigere emotionale Regungen wie Schmerz und Sehnsucht, aber auch Wut abgelöst wird. Diese Wut richtet sich gegen etwas Fernes, ein Schicksal, vielleicht einen Gott, jedenfalls das Gefühl überwältigender Ungerechtigkeit darüber, getrennt worden zu sein von einem, den man liebt. Ein Selbstmord bringt all das durcheinander, weil die emotionale Reaktion viel unmittelbarer ist; einen großen Teil davon machen Schuldgefühle aus und die zerstörerische Frage, wieso man den anderen nicht abhalten konnte? Dazu kommt, dass die Wut eigentlich einen direkten Adressaten haben könnte – den Menschen nämlich, den man verloren hat, weil er doch aktiv gegangen ist. Obwohl man aber ein Recht hat auf diese Wut, fühlt sie sich doch schäbig an und gibt zugleich den Schuldgefühlen weitere Nahrung: Erst war man nicht in der Lage, zu helfen – nun macht man dem Verstorbenen noch Vorwürfe dafür, dass er den einzigen Weg gewählt hat, den er für sich offenbar sah.

Beckmann sagt ausnahmsweise mal was Richtiges. Der
Zettel hängt seit vier Jahren über meinem Schreibtisch.

In ihrem Abschiedsbrief an Robert Enke beschreiben die Spieler der Nationalelf ihre Ohnmacht im Angesicht seines Todes: „Warum konnten wir dir nicht helfen? Warum konntest und wolltest du uns nicht von deinen Problemen erzählen?“ Und weiter: „Es ist für uns alle ein schmerzhafter Gedanke, dass du dich einsam und allein gefühlt haben musst, auch wenn du mit uns zusammen warst. Dass du so oft das Gefühl gehabt haben musst, viel mehr verlieren zu können als ein Fußballspiel. (...) Dein Tod ist so trostlos.“ Als das Länderspiel der Nationalelf gegen Chile abgesagt wurde, zweifelten einige, ob das die richtige Entscheidung war. Oft stand dabei die Frage im Raum, ob Enke selbst es gewollt hätte. Doch das ist im Grunde egal: Weil nach dem Tod eines Menschen (und in dieser Sache macht ein Selbstmord keine Ausnahme) die zählen, denen er genommen wurde, es darauf ankommt, dass sie einen Weg finden, das Geschehene zu verarbeiten. Das Spiel wurde nicht abgesagt, weil man es etwa als unpassend empfunden hätte, an jenem Wochenende zu spielen. Es wurde abgesagt, weil die Spieler nicht anders konnten: „Wir waren nicht in der Lage, ein paar Tage später Fußball zu spielen. Wir konnten nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.“ Und: „Wir alle brauchten diesen Moment der Ruhe, um zu realisieren, was passiert ist. Richtig verstehen werden wir es vielleicht nie.“

Ganz ähnlich geht es vielen Fans, speziell natürlich denen von Hannover 96. Ein Spieler, mit dem sie über Jahre ihre Wochenenden verbracht haben, fühlt sich so gefangen, so unter Druck, dass er sich vor einen Zug wirft. Natürlich ist es wahr, dass der Großteil dieser Fans Enke nicht im klassischen Sinne kannte, nie mit ihm gesprochen, ihn nie persönlich erlebt hat. Aber das ändert nichts daran, dass sie sich (mit) ihm verbunden fühlen. Er war ein Teil ihrer Welt, ein Mensch, dem sie in kniffeligen Situationen den Rücken stärkten, der samstags nach dem Spiel via Sportschau bei ihnen zu Hause vorbeischaute. Es mag pathetisch klingen, aber man muss jemanden nicht kennen, um ihn zu lieben; zumindest nicht, wenn es um Fußball geht. Der funktioniert eben nicht über den Kopf, ist eine beinahe ausschließlich emotionale Angelegenheit. Diese Nähe führt schließlich dazu, dass auch die Fans sich fragen, was hätten wir tun können, um das zu verhindern? Weil die Fassungs- und Hilflosigkeit der Menschen, die Enke persönlich kannten, sich auf sie ausweitet. Und: Wie kann es sein, dass einer, der uns so lieb und teuer war, eine solche Angst davor hatte, eine vermeintliche Schwäche zu offenbaren, dass er sich stattdessen lieber umgebracht hat?

Deswegen wurde Robert Enke auch nicht im Stadion aufgebahrt, weil irgendjemand das Gefühl hatte, das gehöre sich plötzlich so. Es gab dort auch keine Trauerfeier, weil man glaubte, das sei notwendig für Enke oder in seinem Sinne – fast schon eher im Gegenteil. Denn niemand geht wohl davon aus, dass einer, der so im Stillen gelitten hat, auf etwas nahe an einem Staatsbegräbnis Wert gelegt hätte. Wichtig war diese Trauerfeier vielmehr für die Fans. Denn so, wie Teresa Enke sich in der Pressekonferenz am Tag nach Enkes Tod von der Last des Geheimnisses befreite, das sie jahrelang für ihren Mann gehütet hatte, konnten sich die Fans an jenem Tag im Stadion von ihrem Entsetzen und der ersten, unmittelbaren Trauer befreien. Die Gedenkfeier gewährte auch ihnen jenen „Moment der Ruhe“, den Enkes Nationalmannschaftskollegen in ihrem Abschiedsbrief beschreiben – und die Möglichkeit, sich genau so von ihm zu verabschieden, wie sie ihn all die Jahre unterstützt haben: im Kollektiv.

Zuerst erschienen im Dezember 2009 in „Die TORToUR“ # 23

*


Mittwoch, 30. Oktober 2013

Melody, uncertain


»Ich kenne diese Melodie, es schmerzt am ganzen Körper, und Leute klopfen bei mir an, kommen herein, trinken und reden mit mir, ohne zu merken, daß ich längst aufgegeben habe, die Küche aufgeräumt, die Mäuse unter dem Bett verjagt, gefaßt auf den letzten endgültigen Strahl aus dem Flammenwerfer.«

[Charles Bukowski]

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Montag, 7. Oktober 2013

Tunnel

„Friends you swore you'd never lose
 melted from your style. 
Down the tunnels of your youth 
and now you never smile.“

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Montag, 16. September 2013

Freitag, 13. September 2013

Mittwoch, 4. September 2013

Dienstag, 13. August 2013

What keeps us going


»What kept me sane was knowing that things would change and
it was a question of keeping myself together until they did.«  
[Nina Simone – I put a spell on you]

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Montag, 10. Juni 2013

Schnürsenkel des Tages

Ich erinnere mich dunkel an die Zeiten, in denen an meinem Schreibtisch ein Tintenstrahldrucker seinen Dienst verrichtete: Zum Glück ist das lange vorbei. Klar, der konnte Buntes, er brauchte aber auch 63 verschiedene Patronen und die mussten stündlich gewechselt werden. Mein Laserdrucker hingegen verrichtet seit rund sieben Jahren treu seine Dienste, und alles, was er in der Zeit wollte, waren ein paar Tonerauffrischungen: Dankeschön.

Kürzlich war es dann mal wieder so weit. Die Ausdrucke kamen mit leichtem Schleier aus dem Schlund der Maschine, und irgendwann hatte die Lesbarkeit auch für Dinge, die nicht verschickt oder anderweitig weitergegeben werden so weit nachgelassen, dass es Zeit wurde für eine erneute Befüllung der Patrone. Also ab zum Laden meines Vertrauens…

Schon Bukowski wusste, es sind die Kleinigkeiten, die uns in den
Wahnsinn treiben: langsam, aber sicher. (Foto: WP)

„Hallo, ich würde gerne die Laserkartusche hier wieder befüllen lassen.“
Verkäufern besieht sich die Kartusche kritisch, schaut mich an.
„Wir haben gerade keinen Toner.“
Da keine weitere Erklärung folgt, setze ich nach einem Moment des Schweigens ein gedehntes, „Okeh?“ in den Raum.
Die Verkäuferin mustert weiter die Kartusche.
„Ich frag mal den Chef, ob wir die da haben.“
Nach ein paar Minuten kehrt sie zurück.
„Ne, haben wir nicht.“
„Was denn?“
„Ihre Kartusche.“
Meinem fragenden Gesichtsausdruck kann die Dame offenbar entnehmen, dass ich den Faden verloren habe.
„Der Toner ist alle. Wenn Ihre Kartusche noch mal da wäre, hätte ich Ihnen die mitgeben können. Also, eine von uns.“
„Ach so. Ich würde aber eigentlich eh am liebsten die Originalpatrone behalten.“
Pause.
„Wir haben gerade keinen Toner.“
„Wann kriegen Sie denn neuen?“
„Kann Donnerstag werden.“ (Es ist Montag.)
„Kann ich denn die Kartusche hier lassen?“
„Klar. Ah, Moment, mir fällt noch was ein.“
Nach ein paar Minuten kommt die Verkäuferin mit einem Karton wieder, hält ihn mir hin und sagt: „Das macht neunundvierzichneunzich.“
„Äh, was jetzt genau?“
„Die Kartusche.“
Ich rubble mir die Schläfen.
„Was ist das denn für eine Kartusche?“
„Wie Ihre. Also, quasi. Ist ein Nachbau, für ein anderes Modell. Müsste aber auch bei Ihrem passen.“
„Kann ich die mal sehen?“
„Die ist eingeschweißt.“
„Ich würde gerne schauen, ob die wirklich baugleich sind.“
Mit einem gewissen Umstand öffnet die Verkäuferin die verschweißte Verpackung. Sie hält die nachgebaute Kartusche gegen meine, die beiden sind sich ähnlich, aber nicht baugleich.
„Ne, das ist nett von Ihnen, aber ich warte dann doch lieber, bis meine aufgefüllt ist.“
„Wie Sie wollen. Wir rufen dann an.“

Der Donnerstag kommt, der Donnerstag geht – nichts passiert. Das Wochenende kommt, das Wochenende geht – nichts passiert. Ich rufe also montags in dem Laden an.

„Hallo, ich habe vor etwa zehn Tagen eine Kartusche zur Befüllung bei Ihnen abgegeben und wollte mal fragen, ob die fertig ist.“
„Haben Sie einen Abholschein?“
„Ja.“
„Schauen Sie mal, da sind so sechs Nummern drauf.“
Ich überfliege den Abholschein, sehe aber nur eine Nummer und gebe das durch.
„Nein, da sind sechs Nummern. Und davon brauche ich drei.“
Bei mir fällt der Groschen.
„Ach, Sie meinen Ziffern!“
Lachen.
„Oder?“
„Ne, nicht Ziffern. Zahlen! Die letzten drei.“
Leicht verwirrt gebe ich die geforderten Ziffern durch. Aus der Leitung erklingt ein Tuten.
„Hallo?“
Stille. Ich wähle erneut.
„Hallo, ich hatte eben angerufen wegen meiner Kartusche, aber offenbar bin ich aus der Leitung geflogen.“
„Ne, ich habe Sie weggedrückt.“
„?“
„Die Kartusche ist fertig.“
„Ah okay. Weil die Kollegin meinte, dass ich Bescheid kriege, wenn die zurück ist.“
„Jo. Ist vielleicht noch nicht so lange fertig. Keine Ahnung.“

Eine halbe Stunde später, im Laden.

„Hallo, ich wollte gerne meine Kartusche abholen.“
„Abholschein?“
Ich händige den Schein aus und bekomme die Kartusche. Von einer plötzlichen Eingebung gesegnet, öffne ich den Karton.
„Die ist eingeschweißt.“
„Ja, ich weiß, ich würde sie aber gerne aufmachen.“
„Da brauchen Sie eine Schere.“
„Mhm, ja. Könnten Sie mir bitte gerade eine geben?“
Ich erhalte die gewünschte Schere, öffne die Verpackung – drin ist, na klar, die falsche Kartusche. Ich weiß nicht, ob ich lachen, heulen oder einfach den Laden verlassen soll, erinnere mich rechtzeitig an die Vorkasse und sage freundlich.
„Das ist leider nicht meine Kartusche.“
„Oh.“
„Als ich meine abgegeben habe, meinte die Verkäuferin, ich könnte stattdessen auch eine baugleiche mitnehmen. Ich hätte aber gerne meine aufgefüllt. Das hier ist nicht meine.“
„Ja, dann weiß ich auch nicht, wo Ihre ist.“
Ich spüre leichten bis mittelschweren Unwillen in mir aufsteigen.
„Ich weiß, dass Sie da vermutlich nichts für können, aber ich warte seit zehn Tagen auf meine Kartusche…“
„Die ist schon seit Donnerstag fertig.“
„Wovon ich nichts wusste, weil mich niemand angerufen hat. Und jetzt ist es die falsche. Das ist schon ein bisschen ärgerlich.“ 
Der Verkäufer beginnt, einige der umliegenden Kartons zu öffnen.
„Was ist das für eine Marke, Ihr Drucker?“
„Samsung.“
Ich habe ein bisschen das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen.
„Es ist halt noch die Originalpatrone. Bei der würde ich gerne bleiben. Ich hatte es auch extra dazugesagt, als ich sie abgegeben habe.“
„Mhm.“
Der Verkäufer verschwindet. Nach einer Weile kommt er wieder und in der Hand hält er – meine Kartusche! Ich strahle.
„Prima, genau! Das ist meine.“
„Die ist aber nicht aufgefüllt.“
Mir auch schon fast egal.
„Macht nichts, dann füllen Sie die einfach auf und ich hole sie ab, wenn sie fertig ist.“
„Wir haben aber gerade keinen Toner.“
„Mhm.“
„Ich kann Ihnen die andere mitgeben. Die sollte auch passen. Kann ich hier auch kurz testen.“
„Ne, danke, das ist echt nett, aber ich hätte gerne meine wieder.“
Ich deute auf ein besonders ausladendes Teil meiner Kartusche, das normalerweise im Inneren des Druckers liegt.
„Die hat auch hier dieses viel längere Teil, da wird das Papier sauberer angezogen. Schauen Sie, das ist bei der anderen nur so ein Stummel.“
„Ja, da wird gespart.“
Ich lächle, in der Annahme, mit dieser Aussage habe der Verkäufer mein Anliegen verstanden.
„Was machen wir denn jetzt?“
„Es wäre toll, wenn Sie meine Kartusche befüllen könnten. Bezahlt ist ja schon.“
„Wir haben aber gerade keinen Toner.“
Seufzer.
„Wann kriegen Sie denn wieder welchen?“
„Kann Donnerstag werden. Wir rufen dann an.“

*

Freitag, 24. August 2012

Bitte nicht (ver)schlucken

Überlegen Sie mal, wie viele Menschen es gibt, mit denen Sie gerne in der Badewanne sitzen (würden)? Und jetzt ziehen Sie Benicio del Toro oder Chloë Sevigny ab, wie viele bleiben da übrig? Je nach dem, was Sie in der Wanne vorhaben, dürfte das zumeist einer sein; niemand kommt bei dieser Überlegung aber wohl auf mehrere Hundert. Und trotzdem rennen wir bei diesem Wetter alle ins Schwimmbad, um mit unzähligen wildfremden Menschen – zu baden.

Ich schwimme unglaublich gerne. Bin überhaupt gern im Wasser, Meer, Badewanne, Pool – das ist mein Element, immer schon gewesen. Will heißen, bei steigenden Temperaturen gehöre ich zu den ersten, die Richtung Schwimmbad pilgern, um dort meine Bahnen zu ziehen, statt in den Feldern laufen zu gehen. Schwimmen, das ist prima zum Abschalten, da ist man ganz auf sich zurückgeworfen, nicht einmal Musik ist möglich, nur das gleichmäßige Gleiten, das Rauschen im Ohr, die Sonne, die sich im Wasser bricht...

Beim nächsten Mal lieber wieder ins Meer, statt
ins Schwimmbecken. (Foto: Marieke Stern)
Ach ja, und der leicht renitente Nebenmann, der nach dem Motto „dies ist meine Bahn, von ihr werde ich nicht weichen“ alles aus dem Weg krault und tritt, was nicht ohnehin angesichts seiner Wasserhiebe die Flucht ergreift. Aber – Schwimmen entspannt ja so herrlich; von derlei menschlicher Überdrehung lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen.

Viel eher Anlass zur Beunruhigung gibt der Blick durch die Taucherbrille: Wer gerne abends nach dem Büro noch seine Bahnen zieht, weiß, wovon ich rede – unfassbar, welche Menge an Haaren nach einem Sommertag im Becken schwimmen. Damit meine ich nicht die einzelnen, langen Haare, die an den gespreizten Schwimmfingern hängen bleiben; nein – ganze Büschel menschlichen Haupthaares liegen auf dem Beckenboden. Allein, wenn sie dort nur blieben – doch in der ewigen Bewegung des Wassers tanzen die Büschel vom Boden gen Oberfläche. In einem Wort, ekelhaft. Fast nicht auszuhalten, von einem solchen Büschel am Fuß berührt oder gar am Bauch gekitzelt zu werden. Bitte kotzen Sie jetzt nicht: Es sind Menschen im Wasser.

Die übrigens, sofern unter 20 und männlich, gerne mit ihren Boxern statt einer Badehose ins lauwarme Nass hüpfen. Was genau so lange egal ist, bis man zum ersten Mal etwas darüber liest, wie viel mehr Urin auf diese Weise ins Wasser gelangt – weil die Boxer natürlich nicht frisch, sondern vorher schon zwei bis 100 Stunden getragen sind, bis sie am Unterleib ihres Besitzers ins Wasser gleiten. Merken Sie was? Sie müssen jetzt ganz stark sein; und dürfen sich auf keinen Fall fragen, was noch so alles in der Boxer… Nein.

Als kleinen Kindern hat man uns erzählt, wer im Schwimmbad ins Wasser macht, färbe es damit lila – so ist die Pinkelwutz überführt; und wir hielten dicht. Heute wünschte ich mir manchmal, es wäre so. Denn mehr als die Boxershorts machen mir die Aufenthaltszeiten manch eines jugendlichen Casanovas im Becken Sorge. Da kann mir doch niemand erzählen, dass die Jungs mit ihren Minibläschen nicht ab und an unauffällig einen Mittelstrahl ins Wasser lassen.

Wer nach 16 Uhr ins Becken gleitet, kann sich überdies die Sonnencreme sparen. Das machen Geruch und Anmutung sofort klar: Im Laufe eines Tages wäscht das Poolwasser derart viel Sunlotion von verschwitzten Körpern, dass selbstcremen Verschwendung wäre. Es ist natürlich auch zu viel verlangt, dass die Schwimmbadbesucher sich kurz unter die Dusche stellen, bevor sie sich in die Massenbadewanne stürzen.

Das Schlimme – diese Gedanken lassen sich mit jeder Bahn schwieriger abschütteln, während man durch tanzende Haarbüschel gleitet. Wie viele Menschen waren wohl allein heute in dem Becken, wie viele Liter Schweiß sind ins Wasser geflossen, wie viel Sonnencreme, wie viele Kids und Erwachsene haben sich beim Pinkeln mit dem Gedanken beruhigt, dass das doch eh keiner merkt? Wie kann es nur sein, dass am Grund des Beckens um diese Uhrzeit genügend Pflaster versammelt sind, um einen Kriegsverwundeten zu versorgen, warum gehen Frauen mit Binden oder Slipeinlagen ins Wasser (und verlieren sie dann noch) – und woher kommen nur diese Unmengen an Haaren; eine reine Fundgrube für Perückenmacher.

Ein Bekannter hat kürzlich erzählt, er habe nach dem Besuch im Freibad Fußpilz bekommen. Nicht etwa aus mangelnder Hygiene – sondern vor Ekel. Ich versuche, beim Schwimmen an das Hochgefühl zu denken, das mich ergreifen wird, wenn ich aus dem Wasser steige und in die Wiese falle, erschöpft, aber glücklich, müde, aber stolz. Meine Strecke absolviere ich bei diesem Wasserzustand trotzdem ziemlich sicher in neuer Rekordzeit. Kurz vor Ende passiert es dann doch – ein junger Schlacks springt neben mir ins Becken, die Welle überrascht mich – und ich verschlucke mich am haarigen Wasser. Da hilft nur eines, Zuhause schnell einen Schnaps hinterher kippen, um abzutöten, was das Chlor verschont hat – sicher ist sicher. Prost!

*



Dienstag, 8. Mai 2012

Be freakin' friendly, oder: Nicht in diesem Land

Kürzlich ist es mir tatsächlich passiert: Als ich, beladen mit zwei schweren Einkaufstüten, die Straße hinunterschnaufe, stellen sich mir zwei Typen in den Weg. Ihre langen Leiber werfen große Schatten auf den Gehweg zu meinen Füßen. Langsam hebe ich den Blick. „Brauchst du Hilfe?“, fragt einer der beiden. Und ich bin so perplex, dass ich antworte: „Nein, danke.“ Ich meine, wer rechnet denn auch mit sowas? Selbstlose Freundlichkeit vollkommen Unbekannter im Alltag? Nicht in diesem Land (und vermutlich auch in keinem anderen…).

Willkommen in der sozialen Kälte. (Foto: Marieke Stern)
Normal sind doch eher solche Szenen: Eine alte Dame schleift unter Aufbietung all ihrer Kräfte mit beiden Händen eine Einkaufstasche hinter sich her. In unmittelbarer Nähe stehen einige Jugendliche, einer der Typen ist bewaffnet mit einer kleinen Tüte von Douglas. Kichernd macht er seine Kumpels auf die Tütenschleiferin aufmerksam, bevor er mit seinem Parfumerie-Täschchen ihr mühsames Schleppen nachahmt. Ich hätte den dummen Kerl ja liebend gerne umgeworfen, habe mich aber doch entschieden, stattdessen der alten Dame mit ihrer Tüte zur nächsten Bushaltestelle zu helfen.

Oder wie wäre es mit etwas Szenischem aus dem Straßenverkehr? Freitagabend in der vollkommen überfüllten Innenstadt. Unmöglich, hier voranzukommen, völlig egal doch also, ob und wer und wie man zu so etwas absurdem wie seinem Recht kommt, beispielsweise dem, unbedingt noch vor irgendwem abzubiegen oder einzufädeln, oder... Trotzdem verteidigen spießige Feierabendanwärter verbissen jeden Zentimeter, brüllen, fuchteln und zeigen Mittelfinger, statt einem Mitmenschen mal freundlich entgegenzukommen. Kinderstube? Fehlanzeige.

Noch schlimmer als die Straße – der Supermarkt. Darüber, wie scheinbar zivilisierte Bürger auf dem Weg zur Kasse ihre hässliche Fratze zeigen, ließen sich ganze Bücher verfassen. Klassiker Nummer 1: Kunde mit maximal drei Artikeln nähert sich mit schüchtern zu Boden geworfenem Blick. „Äh, Entschuldigung, ich habe nur“ – und kommt nicht weiter, weil die Kundin vor ihm keift: „Mir egal, ich hab es eilig und war vorher da.“ Funktioniert in Sachen unverschämt auch mit Wut auf den Kleinsteinkäufer, dann mittels Trick: Kunde mit wenigen Artikeln kommt an die Kasse, deutet irgendwo nach vorne und sagt: „Ich habe das noch kurz geholt, meine Frau/Schwiegermutter/Nichte steht weiter vorne“ – und schiebt sich so bis zur Kassiererin, bei der er seelenruhig zahlt.

Dann die Geschichte, die vor einer Weile meiner besten Freundin passiert ist. Völlig überforderter Typ knallt eine Weinflasche neben, statt auf das Warenband. Während meine Freundin mit Tempos bewaffnet auf allen Vieren kriecht, um ihm mit seiner Pfütze zu helfen, öffnet nebenan eine weitere Kasse, und – genau: Der so Unterstützte zieht wortlos von dannen. Ist ja irgendwie nicht mehr seine Sauerei, jetzt, wo jemand anders sich darum kümmert. Überhaupt haben es Menschen offenbar nie so eilig wie an Kassen. Das gilt für Kunden wie für Kassiererinnen, denen grundsätzlich auch bei sichtlich bemühten älteren Herren die Geduld fehlt, deren Münzzählung abzuwarten. Da können diese noch so hilfesuchend und freundlich schauen beim Suchen und noch so offensichtlich auf ein nettes Wort oder zumindest ein Lächeln hoffen, der Drache an der Kasse kriegt die Zähne nur zum Zetern auseinander.

Bleibt die Gretchenfrage, wo will dieser Text hin und was möchte uns die Autorin sagen? Na, zum einen, dass sie wütend ist und die Nase voll davon hat, täglich solche Szene zu beobachten. Viel wichtiger aber, dass es so einfach ist – ganz kitschig – jeden Tag einen verdammten Unterschied zu machen, anstatt die Welt zu verpesten. Es hingegen aber niemanden weiterbringt, bei den Nachrichten oder einem Blick auf die Arbeitslosenstatistik über soziale Kälte zu jammern. Und sie gleichzeitig jeden Tag zigfach selbst zu produzieren.

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Donnerstag, 19. April 2012

Wieheißtdunochgleich?

I know I love your Music, but what's your
Name again? (Pressefoto: Tex Perkins)
Eigentlich würde ich von mir selbst behaupten, ein relativ gutes Gedächtnis zu haben. Das geht sogar so weit, dass sich manche Dinge hartnäckig dort oben festsetzen, die ich eigentlich überhaupt nicht behalten möchte. Es sei denn, es geht um Namen – da bin ich aufgeschmissen. Und damit meine ich nicht alleine die regelmäßigen Aussetzer bei Filmtiteln, Songs, Prominenten oder Vereinsnamen außerhalb der Fußballbundesliga…

Namensdemenz 1: Menschen – allgemein
Wenn Leute sagen, sie vergessen kein Gesicht, leuchtet mir das ein: Ich weiß bei der Begegnung mit Menschen normalerweise auch sofort, ob ich sie vorher schon mal getroffen habe. Schwieriger – aber zu meistern – ist dann, denjenigen zuzuordnen. Steht er oder sie beim Fußball neben mir im Block? Ist mit meiner besten Freundin zur Schule gegangen? Oder arbeitet bei der örtlichen Postfiliale? Besteht ein direkter Bezug zu der Person, folgt die Grübelei nach deren Namen – das kann dauern… Und wird erst von peinlichem Schweigen, später dann Schweißausbrüchen begleitet. Denn wie bekommt man sein Gehirn dazu, eine Information preiszugeben, die man in der Situation noch nicht einmal eingrenzen kann? Da bleibt nur, hektisch durchs Alphabet zu stolpern, und es mit einem lächelnden, „Na, du“ zu versuchen.

Namensdemenz 2: Menschen – Verwechslung
Mein persönliches Waterloo ist das permanente Durcheinanderwerfen bestimmter Namen. Die für alle außerhalb meines eigenen Oberstübchens gar nicht mal klingen, als ob sie irgendetwas gemein hätten. Paradebeispiel: Nils und Jens. Wobei das weniger im direkten Gespräch passiert, als wenn ich mich über Leute unterhalte und sie beispielsweise grüßen lasse – was unter Umständen Irritation bei der Partnerin auslöst. „Grüß Jens lieb von mir!“ „Wer ist Jens?“ „Äh…“ Ebenfalls das Zeug zum Klassiker haben Inge und Christel, zwei Namen, die nun wirklich komplett verschieden sind, immerhin aber die Gemeinsamkeit teilen, beide zu einer meiner Tanten zu gehören. Und relativ neu aber schon recht fest etabliert in der Hitliste: Thorsten und Carsten.

Namensdemenz 3: Menschen – Endungen
Diese spezielle Form der Namensdemenz hat mich schon in handfeste Streitereien verwickelt – und ist zugleich jene, über die ich im Alltag am häufigsten peinlich errötend stolpere. War der richtige Name des Kollegen nun Christoph oder vielleicht doch Christopher? Und im Umkehrschluss, heißt der Freund der besten Freundin dann (auch) Christoph(er)? Da fällt ja, ganz ernsthaft, auch irgendwann die Möglichkeit weg, sich noch mal höflich zu erkundigen, was denn nun stimmt. Hieß der Walter jetzt Ulbrich oder Ulbricht, bin ich verknallt in die Musik von Tex Perkin oder Tex Perkins und heißt Frankfurts Heribert Bruchhage oder Bruchhagen? Alles Namen, mit denen ich doch seit Jahren hantiere, aber jede Eselsbrücke, die ich mir je geschaffen habe, ist irgendwie nicht bis zum Ende schlüssig oder einfach umkehrbar – und hinterlässt mich ratlos.

Was hilft ist einzig, auf die Toleranz der Menschen um mich herum zu hoffen – und zumindest im Fall drei ab und zu ein bisschen zu nuscheln. Tröstlich immerhin die Beinahe-Gewissheit, dass es sich bei meiner Namensdemenz um eine erbliche Angelegenheit handelt. Schließlich hat mein Vater früher familiäre Frühstücke damit belustigt, mich mit dem Namen meiner großen Schwester anzusprechen, die kleine mit meinem – und von der großen wiederum mit dem Namen seiner Jüngsten zu reden. Verschont vom väterlichen Namenskarussell blieb damals lediglich mein Bruder, aber der heißt auch Jörg und das würde nicht einmal ich mit irgendetwas verwechseln...

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Dienstag, 14. Februar 2012

Gestorben wird immer

Als im Oktober 1991 Roy Black starb, war ich 13 – und himmelte mit meiner Schwester allabendlich Orry Main alias Patrick Swayze in „Fackeln im Sturm“ an. Bis eines Tages zur gewohnten Sendezeit statt des Südstaatenepos mit wenig Tiefgang und viel nackter Haut die Nachricht vom Tod des Schlagersängers den Bildschirm dominierte. Wir ratlos davor sitzen blieben. Irgendwann mitzufühlen begannen. Und am Ende Tränen flossen: Weil uns das Gesicht dieses Mannes über die Jahre vertraut geworden war. Sein Schicksal uns bewegte. Und dessen mediale Aufbereitung uns vermutlich etwas überforderte.

Als im September 2009 Patrick Swayze starb, erfuhr ich die Nachricht beim Fernsehen im Newsticker – und erinnerte mein Bedauern. Swayzes Krankheit war zuvor in den Medien oft Thema gewesen. Sein einst scheinbar vertrautes Gesicht dem eines vom Krebs gezeichneten Mannes gewichen. Und als ich mich tags darauf bei Facebook tummelte, setzte ich zum ersten Mal die Buchstaben RIP – Rest in Peace in meine Statusmeldung, um meiner Anteilnahme Ausdruck zu verleihen.

Sterben 2.0: Remembering Whitney – soziales Vermissen. Foto: Screenshot

Heuchler, Spießer, Besserwisser
Ich weiß nicht, wie viele Menschen an jenem Septembertag 2009 sinnlos ihr Leben verloren haben. Opfer von Unfällen, Hunger, Gewalt oder Willkür wurden. Genauso wenig weiß ich das über jenen Oktobertag im Jahr 1991. Was ich aber ziemlich sicher weiß ist: Die Anzahl der Facebook-Postings, in denen Menschen sich im Netz an Swayze erinnern, vermag daran nichts zu ändern.

Soziale Netzwerke wie Facebook haben unsere Kommunikation verändert. Einige Aspekte daran sind positiv, andere negativ: Die Diskussion ist hinlänglich bekannt, sie wird sich weiter entwickeln und verändern – und das ist auch sinnvoll. Aber der Spaß hört natürlich sofort auf, wenn der Tod ins Spiel kommt, und wird durch eine Verbissenheit und moraline Entrüstung ersetzt, die ich scheinheilig finde.

Worum geht es eigentlich?
Ausgangspunkt ist der Tod eines Prominenten. Es folgt die mediale Verbreitung dieser Neuigkeit durch klassische Medien sowie User von sozialen Netzwerken: Nachrufe im Feuilleton – wie gerade bei Whitney Houston –, Verlinkung von Videos, Fotos und Archivartikeln, persönliche Erinnerungen an Erlebnisse rund um sowie mehr oder weniger mit dem Prominenten, Beileidsbekundungen auf dessen Facebook-Wall.

Dann setzt auch schon die Gegenbewegung ein. Angeführt häufig von Usern, die dem verblichenen Promi nichts abgewinnen können – weshalb die Hysterie um seinen Tod natürlich voll peinlich ist. Weitergetrieben von denen, die sowieso alles schlecht finden, was in sozialen Netzwerken passiert (warum sie sich hier dennoch tummeln, bleibt auf ewig ihr Geheimnis). Schließlich schwingt die Keule der Moralapostel über all jene hinweg, die ins kollektive Klagen eingefallen sind, denn: In Afrika hungern Kinder. Unbestreitbare Tatsache. Schreckliche Tatsache. Tatsache, mit der wir alle uns viel zu wenig auseinandersetzen. Es aber genau hier genau so zu tun – ist schlicht Bigotterie.

Leben und sterben lassen
Ich bin gegen Massenhysterie. Neige nicht zur blinden Bewunderung. Halte nichts von Star-Rummel. Und mit kollektivem Irgendwas kann ich wenig anfangen. Ich trauere nicht um Whitney Houston, weil sie mich zu Lebzeiten nicht interessiert hat – trotzdem lässt mich die Nachricht über einen solchen Tod nicht kalt. Es hat seit Roy Black natürlich ungezählte prominente Todesfälle gegeben. Mit einigen habe ich mich auseinandergesetzt, indem ich darüber geschrieben habe (Robert Enke). Viele sind mir kaum im Bewusstsein haften geblieben (äh…). Wieder andere habe ich auf Facebook geteilt (Gil Scott-Heron). Und dann gibt es noch solche, bei denen mir meine Tränen heute ein bisschen peinlich sind (sorry, Roy).

Sich aus einer Art Reflex heraus zum Tode jedes Prominenten zu äußern ist mir fremd, ich empfinde es aber als anmaßend, das bei anderen zu verurteilen. Weil ich den Schaden nicht erkenne, der dabei entstehen soll – und anderen wiederum fremd sein mag, was ich im Netzwerk teile. Womit wir bei der Frage wären, was genau eigentlich die aufgeregten Moralapostel tun oder posten, wodurch es den hungernden Kindern in Afrika besser geht? Den gewaltsam Unterdrückten in Syrien? Den sozial Benachteiligten vor ihrer eigenen Haustür?

Inwiefern unterscheidet sich ihr Belehrungs-Reflex vom Beileids-Reflex derer, über die sie sich erheben? Anders gefragt, macht es uns etwa zu besseren Menschen, den Tod Einzelner, wenn sie denn bekannt sind, grundsätzlich an uns abprallen zu lassen? Und steht nicht jeder prominente Todesfall, der uns berührt, letztlich im Kontext zu unserem eigenen Leben, unseren Gefühlen – was ist so schlimm daran, denen hier Ausdruck zu verleihen? Ist es nicht vielmehr naiv zu glauben, ausgerechnet der Tod, mit dessen Umgang wir als Einzelne ebenso wie als Gesellschaft oft derart ringen, werde in den sozialen Netzwerken auf wundersame Weise nicht stattfinden?

Dass dabei danebengehauen, übertrieben und sich gegenseitig auf die Nerven gegangen wird, sind keine Alleinstellungsmerkmale. Ich habe auch nicht das Bedürfnis, täglich darauf hingewiesen zu werden, wer welche Farmville-Kuh sucht. Wer andersherum keinesfalls mit Spieleanfragen belästigt werden möchte. Die neuen Umfragewerte der Hornochsen-Partei zum Wiehern findet. Oder ein spuckhässliches Kind bekommen hat. Der Charme der sozialen Netzwerke und ihre Penetranz liegen ganz nah beieinander: Wie bei so vielen Dingen im Leben. Die meisten davon verschwinden nur leider nicht vorübergehen, wenn ich den Rechner abschalte. Vorteil Facebook. RIP, Whitney.

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Montag, 30. Januar 2012

Chantale, du Arschloch

Lohnt immer – der Duden! (Foto: Verlag)
Es gibt ja Phänomene, denen man eine ganze Weile aus dem Weg gehen kann – nur, um irgendwann mit Wucht von ihnen eingeholt zu werden. So ging es mir mit dem Thema böse, Vorurteile schürende Vornamen, hierzulande hinlänglich unter den wunderbaren Begriffen Chantalismus oder Kevinismus bekannt.

Eine erste Begegnung gab es zwar schon vor einigen Jahren, als ich im Bus eine junge Mutter, umringt von ihren drei kleinen Kindern, bei der Ausübung dessen beobachten konnte, was sie vermutlich für Erziehung hielt. Dabei fielen überraschend häufig das Wort „Arschloch“ und die Wortkette „Chantale, du Arschloch“ – am Ende fing sich Chantale ein paar Backpfeifen für: ich habe den Grund vergessen. Und ich mir selbige bei der Wiedergabe der Geschichte, verbal, als gar nicht so stumme Anklage dafür, nicht eingegriffen sondern nur entsetzt geglotzt zu haben.

Zwischen den Jahren dann, Indoor-Spielplatz mit einem der beiden Lieblingsneffen. Man hält das ja immer für Klischees, dass alle schlechterzogenen Kinder mit Rotznase und Müttern, die in zu engen Leggings rauchend an ihren Telefonen rumspielen, während der Stepkke über ein aufgeschlagenes Knie heult, wirklich so heißen… Ist es aber nicht, denn an diesem Hort des Grauens fliegen ausschließlich Namen durch die Luft, für die man die Eltern verklagen wollen würde. Mein nie-gehört-Favorit: Ludvina. Mit Schwesterchen Cheyline – für Rechtschreibung keine Gewähr.

Und jetzt das, auf Facebook kursiert seit Tagen der Link zu einer Seite, auf der Geburtsanzeigen von Kindern gesammelt werden, deren Eltern offenbar unter dem Einfluss vielfältiger Drogen standen oder schwer genuschelt haben, als sie die Namen ihrer Sprösslinge zu Protokoll gaben. Denn wie anders lässt sich erklären, dass mindestens ein bis zwei erwachsene Menschen der Meinung sind, ein Kind namens Alina Cataleya käme ohne schwere psychische Beeinträchtigungen durchs Leben?

Wissen wiederum die Eltern von Norma-Jean, welche Fußstapfen sie ihrer Kleinen (ich gehe doch mal davon aus, es handelt sich um ein Mädchen…) unter die Treter gestanzt haben? Und wie lange Brüderchen Joel Maurice wohl brauchen wird, bis er in der Lage ist, seinen Namen zu schreiben? Was mich wiederum zu einem nicht unerheblichen Teilaspekt dieser Amok-Namensgebung bringt: Denkt denn niemand an die Lehrerinnen und Erzieher unseres Landes, die sich bei sagen wir 25 Kinder in einer Kita-Gruppe oder Schulklasse plötzlich mindestens das doppelte an Namen merken müssen? Weil Jermain Jeturo Maddox vielleicht darauf besteht, mit vollem Namen angesprochen zu werden?

Außerdem, was passiert mit Summer Indira Soraya, wenn sie später mal ihren Nachnamen behalten und den ihres Mannes annehmen möchte und hinter das formschöne Vornamen-Trio auch noch einen Doppel-Nachnamen stellen muss? Und wie schafft es die Mama der Klassenkameradin von Tyra Summer sich unfallfrei nach dem Wohlergehen von deren Geschwistern Kylie Angel und Amon Thor zu erkundigen?

Da mutet es doch beinahe wie ein Treppenwitz der Namensgebungsgeschichte an, dass eine Studentin kürzlich im Zuge ihrer Abschlussarbeit herausgefunden hat, Hunde hören heutzutage immer häufiger auf Menschennamen: Es steht also zu vermuten, dass Nick-Raven von Eifersucht über so viel Normalität geplagt werden wird, wenn er auf den Familienhund Ben trifft.

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Donnerstag, 24. November 2011

Das Tor zur Hölle

„Auch ein Suizid ist gedeckt durch die nicht hinterfragbare Autonomie des Menschen. Es geht uns nichts an, außer es fragt uns einer“ – so hat ein guter Bekannter von mir auf den versuchten Selbstmord des Schiedsrichters Babak Rafati reagiert. Als ich ein junges Mädchen war, haben sich die Väter gleich mehrerer meiner Schulfreundinnen das Leben genommen. Damals hätte ich die Sache mit der Autonomie so wohl nicht unterschrieben: Mein wildes Teenagerherz war voller Wut auf das Handeln dieser Männer, weil ich fand, sie hätten an ihre Familien denken müssen. Nur – wer sagt denn, dass sie das nicht getan haben? Es aber keine Unterschied machte, machen konnte?

Manchmal wäre Schweigen heilsam. (Montage: WP)

„Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst,
was weisst Du von den Schmerzen, die in mir sind
und was weiss ich von den Deinen?
Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde
und weinen und erzählen,
was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle,
wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiss und fürchterlich?
Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig,
so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle.“


So schreibt Franz Kafka im November 1903 an den Freund Oskar Pollak. Nach Rafatis versuchtem Suizid am Samstag schießen die Spekulationen munter ins Kraut – und jeder findet scheinbar sein Schlupfloch, um sich anzuschließen. Sei es DFB-Präsident Theo Zwanziger, der zwar darum bittet, keine Details nennen zu müssen vom Ort des Geschehens, sie aber dann doch ebenso ungefragt wie bereitwillig zur Verfügung stellt (und dazu gleich einen ersten mögliche Beweggrund: Druck).

Seien es diverse Sportsendungen, deren Moderatoren betonen, man schließe sich dem allgemeinen Spekulatius nicht an – worauf Beiträge folgen, in denen stattdessen eben Weggefährten Rafatis und Fußballfans genau das tun: spekulieren. Seien es Medien allgemein – die mit den großen Buchstaben auf den Titeln augenscheinlicher als die anderen – oder seien es sportliche Amts- und Würdenträger, die – ohne Hintergründe zu kennen – vollmundig verkünden, persönliche Schlüsse ziehen zu wollen aus dem Vorfall. Und ganz abgesehen vom Sinn und Unsinn dieser Beteuerungen: Wer sich erinnert an die Wallungen, die nach Robert Enkes Selbstmord vor zwei Jahren durch die Liga gingen, vermutet in derlei Aussagen ohnehin nichts als reflexhafte Lippenbekenntnisse.

„Was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind? Und was weiß ich von deinen?“ Mehr noch: Was soll man davon wissen? So stellte Georg Fiedler, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS), denn auch die Frage, „ob uns das überhaupt etwas angeht?“. In ihrer Medienempfehlung zur Berichterstattung über Suizide schreibt die DGS:

In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, z.B.:
• einen Suizid auf der Titelseite oder als „TOP-News“ erscheinen zu lassen oder als besonders „spektakulär“ hervorzuheben
• ein Foto der betreffenden Person (besonders auf der Titelseite) zu präsentieren und Abschiedsbriefe zu veröffentlichen
• den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen, bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe „in den Suizid getrieben“
• den Suizid romantisierend oder idealisierend darzustellen
• die Suizidmethode und den Ort detailliert zu beschreiben oder abzubilden
• Hinweise auf „Suizdforen“ im Internet, oder Webseiten, die den Suizid propagieren, geben


Hintergrund ist unter anderem, so schreibt die DGS auf ihrer Homepage, dass „die Mehrheit der Menschen, die einen Suizid erwägen, (…) diesem Entschluss gegenüber ambivalent“ sind; sich also in einer Situation befinden, in der so ziemlich alles, auch ein Bericht in den Medien, Impulsgeber für oder gegen den eigenen Selbstmord sein kann.

Nun lässt sich im Falle Rafatis neben dem Faktor Person des öffentlichen Lebens trefflich argumentieren, wer in einer Situation versucht, sich umzubringen, in der vollkommen klar ist, die Medien sind nur einen Steinwurf entfernt, muss doch auch die Konsequenzen abkönnen. Aber ist nicht ebenso zutreffend, dass manchmal gerade der eines besonderen Schutzes bedarf, der sich dessen selbst scheinbar gar nicht mehr bewusst ist? Anders gefragt, woher kommt es, dass Theo Zwanziger in der Pressekonferenz offenbar nichts dabei findet, Art und Ort des Selbstmords eben doch klarzumachen? Was treibt ein Boulevardblatt dazu, den Namen des Hotels zu nennen, in dem sich der Vorfall ereignet hat? Und später den des Krankenhauses, in dem der Schiri liegt? Wieso gibt es Menschen, die lesen wollen, was Rafatis Vater zum Selbstmordversuch seines Sohnes zu sagen hat (und wieso gibt der wiederum Antworten – aber das steht auf einem ganz anderen Blatt…)?

Und all diese Fragen betreffen ja bei Weitem nicht nur die Medien, sie betreffen unsere Gesellschaft – und damit jeden Einzelnen von uns. Als Kinder lernen wir in der Sesamstraße, Wer nicht fragt bleibt dumm, doch im Erwachsenwerden gesellt sich zu diesem Reim irgendwann die Erkenntnis, dass es Situationen gibt, in denen unsere Fragen fehl am Platz sind, in denen wir kein Recht haben auf eine Antwort, sondern Dinge auf sich beruhen und Menschen in Ruhe lassen sollten.

Worum es bei all dem übrigens nicht geht, ist, Sympathie vorzuheucheln, die nicht da ist: Wer in den letzten Jahren als Fußballfan entnervt geschnaubt hat bei der Ankündigung, sein Team werde in der folgenden Partie von Babak Rafati gepfiffen, muss nicht plötzlich so tun, als habe er schon immer ein Herz gehabt für den Referee. Respekt braucht keine Sympathie. Er ist sich selbst genug. Und äußert sich in diesem Fall am besten darin, den Mann einfach in Ruhe zu lassen.

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Mittwoch, 9. November 2011

Konzertbesucher: Eine Typologie

Bei Konzertbesuchen kann man sich eigentlich gar nicht in die Nesseln setzen: Mit etwas Glück ist die Musik gut und man genießt einen schönen, vielleicht sogar besonderen Abend. Ist der Bühnenauftritt des Künstlers wenig anregend, kann man sich die Zeit nebenher damit vertreiben, seine Umgebung zu beobachten. Über die Jahre trifft man so, in ihrer genauen Ausprägung und Anzahl abhängig vom jeweiligen Künstler und dessen Musik, auf die immer gleichen Gesichter. Eine Typologie.

Thank you for the Music, Wilco! (Foto: WP)

Vorband-Ausraster
Für mich sind Vorbands selbst dann eine Qual, wenn ich am Ende des Konzertabends bekennen muss, dass ihr Auftritt besser war als der des Hauptacts. Und es ist mir egal, ob einige große Künstler als Warm-Up für heute längst vergessene Musiker angefangen haben; da bin ich Egoist. Daneben bin ich aber ein höflicher Mensch und klatsche deshalb freundlich, wenn die Vorgruppe einen Song beendet. Vom höflichen Klatschen hat der Vorband-Ausraster noch nie gehört. Er ist schon beim Betreten der Konzerthalle dermaßen euphorisiert, dass auch eine strickende Oma oder ein Seifenblasen pustender Junge auf der Bühne genügen würden, um ihn zu Jubelstürmen zu animieren. Vollkommen ekstatisch beklatscht, bejohlt und behüpft er ab dem Moment, in dem das erste Scheinwerferlicht den Raum erhellt, bis zum Ende des Abends jede Bewegung auf der Bühne. Das ist ein bisschen unheimlich – und sorgt schlimmstenfalls dafür, dass die Vorband eine Zugabe gibt.

Balkon-Bitches (BB)
Es muss wohl mindestens einen mir unbekannten Film geben, in dem der Bühnenstar am Ende des Abends ins Publikum deutet. Das Scheinwerferlicht folgt seinem zitternden Finger und verharrt auf einer jungen Frau in der Menge, flackert neckisch auf ihrem tiefen Dekolletee und der Künstler gesteht ihr vor allen seine Liebe – oder deutet zumindest an, sie dürfe nachher in seinem Hotelzimmer vorbeikommen. Nur so erklärt sich die Hoffnung derer, die sich – in aller Regel auf der Empore oder Galerie des Konzertsaals – am Geländer drapieren. Alleine, in engen, kurzen Kleidchen, die mehr enthüllen als sie erahnen lassen, hängen die BBs gen Bühne, schmachten, schütteln ihr Haar, lassen die Brüste wogen – und man möchte ihnen zurufen: Mal von der Bühne aus in einen Scheinwerfer geglotzt? Für den Typ da unten bist du nichts als ein Lichtklecks. Doch man schweigt. Höflich.

Plakat-Hochhalter
Nichts gegen ein hübsch gestaltetes Plakat – und es ist mir prinzipiell ja auch egal, von wem meine Banknachbarin ein Kind haben möchte. Aber ob die Werbung den Adressaten tatsächlich erreicht – siehe BBs und die Sache mit dem Scheinwerferlicht…

Getränke-Verschütter
Mir persönlich eine besondere Freude sind Gruppen von sagen wir zehn, zwölf Konzertbesuchern, die sich Stunden vorm musikalischen Anstoß ein gemeinsames Plätzchen suchen – und dann im Zehnminuten-Takt einen aus der Gruppe für alle zum Bierholen schicken. Da selten eine ausgelernte Oktoberfest-Fachkraft darunter ist, kommen von den georderten zwölf Bieren in der Regel etwa die Hälfte halbleer an, der Rest klebt auf Blusen und im Haupthaar der Umstehenden. Das ist umso witziger, wenn der unerwartete Schwall von vorne, hinten oder oben noch mit einem kichernden, „hups, sorry, hattest du heute schon geduscht?“ begleitet wird.

Sitzplatz-Steher
Man kann zu einem Thema ja bekanntlich mindestens zwei Meinungen haben – auch als eine Person. Sprich, wenn zwei dasselbe sagen ist es noch lange nicht das gleiche und ich bin beispielsweise der Meinung, wenn es das Spiel verlangt, ist im Fußballstadion zumindest vorübergehend jeder Sitz- ein Stehplatz. Aber das ist ja auch eine 14-tägig wiederkehrende Veranstaltung, bei der man irgendwann die Nachbarn kennt. Was Konzertsäle angeht, steckt aber doch ein verdammtes Konzept dahinter, dass Veranstalter neben Stehkarten auch solche für Sitzplätze verkaufen, die in der Regel zudem teurer sind. Denen möchte ja niemand untersagen, zwischendurch für einen Song aufzustehen oder bei der schlussendlichen Zugabe zu hüpfen. Aber wenn jemand direkt beim ersten Lied aufspringt, den Rest des Konzertes seinen Platz nie wieder einnimmt und auf höfliche Bitten der Konzertbesucher hinter sich mit Beschimpfungen dahingehend reagiert, sie sollten sich um einen Platz im Altenheim bewerben – dann kann es sich nur um ein Sitzplatz-Steher handeln.

Geschichtsschreiber
Kein Abend ist so langweilig, als dass es sich nicht lohnt, ihn mindestens achtzigfach abzulichten, zu kommentieren und weiterzuverbreiten. Was den Konzertbesuchern vor 30 Jahren die Wunderkerze, ist heute die Beleuchtung im Handydisplay. Richtig dunkel ist es eigentlich nie im Saal, weil die Generation iPhoneAndroidNokia auch in der Masse nicht alleine sein kann, und erst Ruhe gibt, wenn der letzte Ersatzakku gestorben ist.

Zwangsbegleiter
Zu erkennen am gequälten Gesichtsausdruck. Können den Künstler nicht leiden, haben die Karten aber von der Schwester ihrer Frau zum 12. Hochzeitstag geschenkt bekommen – war natürlich ein Tipp der werten Gattin. Haben aber vor Jahren mal behauptet, Caught in the Act auch toll zu finden und kommen aus der Nummer deswegen nicht mehr raus. Trinken aus Frust so viel, dass sie am Ende des Abends neben ihrer euphorisierten Gattin sofort schnarchend einschlafen.

Vorspielbegleiter
Zu erkennen an ihrem seligen Grinsen. Haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Caught in the Act grauenvoll finden und sind trotzdem mitgekommen – ihrer Gattin zuliebe. Der haben sie die Karten zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Trinken in Maßen, damit sie am Ende des Abends keinesfalls einschlafen, wenn sie neben ihrer euphorisierten Liebsten auf die Matratze sinken...

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Mittwoch, 12. Oktober 2011

Stillgestanden, Finger aus der Nase!

Der Mensch an sich ist ja ein Gewohnheitstier, und genau daher resultiert wohl auch die Annahme, man gewöhne sich letztlich an alles – ist aber nicht so. Und ich habe dafür auch ein Beispiel parat, etwas also, woran ich mich nicht gewöhnen kann und werde, vielleicht auch gar nicht will, nicht in 100 Jahren, obwohl es womöglich besser wäre für meinen Blutdruck: Mitbürger mit allgemeinem Erziehungsauftrag.

Der geneigte Leser wird sich jetzt vielleicht fragen, was soll denn das sein – keine Sorge: Ich erkläre es. Mitbürger mit allgemeinem Erziehungsauftrag sind all jene, die in der festen Überzeugung leben, sie hätten jedem Hans & Hänschen, das ihren Weg kreuzt, etwas zu sagen. Natürlich immer zum Wohle der Allgemeinheit und aus zwei festen Überzeugungen heraus, die da lauten: Bei dem, was die meisten Eltern an Erziehungsarbeit leisten, muss nachgebessert werden. Und: Sie wissen eben alles besser und kennen jede Regel, da ist es doch nur gut und richtig, das zu teilen.

No trespassing or you'll be reportet. Wait for it! (Foto: Marieke Stern)

Beispiele gefällig?

Wiesbaden Innenstadt am Wochenende. Zwei Kinder, vielleicht sieben und zehn, stehen auf dem Bürgersteig und genießen bei herrlichem Spätsommerwetter ihr Eis, der jüngere der beiden popelt dabei mit einem Finger der freien Hand hingebungsvoll in der Nase. Da nähert sich eine ältere Dame, greift dem Bub an den Arm und herrscht ihn an: „In der Nase bohren gehört sich nicht.“ Dem Kind fällt vor Schreck fast das Eis aus der Hand, die Alte hingegen ist von ihrer kleinen Intervention derart angetan, dass ihr offenbar die rote Fußgängerampel nicht bewusst ist, als sie anschließend ungerührt über die Straße tapert.

Mainz Innenstadt, Römerpassage, kurz vor Schließung. Ein Jugendlicher flitzt mit seinem Rad auf die Passage zu, in der ein Mann mittleren Alters die Auslagen der Schaufenster der bereits geschlossenen Läden betrachtet. Moment, denkt der sich wohl, hier drin sind Fahrräder verboten. Als der Radler auf seinem Gefährt in die Passage kommt, setzt der Mann zum Hechtsprung an, brüllt: „Absteigen!“ Der junge Mann latscht auf die Bremse, fliegt vom Drahtesel und wird mit den Worten bedacht: „Sowas kommt davon, wenn man sich nicht an die Regeln hält.“

Besonders schlimm sind die erziehenden Zeitgenossen (denen ja niemand abspricht, dass sie hin und wieder inhaltlich halbwegs richtig liegen – was aber derlei Einmischungen nicht rechtfertigt) im Straßenverkehr. Mein persönlicher Leidenshöhepunkt in dieser Hinsicht wird dadurch erreicht, dass mein Pkw-Stellplatz von der angrenzenden Fahrbahn durch eine Busspur getrennt ist – die also von den Anwohnern gekreuzt werden muss, daran führt kein Weg vorbei.

Leider wird eben jene Busspur von anderen Autofahrern auch gerne als Abkürzung genutzt, was selbstverständlich die Mitbürger mit Erziehungsauftrag auf die Palme bringt. In der Folge sind mir, wenn ich versuche, hier auf die Straße zu fahren, schon „wunderbare Dinge“ passiert: vom wütenden Hupen über den geschwenkten Bockfinger hin zu ganz findigen Zeitgenossen, die mit ihrem Wagen kurzzeitig meinen Fahrweg blockieren – alles nur, weil ich aus meiner Einfahrt will.

Man möchte wütend werden im Angesicht solcher Menschen, zurückbrüllen, sie schütteln, zur Räson bringen. Aber das wäre der falsche Weg, denn derlei Erziehungseifer kann eigentlich nur daher rühren, dass sie bis hierher in ihrem Leben schon zu viel geschüttelt wurden. Besser wäre es also vielleicht, ihnen Schokolade zu schenken. Oder einfach ein Lächeln. Aber nur ganz zart, nicht dass sie ob der ihnen unbekannten Mimik erschrecken und über die nächste rote Ampel flüchten…

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Freitag, 12. August 2011

Fremdschämen für Fortgeschrittene

Bei uns Zuhause hieß das früher „Mithörer-Lautstärke“ – Menschen, die so laut sprechen, dass alle Umsitzenden, -stehenden und -liegenden unfreiwillig an Unterhaltungen teilhaben, die sie nichts angehen; und sie im Zweifel auch nicht interessieren. Verwandt sind die „Mithörer-Lautstärke-Sprecher“ mit den „Ihre-Umgebung-Vergessern“, Zeitgenossen also, die in scheinbar abgetrennten, aber akustisch offenen Räumen nach dem Motto kommunizieren: Was ich nicht sehe, existiert nicht. Ebenfalls zur Familie gehören die „Schrei-Flüsterer“ – Personen, die sich zwar grundsätzlich um ein Mindestmaß an Diskretion bemühen, denen aber offenbar die eigenen Stimmbänder oder eine völlige Fehleinschätzung von Lautstärke einen Strich durch die Rechnung machen. Allen Dreien gemein ist, dass sie ihr Umfeld stärker an ihrem Leben und Denken teilhaben lassen, als es diesem in der Regel lieb ist und damit Reaktionen irgendwo zwischen Belustigung und akutem Fremdschämen provozieren.

Manches hört man auch, ohne darauf zu achten. (Foto: Marieke Stern)
Letzteres gilt speziell für die „Ihre-Umgebung-Vergesser“, die an Orten wie öffentlichen Toiletten oder in jedem anderen Kabinen-Umfeld anzutreffen sind: Schwimmbad, Kaufhaus, Physiotherapie. Während die Unterhaltung mit der besten Freundin von Schwimmbadkabine zu Schwimmbadkabine meist inhaltlich ohne Aufreger ist, sieht die Sache in der vermeintlichen Vertrautheit einer Behandlungskabine beim Physiotherapeuten schon anders aus. Geschenkt die Frage, warum Menschen in dieser Situation überhaupt ihre Seele sperrangelweit aufreißen und Privates bereitwillig preis geben – vielleicht verwechselt der eine oder andere Physio- mit Psychotherapeuten oder reagiert einfach auf Berührung mit Kommunikation. Aber wie soll ich mich unterm Rotlicht entspannen, wenn die Dame in der Nebenkabine lautstark über ihre sexuelle Unausgeglichenheit philosophiert und abschließend bemerkt: „Mein Mann sagt ja, ihn stört’s, dass ich mich net rasier, aber des ist mir zu blöd.“

Die „Mithörer-Lautstärke-Sprecher“ sind immer und überall unter uns und teilen sich weiter auf in jene, die gehört werden wollen und solche, denen es egal ist, ob sie gehört werden oder nicht. Derzeit ist die erste Spezies wieder auf Sommerfesten aller Art, öffentlichen Plätzen und im Straßencafé um die Ecke anzutreffen, wo sie ihrer geduldig lauschenden Begleitung Geschichten darüber am Ohr vorbei trompetet, wie großartig sie ist. Was sie Tolles leistet. Und dabei gerne die Unterbelichtung anderer Menschen einbezieht, zum Beispiel, „diese unfähige Kellnerin, die keinen Kaffee ohne Geschlabber an einen Tisch bringt“. Worauf sie – und das ist ihre unangenehmste Eigenschaft – beifallheischend den Sitznachbarn zunickt und auf deren Bestätigung wartet. Klassiker im Falle der zweiten Spezies sind Streitgespräche am Handy, gerne in Bus und Bahn, die häufig auf den Satz enden: „Ich schreie üüü-ber-haupt-nicht.“

Ein wenig vom Pech verfolgt sind die „Schrei-Flüsterer“, deren eigene Ungeschicklichkeit häufig von einer guten Portion Pech begleitet ist. Sei es an der Kasse im Supermarkt, wo sie ihrem Liebsten mit viel zu viel Druck auf den Stimmbändern mitteilen, „das vorhin am Weinregal war doch die Kollegin, die so stinkt“ – wobei nicht nur die Kassiererin neugierig ihren Blick hebt, sondern besagte Kollegin mittlerweile garantiert in Hörweite steht. Oder wie kürzlich beim Friseur, als sich eine Kundin schrei-flüsternd mit ihrer Stylistin darüber unterhielt, wie unmöglich viele der Salon-Kolleginnen frisiert seien. „Das ist doch komisch, wenn ausgerechnet ein Friseur mit so Kraut auf dem Kopf rumläuft“, wundert sich die Dame unterm Lärmen des Föns nicht annähernd so diskret, wie sie glaubt. Richtig peinlich wird es, als dessen Gebläse plötzlich für die Kundin unvermutet abbricht, mitten in ihren Vergleich: „Das ist ja wie eine Klofrau, die immer nebendran scheißt.“ Fremdschämen deluxe.

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Dienstag, 5. April 2011

Szymon Etminowicz

„Teilen Sie sich das Auto mit einem Kollegen, der nachts arbeitet?“, fragt Janna, weniger aus echtem Interesse denn aus Reflex – und um ein wenig von der Zeit herumzubringen, die sie bis zum Flughafen aushalten muss. Der Fahrer schüttelt bedächtig den Kopf. „Nein“, antwortet er, „das ist mein Wagen“. Er spricht mit unverkennbarem Zungenschlag, „Osten“, denkt Janna. Aber nicht die harte Tonalität, in der Russen die deutsche Sprache anwenden; auch nicht das vollmundige Kauderwelsch der Menschen aus der Balkanregion.

„Früher habe ich auch nachts gearbeitet“, erzählt der großgewachsene Mann mit den undenkbar langen Armen und Beinen, von denen Janna sich fragt, wie er sie unter sein Lenkrad bekommen hat. „Als ich noch ein junger Mann war.“ Dazu lächelt er – und das wirkt sehnsüchtig.


Polen, denkt Janna, kein Zweifel.


„Im Taxi?“, erkundigt sie sich, mehr höflich als neugierig, was er registriert, ohne dass es ihn zu stören scheint. Vier Tage hat sie in Bonn verbracht, dieser gefühlten Anti-Stadt, über die sie kürzlich im Radio gehört hat, sie sei die Flirtmetropole der Republik. Und läge im europäischen Vergleich angeblich sogar vor Paris – ausgerechnet Bonn, ein Ort, dem Janna als eines von drei Attributen ohne Zögern „unsexy“ anheften würde.

„Beim polnischen Staatszirkus“, sagt der Taxifahrer, unaufdringlich, aber nicht ohne Stolz – und mit einem Lächeln, das wenig verklärt, wohl aber Nostalgie zulässt, begegnet er Jannas verwirrtem Blick im Rückspiegel. „Da habe ich gearbeitet“, setzt er nach. „Als Artist.“ Sanft spült die Stimme des Mannes die Worte ins warme Innere des eierschalfarbenen Fahrzeugs mit den fellbezogenen Sitzen. „Ach was“, murmelt Janna überrascht. Selbst keine regelmäßige Zirkusgängerin scheint es, als fehle ihr eine Art natürlicher Reaktion, um an die unerwartete Erklärung des Fahrers anzuknüpfen.

Draußen fällt heftiger Regen. Mit sanftem Schmatzen zerschellen die Tropfen, vom Wind getrieben, an den Seitenfenstern des Mercedes, bevor sie als feuchte kleine Flundern auf der Scheibe nach hinten weggetrieben werden – und schließlich den Absprung in den dunkler werdenden Abend wagen. Bonn, denkt Janna, begrüßt und verabschiedet mich immer mit Regen. „Was haben sie denn da gemacht?“, erkundigt sie sich schließlich, ein Zögern darüber in der Stimme, nicht zu wissen, wie selbsterklärend das Wort Artist sein müsste.

„Reck“, erwidert der Mann mit den silberfarbenen Haaren; dabei sucht er im Rückspiegel erneut ihren Blick; für einen Moment ist Janna nicht sicher, ob und wie die Unterhaltung von hier an weitergehen wird – doch sein Luftholen klingt mehr nach einer Pause denn einem Ende. „Wir waren zu dritt“, fährt der langbeinige Fahrer denn nun auch so ungelenk fort, wie sein Laufwerkzeug unter dem Lenkrad klemmt. „Und haben alle überlebt. Das war selten.“ Dabei streift er sich mit dem Handrücken schubsend über die eigene Wange, „und immer ging es vom Reck auf den Mann auf das Reck“.

Es muss beinahe schon Jahrzehnte her sein, dass ich zuletzt im Zirkus war, überlegt Janna. Und obwohl sie sich unter der erleuchteten Kuppel nie wirklich wohl gefühlt hat, rieselt ein warmer Schwall von Erinnerungen auf sie herab. Das große, bunte Zelt in gelb und blau. Die Sägespäne auf dem Boden, auf dem stark geschminkte Schaustellerinnen noch kurz vor Beginn der Veranstaltung ihre Babys in den Schlaf wiegen oder dem Publikum Zuckerwatte verkaufen. Der Geruch von Tieren, die am Nachmittag einen Guss Regen abbekommen haben, gemischt mit dem verbotenen Angstschweiß der Dompteure.

Janna sucht die Begegnung seiner Augen im Rückspiegel des Taxis, doch der Blick des Fahrers schweift über die Kreuzung, die vom Feierabendverkehr verstopft vor ihnen liegt. „Das Reck“, so erklärt er, mehr zu sich selbst als zu Janna, „ist hoch genug für die Gefahr – beinahe drei Meter – aber nicht hoch genug für ein Sicherheitsnetz, wie das Trapez“. Nun ist er es, der unter den dichten, grauen Wimpern suchend in den Rückspiegel schaut, und endlich beantworten Jannas Augen seinen nun wieder wachen Blick. „Wo sollte man das spannen?“, fragt er; es klingt beinahe anklagend. „Darüber“, gesteht Janna, „habe ich noch nie nachgedacht“ – und sie stellt fest, dass ihre Stimme ein wenig schuldbewusst klingt.

„Sind Sie in eine Zirkusfamilie geboren?“, fragt Janna, das Bild des kleinen Jungen vor Augen, der nicht anders kann, den seine Eltern in unverbiegbarer Liebe von Zeltplatz zu Zeltplatz schleifen – und der Schulunterricht im Wohnwagen bekommt. Wo er auch den ersten Briefwahlzettel seiner Karriere ausfüllt und entjungfert wird; wo jedes prägende Erlebnis seiner Existenz stattfindet.

„Mein Vater war beim Zirkus, ja“, erklärt der Taxifahrer, so höflich wie distanziert. „Am Reck, mit meinem Onkel, der während der Vorstellung abgestürzt ist.“ Fast klingt diese Feststellung vorwurfsvoll, so dass Janna bemüht ist zu sagen, „ich gehe nicht in den Zirkus; mir tun die Tiere leid, hinter deren Gesäßbacken die Peitsche knallt. Und ich fühle mit den Clowns, über die das stupide Publikum hämisch lacht.“  Doch es ist nicht seine Beziehung zum Zirkus, sondern der Verlust über ein atmendes, warmes Leben, der den Fahrer auf Distanz gehen lässt zu seiner eigenen Geschichte und dem, was er bereit ist, darüber zu erzählen. „Er ist gestorben, anschließend“, – seine Stimme ist nunmehr ein Flüstern. „Und mein Vater wollte nicht, dass ich ihnen beiden ans Reck folge.“

Was er doch tat, als Junge von gerade dreizehn Jahren. „Es gibt nichts Schöneres als das Reck“, sagt er, während die Distanz aus seiner Stimme schleicht. Mit deutlichem Zögern hakt Janna der Aussage nach: „Trotz der Geschichte mit ihrem Onkel?“ Der Taxifahrer weicht ihrem Blick nicht aus, als er erklärt: „Das Leben kommt, das Leben geht. Meines hat einmal ein Kollege gerettet, weil er mir im Sturz gegen den Kopf getreten hat. Da bin ich mit dem Popo, statt dem Kopf, gegen die Bande geflogen. Mein Onkel hatte weniger Glück – und am Ende einer Abendvorstellung das Genick gebrochen. Aber dafür ist niemals das Reck verantwortlich.“

„Das Leben kommt, das Leben geht“, stimmt Janna gedanklich zu, während Bilder der eben hinter sich gebrachten Beerdigung vor ihrem inneren Auge den Tango der Albernheiten aufführen. Es gibt Menschen, so stellt sie fest, deren Anwesenheit im eigenen Leben kaum einen Unterschied gemacht hat – dennoch reißt ihre Abwesenheit ein empfindliches Loch.

„Mein Onkel und ich, wir waren niemals nahe Seelen, nicht im Geiste verwandt“, erklärt der Fahrer des Taxis, als sie den Flughafen schließlich erreichen. Aber sein Unfall, so legen seine Worte nahe, hat dennoch eine Lücke gerissen für den damals noch jungen Mann, der weder mit Tod noch Verlust umzugehen wusste, und deswegen die Ängste des Vaters auszublenden vermochte angesichts der Entscheidung des Sohnes.

„Ich wurde – Artist. Ich konnte nicht anders“, erklärt der Mann mit den absurd langen Beinen. Und Janna umarmt ihn zum Abschied; ohne sich für die Tränen zu schämen, die sie an seinem Kragen weint.

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