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Donnerstag, 16. Januar 2014

Inside Llewyn Davis – Home Is Where The Music Is


Angelehnt ist die Geschichte des neuen Films der Coen Brüder an die posthum erschienene Autobiografie des Musikers Dave van Ronk. Eigentlich aber geht es „Inside Llewyn Davis“ nicht um die Geschichte einer einzelnen Person, das machen schon die ersten Bilder dieses Filmes klar. Ein Mikrofon ist da zu sehen, umspielt vom Bühnenlicht des „Gaslight Café“ in Greenwich Village, zart umtanzt vom Staub, der dort ansetzt, während jeden Abend mehr oder weniger erfolgreiche Künstler versuchen, bei ihren Auftritten irgendjemanden auf sich aufmerksam zu machen, der ihnen einen Vertrag geben wird, von dem sie künftig die Miete zahlen können. Um diese Musiker, mehr noch: eben ihre Musik geht es eigentlich; und auch das ist erst die halbe Wahrheit.

Music was my first love...
Besondere Glücksmomente hat das Leben für Llewyn Davis (grandios: Oscar Isaac) derzeit nicht im Programm. Der Musiker ist so abgebrannt, dass es ihm am Mindesten mangelt – einem Mantel gegen die winterliche Kälte und einem Dach über dem Kopf. Und so, wie er tagsüber zwischen Bar, Produzent und (an guten Tagen) dem Aufnahmestudio hin und her tingelt, macht er sich jeden Abend auf die Suche nach einer Couch, auf der er diese Nacht verbringen kann – und mit etwas Glück vielleicht noch eine zweite. Womit spielerisch das zweite große Thema des Films etabliert ist, denn er handelt auch davon, unterwegs zu sein, jedoch nicht freiwillig, sondern weil ein fester Ort fehlt, an den man zurückkehren kann.

Sein Partner, mit dem Llewyn einst die erste Platte einspielte, hat sich das Leben genommen, der Vater lebt im Pflegeheim und seine Schwester findet ihn und sein Künstlerdasein arrogant – spart aber ihrerseits nicht mit Arroganz gegenüber dem Bruder. Davis ist mindestens müde, eher ausgebrannt, er ist genervt und frustriert und im Leben völlig entwurzelt. All das aber gerät in Vergessenheit, wenn er zur Gitarre greift – da ist sie wieder, die Musik, die diesem Film ebenso Leben einhaucht wie seinem Hauptdarsteller. In der er von eben diesem Leben und all seinen Widrigkeiten erzählt, so berührend und intensiv, dass die Welt einen Moment lang inne hält, weil nichts anderes zählt.

Es mag sonst nichts geben, womit dieser Llewyn Davis sich im Leben sicher ist – von seiner Musik aber ist er vollkommen überzeugt. Man mag es als Kurzsichtigkeit oder gar Arroganz verurteilen, wenn er das Angebot von Musikproduzent Bud Grossmann (angelehnt an Albert Grossmann, herrlich unterkühlt gespielt von Fahrid Murray Abraham) ablehnt, als Teil eines Trios zu spielen, nachdem er diesen mit seinem Solovortrag nicht zu überzeugen vermochte. Man kann es aber auch mutig nennen und konsequent, weil er sich das, was ihm so unfassbar wichtig ist, nicht für Geld verbiegen lässt. Was ihn allerdings nicht davor schützen wird, in einer der nächsten Nächte auf fremden Sofas mit der traurigen Realität zu hadern, dass auch diese mutige Konsequenz ihm leider seine Miete nicht zahlt.

Mutig, konsequent, aber ohne Dach über dem Kopf.
Um vom Vorabend einer Zeit zu erzählen, in der Bob Dylan sich bald anschicken würde, die Folkmusik von eben jenem Greenwich Village aus auf ihre erfolgreiche Reise um die Welt zu schicken, picken sich Joel und Ethan Coen einen jener Musiker, die es nicht geschafft haben – und das ist ein Glück. Denn diese Zeit war voll von ihnen, so wie vermutlich jede Zeit voll ist von Künstlern, die es verdient hätten, entdeckt zu werden, aber eben nie „zur rechten Zeit am rechten Ort“ sind; was immer das auch heißen mag... Genau deren Geschichten sind es aber, die zu erzählen es wert ist, in all ihrer Menschlichkeit und Tragik, mit all dem Pech und den Schicksalsschlägen, kurzum – den Realitäten dieses Lebens. Und die Brüder tun dies mit viel Liebe zum Detail, nicht nur in Sachen Setting und Ausstattung, sondern auch bezüglich ihrer Figuren, von denen einige angelehnt sind an solche, die in dieser Zeit tatsächlich gelebt und eine Rolle gespielt haben. (Herausragend ist dabei unter anderem John Goodman in seiner Rolle als draufgeschickter Jazzsänger, mit dem sich Davis eine qualvolle Autofahrt lang den Wagen teilt und der sowohl durch Dr. John als auch Doc Pomus inspiriert wurde.)

Oberflächlich gesehen erzählt „Inside Llewyn Davis“ die Geschichte eines kontinuierlichen Scheiterns. Davis scheint bereits an einem Tiefpunkt angekommen, als der Zuschauer ihm begegnet, aber egal, wie sehr er sich im Folgenden abmüht, er scheint vom Pech verfolgt: Es läuft ihm einfach alles schief. Da ist zum einen Jean, verheiratet mit seinem Kumpel Jim und schwanger – vermutlich von Llewyn. Aus der vordergründig unangenehmen Situation, sich von ihr wüst beschimpfen zu lassen, erwächst das Problem, für den Eingriff zu bezahlen, bei dessen Vorgespräch er vom ausführenden Arzt nebenbei auch noch erfährt, er ist Vater: Die Exfreundin hat das gemeinsame Kind ohne sein Wissen in letzter Minute nicht abgetrieben, sondern zieht es bei ihren Eltern groß.

Is the cat your act? Did you bring your penis along, too?
Dieses Wissen begleitet ihn ebenso durch den Film wie die Katze der Gorfeins, bei denen er häufig übernachtet. Weil ihm das Tier aus der Wohnung entwischt, deren Tür darauf prompt ins Schloss fällt, wird sie zu seinem Begleiter; allerdings nur, bis sie ihm erneut durchbrennt – diesmal aus dem Fenster der Wohnung von Jim und Jean. So selten der Glücksmoment, als er sie am nächsten Tag im Village entdeckt, so schnell ist der denn auch wieder entlarvt: Es ist die falsche Katze, die er den Gorfeins bringt; es folgt das hysterische Ende eines Abends, der ohnehin bereits außer Kontrolle geraten war – die „falsche Katze“ aber bleibt ihm erhalten.

Dank Jim hat Llewyn derweil einen Song mit eingespielt, der bald hohe Tantiemen verspricht – blöd nur, dass er auf diese verzichtet hatte, um sich das Geld direkt auszahlen zu lassen: für die Abtreibung. Erst scheint es wie ein richtig schlechter Tag, an dem wir Llewyn erwischen, bald wird eine ganze Woche daraus und ganz ehrlich, die Chancen, dass es für ihn demnächst tatsächlich besser wird, stehen nicht besonders: Immer dann, wenn er glaubt, nicht mehr tiefer fallen zu können, setzt es den nächsten Nackenschlag. Wie er die allesamt erträgt, mag stoisch erscheinen, es liegt aber eine große Würde darin, wie er sich auf den Beinen hält.

Entsättigte Farben und Liebe zum Detail. (Fotos: Verleih)
Bleibt die Frage, warum man sich einen Film anschauen sollte, in dem eine tragische Figur permanent auf die Fresse bekommt, letztlich sogar im wörtlichen Sinne, und zwischendurch zweifelnd und hadernd durch ein in entsättigten Farben eingefangenes, unfreundliches New York tapert, auf der Suche nach einem kleinen bisschen Glück – und nach einem Hafen, der endlich etwas wie Ankommen verspricht (es scheint kaum zufällig, dass Davis’ Brotjob einst ausgerechnet der eines Matrosen der Handelsmarine war – gleichfalls ohne feste Heimat auf dem Wasser unterwegs). Damit wären wir zurück bei der Musik, einerseits, zum anderen aber bei den Coen-Brüdern. Es ist ihr Humor und es sind die Songs dieser Zeit, die diesem Film so viel Hoffnung verleihen, dass es fast absurd anmutet; Hoffnung vor allem, die weit über seine Geschichte hinaus geht. Denn er erzählt, Absicht oder nicht, auch die Geschichte unserer Zeit, in der Menschen entwurzelt sind und auf der Flucht, in der Leute abgehängt werden von der Gesellschaft, in der sie leben und Kunst und Kultur an Stellenwert verlieren.

Das ist die eigentliche Kunst der Brüder, sich derart lakonisch und scheinbar belanglos mit den großen Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen, dass man sich tatsächlich unterhalten fühlt dabei – und für einen Kinobesuch lang vergisst, die beiden tun beinahe nichts anderes, als Realitäten abzubilden. Das aber mit einem verdammt guten Soundtrack.


Inside Llewyn Davis
Buch & Regie: Ethan und Joel Coen
Darsteller: Oscar Isaac, Carey Mulligan, Justin Timberlake, John Goodman
USA, 105 Minuten, FSK 6

Trailer „Inside Llewyn Davis“: http://bit.ly/J6aJo9
The Gaslight Café on MacDougal Street: http://bit.ly/1d2iKpO
Dave van Ronk – „Hang me, oh hang me“: http://bit.ly/1iWk9C1
David Haglund: The People who inspired Llewyn Davis: http://slate.me/1clFIY7

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Samstag, 14. Dezember 2013

Die TORToUR: Es kommt ein Schiff geladen


Das Schiff geht still im Triebe,
trägt eine teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast.
[Johannes Tauler]

Seinem neuen Buch „Wenn Spieltag ist – Fußballfans in der Bundesliga“ hat Hardy Grüne das wunderbare Zitat von Eric Cantona voran gestellt, in dem dieser treffend ausformuliert, was jeder Fan ohnehin weiß: „You can change your wife, your politics, your religion – but never, never can you change your favorite football team.“ Besser ist diese absolute Liebe niemals beschrieben worden.

Grüne unterteilt seine 256-Seiten-starke Reise durch die Geschichte der Fußballfans in acht thematische Kapitel, nämlich: Fans – Eine Typologie, Kurve – Die Seele der Fans, Farbe – Aktive Fankultur, Auswärts – Fans auf Reisen, Gewalt – Die dunkle Seite des Spiels, Frauen – Weibliche Fankultur, Kommerz – Moderner Fußball, Ultras – die Rebellen der Kurve. Für die Bereiche Frauen und Ultras hat er sich mit Nicole Selmer und Christoph Ruf zwei Co-Autoren ins Boot geholt, die über das jeweilige Thema bereits zuvor publiziert haben.

Foto: Verlag
Früher hatten neue Bücher einmal diesen besonderen Geruch. Ich weiß nicht, wohin genau der verschwunden ist, denn Druck ist Druck, sollte man meinen, doch die kleinen Softcover von heute verströmen nicht mehr den Duft, mit dem man sich tagelang am Kamin festlesen wollte. Grünes Spieltagsbuch ist von einer üppigen Haptik, die beinah vergessen scheint in Zeiten von Kindle & Co. – nicht nur ist die DinA4-Größe als Format fast ausgerottet, es ist auch ein dickes, schweres Buch – ein Wälzer im besten Sinne –, dabei aber keine Bleiwüste, sondern mit unzähligen Bildern liebevoll gestaltet und aufgewertet durch allerlei Zitate von Fußballgrößen. Und es duftet, lacht ihr ruhig, aber ich hatte vergessen, wie gut so ein neues Buch duften kann... Völlig egal also, ob auf einen Reader etwa zig Hundert Bücher passen, wer Grünes Buch durchblättert, glaubt (wieder) an die Zukunft von Druckerschwärze.

Was am Ansatz des Autors besonders angenehm ist – er betrachtet die Szene gleichermaßen als Aktiver und aus der Distanz. Fan ganz allgemein und auch speziell im Fußball, das ist er vor Jahrzehnten geworden, aber er setzt sich mit der Kultur und Entwicklungsgeschichte eben auch als Journalist und Historiker auseinander. Es ist genau dieser Spagat, der das Buch besonders macht, weil da einer schreibt, der sich ehrlich bemüht, beide Perspektiven auf Fans und Szene zu schildern, sie einander und jedem Leser, der sich weder zu der einen noch der anderen Seite zählt, nahe zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe doch zumeist gelingt der von ihm selbst benannte Spagat.

Bei aller Genauigkeit der Recherche, Aktualität und Liebe zum Detail sind es aber doch vor allem die Fotos, von denen dieses Buch lebt. Bilder aus zig Jahrzehnten Fußballliebe, in die nach und nach die Farbe einfließt, Abbildungen aus den Stadien der Republik, Impressionen begeisterter Fans, Erinnerungen an magische Momente – skurril, erstaunlich und emotional. Sie machen das Buch quasi zum Familienalbum, in dem sich die ganze weit verstreute Sippe wieder findet. Schön!

[Zuerst erschienen in der Adventsausgabe von Die TORToUR]

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Montag, 21. Oktober 2013

Ihr habt die Haare schön oder: Alle auf Stefan Kießling


Man kann mir nun, Manuel Friedrich hin, André Schürrle her, beileibe keine besondere Nähe zu Bayer Leverkusen vorwerfen. Und zu behaupten, ich hätte eine besondere Beziehung zu Stefan Kießling oder eine Haltung zu der Frage, ob der Stürmer Nationalmannschaft spielen sollte oder nicht, wäre eindeutig zu hoch gegriffen. Aber was sich seit dem Bundesligastart ins Wochenende am Freitagabend unter dem Deckmäntelchen einer Fairnessdiskussion gegen den Spieler ins Netz ergießt, empfinde ich in weiten Teilen als dumm, niederträchtig und mit mindestens zweierlei Maß gemessen.

Rückblende, Freitagabend, Ligaspiel Hoffenheim gegen Bayer Leverkusen. Das auf fremden Plätzen gerne mehr oder weniger liebevoll als Die Pillen bezeichnete Team führt 1:0, als der vieldiskutierte Stefan Kießling aufs Tor köpft. Erfahrener Torjäger, der er ist, sieht er der Flugkurve des Balls an: Das war wohl nichts. Schlägt, enttäuscht darüber, seine Hände vors Gesicht und dreht sich vom Tor weg. In dem liegt Sekunden später, unbestritten zur allgemeinen Verwunderung (nicht nur Torjäger ziehen gerne mal Rückschlüsse aus der Flugkurve), der Ball. Kurze Irritation bei den Spielern beider Mannschaften, wie genau ist denn das passiert? Automatisierte Reaktion beim Anblick eines Balles hinter der Torlinie: Jubel, Umarmung, Tusch – und ab.

Leverkusens Torjäger Stefan Kießling. (Foto: Johann Schwarz CC 2.0)
Liebe Kritiker und Fairnessverfechter, wie genau lautet eigentlich der Vorwurf, der nun im Raum steht, sei es gegen Kießling und seine Teamkollegen, sei es gegen Schiedsrichter Dr. Felix Brych oder auch die Spieler der TSG Hoffenheim? Und wie hätte eine Fairness, die hier nun allenthalben eingefordert wird, bitte aussehen können? „Du hömma Schiri, für mich sah es ja aus, als ginge der Ball nicht ins Tor. Jetzt liegt er doch drin. Schau doch mal nach, ob vielleicht das Netz kaputt ist“ – so vielleicht?

Wovon genau soll ich denn als Fußballer in einem Moment, in dem der Ball sich klar hinter der Linie befindet, in dem auch der Schiedsrichter nicht eingreift und der Torwart nicht protestiert, ausgehen, als davon, dass dieser Ball offenbar im letzten Moment einen ganz seltsamen Schlenker hingelegt hat – und irgendwie doch da oben ins Eck reingegangen ist? Davon, dass etwas mit dem Tor nicht stimmt, ganz ernsthaft? Davon, das Netz könnte kaputt sein – darüber soll sich ein Spieler in dem Moment Gedanken machen? Und was für eine bodenlose Arroganz liegt eigentlich vor, wenn nun eine fast geschlossene Fanrepublik, unterstützt von einer Vielzahl der Sportjournalisten, hergeht und behauptet, man hätte in der Situation ganz eindeutig sehen müssen, dass der Ball nicht im Tor war? Noch dazu, wo er eben doch im Tor lag, nur eben nicht auf regulärem Wege hinein gekommen war.

Unsinn, oder auch: Ich lach’ mich kaputt! Wie viele Fans, Journalisten oder Spieler haben schon zu früh in der Annahme eines Tores gejubelt und dann entsetzt feststellen müssen, der vermeintlich im Netz zappelnde Ball hat eben dieses nur von außen getroffen? Wie oft hat man sich im Stadion schon ungläubig die Augen gerieben und dem Blocknachbarn zugemurmelt, „Ich dachte im Leben nicht, dass der reingeht, so wie fliegt“, wie oft drei Fernsehwiederholungen aus verschiedenen Perspektiven gebraucht, um später halbwegs zu glauben, was im Stadion absolut unwahrscheinlich schien?

Und stimmt, Fans sind weder Spieler noch Schiedsrichter. Stimmt auch, von denen darf mit gutem Grund in gewissen Situationen ein Mehr an Spielverständnis erwartet werden – aber mal darüber nachgedacht, mit welcher Geschwindigkeit so ein Ball in das Tor oder am Tor vorbei saust? Und eventuell mal in Erwägung gezogen, dass es für die Beurteilung durch den Schiri einen gewaltigen Unterschied macht, ob er sagen muss, der Ball war oder war nicht hinter der Torlinie – eine Sachlage, die zu beurteilen er trainiert und auf die er vorbereitet ist – oder ob er entscheiden soll, ob ein Ball auf irregulärem Weg ins Tor gelangt ist, eine Entscheidung also, die zu treffen er überhaupt nicht erwartet?

Noch schlimmer ist das Gekreische gegen Stefan Kießling, und ein trauriges Beispiel für Doppelmoral dazu. Nicht nur, dass bis Freitag eine halbe Fußballnation nicht müde wurde, den Leverkusener zu feiern und für die Nationalmannschaft zu fordern, um seinetwillen gerne mal die Fähigkeiten des Bundestrainers in Zweifel zog und einen auf Dauerentrüstung machte, nein. Angeblich im Dienste der Fairness, die der Stürmer, so der Vorwurf, in dieser Situation nicht habe walten lassen, wird er aufs Übelste attackiert, sieht sich in weiten Teilen unreflektierten Vorwürfen ausgesetzt und muss sich, wie das im Netz offenbar für viele Leute dazu gehört, heftig und absolut unfair (!) beschimpfen lassen.

Völlig unbesehen der Entscheidung, ob das Tor am Ende zählt oder nicht (ich finde übrigens ja, weil es eine Tatsachenentscheidung ist, die – genau wie ein gegebenes Abseitstor – zwar schmerzt, aber aktuell zum Fußball wie wir ihn kennen eben noch dazu gehört), ob das Spiel wiederholt wird oder nicht und wie am Ende die Entscheidung der Sportgerichtsbarkeit aussehen wird: Die Keulen, die seit diesem Spiel gegen Stefan Kießling geschwungen werden, sind vollkommen überzogen.

Wenn es tatsächlich darum geht, eine Diskussion zu führen über Fairness im Fußball (die begrüße ich sofort!), gibt es nun wirklich ganz andere Themen- und Problemfelder, die angesprochen werden müssten, von Rassismus über Homophobie in den Fanlagern hin zu Schwalbenkönigen und Dauerfoulern auf dem Feld. Sich in Sachen Fairness im Fußball nun ausgerechnet an einem stets so feinen Sportsmann wie Stefan Kießling abzuarbeiten, ist lächerlich und nicht gerechtfertigt.

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Dienstag, 10. September 2013

Robert Enke: Ein allzu kurzes Leben

Lesen, das ist eine emotionale Angelegenheit. Ein Einlassen in die Geschichte, die sich entfaltet, ein Abtauchen in die Seiten, deren Umblättern zart die Innenseite der Hände streichelt. Es ist der Auftakt einer ganz besonderen Beziehung – der zwischen Lesendem und Schriftsteller, die Berührung zweier Welten außerhalb der Welt, dort, wo die Imagination des einen und die Phantasie des anderen sich treffen. Bücher schaffen Veränderung – bei dem, der sie schreibt und dem, der sie liest.

Bei einer Biografie wird dieses besondere Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser um eine Person erweitert – und das anders, als es bei Protagonisten in einem Roman der Fall ist. Für die Begegnung mit dieser Person muss sich der Leser auf den Autor, bei dem er einen Wissensvorsprung voraussetzen darf, verlassen können. Auch seine Beziehung zu dieser Figur, der tatsächlichen, aus dem Leben ins Buch transportierten, ist abhängig vom Blick des Schriftstellers auf den Gegenstand seines Schaffens. Kann die Verbindung über Bande gelingen?

Ronald Reng: Robert Enke. (Foto: Verlag)

„Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“ – die 427-Seiten starke Biografie des Sportjournalisten Ronald Reng über den Torwart, der sich im November 2009 das Leben nahm, stiftet die Beziehung zwischen Enke und dem Leser in beinahe schmerzlicher Intensität. Das einfühlsame Portrait gelingt dank seines hervorragenden Autors auf allen Ebenen. Nicht nur ist Reng ein weit gereister Sportjournalist, der den Fußball versteht und mit Leidenschaft für das Spiel brennt, seine Schreibe ist warm, klug und spannend. Die enge persönliche Verbindung des Autors zu Enke und dessen Witwe Teresa spricht aus jeder Zeile über den Privatmenschen Robert Enke; und Reng vermag es ohnehin, jedes Thema, das er anpackt, mit einer beinahe poetischen Zärtlichkeit zu unterlegen – die niemals zu weit geht, nie in den Kitsch abdriftet. In einem Satz: Dieses Buch ist ein Geschenk.

Ein Geschenk allerdings, dessen Auspacken dem Leser schmerzlich vor Augen führt, in welcher Welt wir leben. Wie wir, als gesellschaftliche Gemeinschaft, viel zu häufig versagen dabei, die aufzufangen, die schwach sind oder sich als schwach empfinden. Der Druck, der auf Enke lastete, seine furchtbare Scham im Umgang mit der Depression, hält uns den Spiegel vor – der Blick hinein ist beschämend.

„Ein Glückskind, eigentlich“ – so lautet das erste Kapitel des Buches. Und die Erkenntnis, dass Enke doch, eigentlich, irgendwie, ein Glückskind war, begleitet den Leser auf seiner Reise durch dessen Lebensgeschichte. Die große Liebe zu Teresa, mit der Robert Enke sein Leben schon früh teilte, das Elternhaus, das ihm scheinbar alles mitgab, der Beruf, den er liebte. Wieso dann immer wieder diese Angst? Woher dann diese Verunsicherung, warum die Zweifel und dunklen Gedanken?

Weil eine Krankheit, egal welche, dem Anspruch widerspricht, zu funktionieren. Der Hoffnung auf Glück. Weil eine Depression, scheinbar muss man das immer wieder betonen, eben genau das ist: eine Krankheit. Die den Menschen genauso schonungslos attackiert wie ein Herzleiden, wie Krebs – weil sie den Körper ebenso belastet, den Betroffenen ebenso durchschüttelt, ihn angreifbar macht, schutzlos und abhängig von der Hilfe anderer. Um die es sich aber umso schwerer bitten lässt, weil neben der Angst vor der eigenen Schwäche die noch größere vor der Stigmatisierung mitschwingt.

Der Eindruck, der nach der Lektüre von Enkes Biografie zurückbleibt ist so schlicht wie bitter: Der Torwart hat sich immer wieder dagegen entschieden, Hilfe offen anzunehmen, weil er sich nicht vorstellen konnte, anschließend seinen Beruf weiter ausführen zu dürfen. Die Berufung als Nummer Eins ins Nationalteam, für Enke großartige Chance und immense Belastung zugleich, besiegelte dabei auf tragische Weise sein Schweigen, alle Überlegungen, mit der Krankheit doch an die Öffentlichkeit zu gehen, wurden für ihn so hinfällig. Ein Torwart muss stark sein, muss alles aushalten können, dieses öffentliche Bild war auch Enkes Überzeugung. Die Angst, mit der vermeintlichen Schwäche seine Chance zu vergeben, war zu groß. Und am Ende mit und in dieser Angst auch der Druck.

Dass der sensible, stets um seine Mitmenschen besorgte Enke sich gerade vor einen Zug wirft und einen anderen zum Komplizen seines Selbstmordes macht, die Tatsache steht für Reng wie ein Symbol: Robert Enke hat an diesem Novembertag keine Hoffnung mehr gehabt, keinen Ausweg mehr gesehen. Und nein – es gibt kein gesellschaftliches Schuldprinzip für Selbstmord. Doch es gibt eine Verantwortung, die wir tragen, im Umgang miteinander, auch und gerade im Angesicht von Krankheit, Not und Schwäche. Prominente Schicksale wie das von Robert Enke erinnern uns daran – es bleibt zu hoffen, dass sich daraus in kleinen Schritten ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Enkes Tod und die tragischen Umstände haben das Land im November 2009 betroffen gemacht und den Ruf nach Veränderungen laut werden lassen – aber was ist seither tatsächlich passiert? Rengs Buch leistet einen wichtigen Beitrag: für den Wandel und gegen das Vergessen. Lesebefehl!


Ronald Reng
Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben
427 Seiten
Piper Taschenbuch
9,99 Euro

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Samstag, 11. Mai 2013

Sternenhimmel über der Wüste: Die Farbe der Nacht

„Als ich erwachte, saß ich auf meiner Veranda. Das kalte Telefon in beiden Händen. Der Akku war leer, er hatte sich klaglos verbraucht. Wie oft ich wohl angerufen hatte. Wieder und wieder, Stunde um Stunde. Aber nie eine Antwort, kein einziges Mal.“ – Madison Smartt Bell: „Die Farbe der Nacht“

Gut 30 Jahre sind vergangen, seit Mae ihre Geliebte Laurel zuletzt gesehen hat. Nun entdeckt sie diese wieder – im Fernsehen, als eine der ungläubigen, verstörten Beobachter der einstürzenden Türme des 11. September. Durch dieses Quasi-Wiedersehen geht eine Wunder auf, so will es dem Leser zunächst erscheinen; bald schon wird aber klar, Mae ist längst selbst zur Wunde geworden – offen stehend und blutend.

Die Farbe der Nacht. (Foto: Verlag)
Der Blick, den Autor Madison Smartt Bell durch die Augen seiner Ich-Erzählerin auf das Amerika der letzten sechs Jahrzehnte wirft, ist ein schonungsloser. Er schickt seine Figur in eine durch und durch abartige Welt, umgeben von perfiden Menschen wandelt sie in zunehmender Abgestumpftheit durch den Morast ihres Lebens. Dessen Szenen sind in ihrer Eindeutigkeit fast schon zu banal – der Bruder, der sie missbraucht und dann für eine andere Frau „verlässt“, die Eltern, die sie vernachlässigen, die Gesellschaft, in der sie keinen Halt findet – und wirken doch nie platt oder beliebig.

In den Sechzigerjahren wird Mae Teil einer Kommune, für deren zerstörerische nächtliche Feldzüge Bell sich Charles Manson zum Vorbild nimmt. Gewalt, Mord, Drogen und Sex greifen bei den Sektenmitgliedern ineinander wie die stumpfen Zacken eines Zahnrades und können jederzeit zur Orgie anschwellen. Angst und Euphorie, Blutrausch und Erregung, das alles schafft Einheit und wird zu einer zerstörerischen Bewegung, mit der die Gruppe zuerst andere, aber letztlich auch sich selbst vernichtet, da sich ihre Mitglieder zu sicher fühlen.

Als die Polizei die Kommune hochnimmt, sind es alleine Mae und Laurel, die sich zuerst verstecken können und dann gemeinsam fliehen. Für eine Weile bleiben beide in scheinbarer Unbeschwertheit zusammen, wirken befreit aus den Klauen der Sekte; bis sie ihren Anführer in der Wüste treffen und eine erneute Bluttat sich so zwischen die Frauen schiebt, dass ihre Wege sich fürderhin trennen.

Mae lebt in einer Wohnwagensiedlung, als der Leser ihr begegnet. Sie arbeitet in einem Casino in Nevada, vögelt mal für den Rausch und mal gegen Geld, berauscht sich neben dem Sex an Drogen und Gewalt. Wenn sich die Wüste abkühlt, zieht sie mit ihrem Gewehr unter dem Sternenhimmel durch die nächtliche Einsamkeit, umgeben von derselben Stille, die ihre gewalttätigen Streifzüge einst kennzeichnete. Diese äußere Stille schafft eine innere Ruhe, die Mae sonst vergeblich sucht, zugleich schafft sie für den Leser kleine Inseln der Erholung im atemlosen Tempo der Geschichte.

Mae wird Laurel aufsuchen, so viel ist klar – aber was passiert, wenn die beiden Frauen sich nach all der Zeit gegenüberstehen? Und feststellen, die gemeinsame Zeit hat eine von ihnen in einem Leben der Zerrüttung wieder ausgespuckt, während die andere ihres seit der Trennung in der Wüste in die Formen der gesellschaftlichen Erwartung gegossen hat?

Bells Buch ist schnell und intensiv, seine Geschichte und ihre Figuren wirken lange nach. Ein Phänomen ist zudem, wie er es schafft, in all der scheinbaren Eindeutigkeit dieser Schilderungen nie ein Urteil über seine Hauptfigur zu fällen, ihr vielmehr sogar Momente der Nähe mit dem Leser erlaubt. Die Sprache der Erzählung bohrt sich unter die Haut, sie ist poetisch und eindringlich und Bell findet Bilder, die weder zu schwach wirken noch überzogen – sondern immer genau richtig. Ein absolut empfehlenswertes, aufwühlendes Leseerlebnis.


Madison Smartt Bell
Die Farbe der Nacht
238 Seiten
Verlag: Liebeskind
Preis: 18,90 Euro

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Samstag, 15. Dezember 2012

George Pelecanos: Der coolste Autor Amerikas

Manchmal ist das Fernsehen selbst dann zu etwas gut, wenn gerade keine Sportschau läuft. Dann ist allerdings selten das deutsche Programm zu loben, sondern eher der US-Bezahlsender HBO. Der produziert nämlich in beeindruckender Regelmäßigkeit Fernsehserien, die in ihrer Qualität jeden hiesigen TV-Film um lockere Längen hinter sich lassen. Das allein ist schon positiv, doch mit dem Überschwappen eben jener Serien nach Deutschland ist noch längst nicht Schluss: Auch manch ein Musiker oder Autor, der hierzulande leider viel zu lange unter dem allgemeinen Radar flog, wird damit einem breiteren Publikum bekannt. Und das ist eine wirklich gute Nachricht, schließlich stolpert nicht jedermann zufällig über Steve Earle oder George Pelecanos – um nur mal zwei Beispiele zu nennen.

Krimi- & Drehbuchautor George Pelecanos beim Brooklyn
Book Festival 2008. (Foto: David Shankbone/CC 3.0)
Die Bekanntschaft mit Earle, dem genialen Troubadour, habe ich dem Soundtrack zu „Brokeback Mountain“ zu verdanken, die mit Pelecanos, dem phantastischen (Krimi-)Autor, dem Bücherregal meines Freundes. Für alle, die sich bislang weniger glücklich schätzen konnten, kommen beide seit einiger Zeit auch via „The Wire“ ins Wohnzimmer. Die in Baltimore angesiedelte Crime-Serie ist nicht nur für sich genommen eine kleine Sensation, sie wird inzwischen auch von Pelecanos mitgeschrieben und produziert. Und Earle glänzt darin nicht nur durch Gastauftritte, sondern liefert in Staffel 5 auch seine Version der Titelmelodie „Way Down in the Hole“ – im Original übrigens von Tom Waits; wer den noch nicht auf dem Radar hat, dem ist allerdings nicht zu helfen.

Pelecanos wird häufig als Amerikas coolster Autor tituliert; eine Behauptung, die man gerne hinnimmt. Der Nachkomme griechischer Einwanderer hat zuerst mit seiner „Nick-Stefanos“-Trilogie („A Firing Offense“, „Nick's Trip“, und „Down by the River Where the Dead Men Go“) auf sich aufmerksam gemacht, in der er seinen Protagonisten mit der eigenen griechischen Herkunft ausstattet. Drogen, Alkohol, Frauen, Waffen und Kriminalität in Washington DC – was in der Synopsis beliebig wirken könnte, bekommt bei Pelecanos einen ganz eigenen Klang, eine besondere Dichte und ein sehr spezielles Tempo.

Den Klang erzeugen neben der Sprache des Autors seine ausführlichen Beschreibungen der Musik, die den Soundtrack zum Leben seiner Figuren bildet. Die Dichte entsteht aus der großen Nähe zu eben diesen Figuren und, ebenso wie das Tempo, dank der zahlreichen Dialoge. Gleichzeitig ist der Fluss der Story an sich – anders, als man es von Krimis vielfach kennt – kein reißender: Pelecanos muss keine Reifen quietschen oder Gebäude explodieren lassen, muss seine Helden nicht in wüste Ballereien schicken, um Spannung zu erzeugen. Die entsteht vielmehr aus seinen Figuren heraus, ihren Haltungen, inneren Kämpfen und Kollisionen mit der Welt um sie herum.

Dem Krimi wird gerne vorgeworfen, er sei „bloße Unterhaltung“ und somit nicht tauglich, auch als Literatur durchzugehen. Fraglos gibt es viele schlechte Krimis – wohl auch, weil in den letzten Jahren aus einem wahnsinnigen Hype heraus per se zu viele Krimis veröffentlicht wurden. Und vor allem, weil es eben in jedem Genre (auch) schlechte Bücher gibt. Wer aber ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie literarisch Krimis sein können, der sollte sich in der Buchhandlung seines Vertrauens einen Roman von George Pelecanos bestellen. Die Verfasserin dieser Zeilen hat neben seiner Erstlingstrilogie (nur auf Englisch erschienen) auch „Drama City“ (2005) und „The Cut“ (2011) gelesen, kann aber – schlussfolgernd und aus zweiter Hand – auch fast alles andere empfehlen, was der Mann zu Papier gebracht hat.

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Donnerstag, 29. November 2012

Kris Kristofferson in Frankfurt: Help me make it through the Night

Yeah, alright: „Don’t judge a book by its cover“, so heißt es. Und das ist ja auch richtig, aber ganz ehrlich – da kommt dieser kahlrasierte Typ in die Frankfurter Jahrhunderthalle. Arme tätowiert, Hände tätowiert, am Hals hochtätowiert bis zu den Ohren. Und sagt ehrfürchtig zu seiner Begleitung: „Ich hab’ schon am ganzen Körper Gänsehaut.“ Worauf der Kumpel stumm nickt und wiederum der Tätowierte spricht: „Ich glaub’, den Abend krieg’ ich nicht rum, ohne zu heulen.“ Äh?

Der Mann, der solche Reaktionen bei seinem Publikum hervorruft, noch bevor er jemals die Bühne betreten hat, ist Kris Kristofferson – und die Runde, vor der er in Frankfurt spielen wird, mit illuster gut beschrieben: Zwischen die obligatorischen Cowboyhüte und -stiefel in Braun, Schwarz und Gold mischt sich eine Gruppe, die ausschaut, als komme sie gerade von einem Date mit Elvis Presley. Alte Damen, wackelig und gebückt an Stöcken auf dem Weg zu ihren Sitzen, nehmen Platz neben Popcorn kauenden Kerls, und Damen mit schweren Perlenketten sitzen bei Altrockern mit langem Silberschweif.

Mit seinem aktuellen Album „Feeling Mortal“ und den alten Hits
auf Tour: Kris Kristofferson. (Foto: KK Records)
Silber ist mit seinen 76 Jahren längst auch der Mann auf der Bühne – dazu bei allem Glauben auch abergläubig: Seit Jahren beginnt er jedes seiner Konzerte mit „Shipwrecked in the Eighties“; bringt Glück. Irgendwie könnte er aber auch den Titelsong der Teletubbies singen (haben die einen Titelsong?), das Publikum ist so oder so von der ersten Sekunde an verliebt. Und ja, es gibt etliche Künstler, die mit ihrem Publikum umgehen können, aber nein, verliebt ist trotzdem nicht zu hoch gegriffen – es könnte einem vielmehr schon fast unheimlich werden dabei, wie sehr hier gemeinsam geschwelgt wird. Und mit dem beschleunigten Herzschlag dieses Abends ließe sich ohne Probleme über einen sehr kalten Winter kommen.

Als der Texaner mit „Here Comes that Rainbow again“ seinen gerademal vierten Song anstimmt, wird im Auditorium schon erstmals schüchtern mitgesungen und gebrummelt. So anrührend die Story, angesiedelt in einem Truck-Stop, so ehrlich der Vortrag; in den kurzen Pausen, die Kristofferson macht, vernehmliches Schneuzen, gemischt mit verzückten Seufzern. Das klingt übertrieben? Und ist doch erst der Anfang.

Bei Klassikern wie „Help Me Make it through the Night” oder „Nobody Wins” („But Obama won, which means: We all win!“) wird der ergraute Musiker auf der Bühne von einer Welle der Zuneigung und Euphorie umspült. Die Reaktion auf neuere Stücke wie „Closer to the Bone“ fällt kaum weniger begeistert aus. Dazu immer wieder murmelnde Anerkennung für die Textnetze, die Kristofferson mit leichter Hand über seinem Publikum auswirft: „One more Rainbow for the Road“ (This Old Road)… „I may never get to Heaven, but I’ve seen a lot of Stars“ (The Heart) – und die trockene Feststellung des gläubigen Christen: „You don’t have to be as good as Jesus – you just have to ask yourself: ‚How would Gary Cooper handle it?‘!“

In der Pause („Do whatever you do in an intermission, they asked me to give you one! “) – noch mehr Cowboystiefel und strahlende Gesichter. „Das tut mick so wunnebah!“, erklärt ein Native-English-Speaker seinem Sitznachbarn, der erwidert: „Da hätte man echt was verpasst, wenn man heute nicht hier gewesen wäre.“ Dazwischen unzählige „Ohs“ und „Ahs“ und immer wieder die simple Feststellung: „Der ist einfach so toll.“

Einer, der mit 76 Jahren nichts verlernt hat. Den das Leben ruhiger gemacht hat, ohne sein Feuer ausgehen zu lassen. Der spürbar erfüllt ist von einer tiefen, ehrlichen Dankbarkeit darüber, wohin dieses Leben ihn getragen hat. Und der in der Lage ist, in anderen so viele Gefühle zu wecken, weil er sie in sich trägt – der nichts tut, als seinen Herzschlag zu übertragen auf die Menschen um sich herum.

„Like a Bird on a Wire, like a Drunk in a Midnight Choir, I have tried in my Way to be free“ – diese Songzeile Leonard Cohens will Kristofferson dereinst als Inschrift auf seinem Grabstein wissen. An diesem Abend steht ein Mann auf der Bühne, der seine Freiheit gefunden hat – und sein Glück.

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Samstag, 17. November 2012

Mother’s little Helper: Was bleibt

Eigentlich sollte es ein entspanntes Wochenende mit der lieben Familie werden: Zu Papas Pensionierung kommt Marko (Lars Eidinger) samt Söhnchen zu Besuch zu seinen Eltern. Nicht im Gepäck ist die Kindsmutter, denn von der lebt er getrennt – was Mama und Papa aber nicht wissen sollen. Im Zug ein netter Flirt, doch am Bahnhof im elterlichen Kaff stellt sich die Dame als Freundin seines Bruders Jakob (Sebastian Zimmler) heraus; die Laune kann das aber nicht trüben.

Spaziergang mit Papa Günter (Ernst Stötzner), der von seinen Reiseplänen im Unruhestand berichtet. Ob die Mama… ? Nein, die wird nicht mitkommen; in all den Jahren habe er sich das Recht erworben, sich jetzt mal nur um sich zu kümmern. Seine Frau Gitte (Corinna Harfouch) weiß davon freilich nichts, die freut sich nach jahrzehntelanger berufsbedingter Fernbeziehung vielmehr darauf, ihren Gatten künftig mehr um sich zu haben.

„Kannst du sicher sein?“ Mutter & Sohn. (Foto: Verleih)
Beim Abendessen – Mama, Papa, die erwachsenen Söhne, einer mit Freundin, der andere mit Kind – der Donnerschlag: Mutti hat die Pillen abgesetzt. Immerhin, alles ändert sich, ihr Mann beschreitet neue Wege, da wolle auch sie einen neuen Schritt wagen. Die erhoffte Freude seitens ihrer Lieben allerdings bleibt aus, denn Mutti ist depressiv, auf ihre Pillen seit Jahren eingestellt – und wer will schon die Verantwortung dafür mittragen, dass es ihr auch ohne gutgehen wird? Eben.

Kein Verständnis demnach auch für Verständnis: Sohnemann Jakob, leidlich erfolgreicher Arzt mit eigener Praxis aus dem Portemonnaie des Vaters, herrscht den fernen Berlinbruder als naiv an, als Marko laut überlegt, ob in der Entscheidung der Mutter nicht auch eine Chance liegen könne? Kein Mut, sondern Schwachsinn und Rücksichtslosigkeit – und wieso meldet sich da überhaupt einer zu Wort, der die letzten Jahre nie da war; der die Angst nicht kennt davor, den Schlüssel ins elterliche Türschloss zu stecken und nur Schweigen zu hören.

Daneben drückt den Vater, von Stötzner leider stocksteif und leidlich glaubwürdig gespielt, ein ganz anderer Schuh: Die mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattete Gattin will ihn auf den anstehenden Reisen begleiten. Dagegen spricht vor allem eines: Zwar ist er durch 30 Jahre Pillen und Therapie bei ihr geblieben – zumindest irgendwie ein wenig, wochenends – doch wer will dazu noch große Gefühle von ihm erwarten? Längst lebt er daneben heimlich mit einer anderen Frau…

Der Vater verschnupft, Jakob betrunken und Marko irgendwie um eine Lösung bemüht – all das geschieht in strenger Abkopplung von Gitte, die ihre Lieben umsorgen darf, aber nicht wissen soll, worüber sie miteinander reden. Ob ihnen klar sei, wie das ist, bricht es plötzlich aus ihr heraus? Immer Flüstern, stets verschlossene Türen, keine Teilhabe, nur geschont werden: zum Kotzen.

Am späten Abend ein Moment der Nähe mit Marko. Rotwein, ein bisschen davon ist jetzt, ohne die Pillen, doch erlaubt. Ein freundliches Gespräch, dann ihre Hoffnung und der alles entscheidende Satz des Sohnes, achtlos dahingeplappert die Frage: Wie kann sie sicher sein, dass Günter sie noch liebt, nachdem er jahrzehntelang mehr Pfleger als Ehemann war? Das basse Erstaunen, das durch Gittes Gesicht wandert, die offensichtliche Erkenntnis: darüber hat sie noch nie nachgedacht. Eben so klar für die Zuschauer: nun wird sie nie mehr damit aufhören können – wohl aber aus dieser neuen Ohnmacht eine Entscheidung für sich ableiten.

Hans-Christian Schmid erzählt seinen Film vor allem über die Figuren, und neben vielen anderen ist eine große Stärke der Geschichte, dass man sie alle verstehen kann: Den Sohn, der gegangen ist, weil sein Leben eben so spielte, der sich daraus keinen Vorwurf machen lassen will. Den, der bleibt, und versucht, sich selbst zu sagen, es ist aus der Verantwortung heraus – und nicht wegen der Verlockung des väterlichen Geldes. Die Mutter, die sich der Krankheit nicht beugen möchte, sondern echtes Verständnis einfordert, die sich nicht abfinden will, sondern ihren eigenen Weg gehen. Obgleich geschmälert durch die schwache darstellerische Leistung: den Vater, der wegrennt, aber nicht so ganz, der bleibt, aber nur so halb.

Die Familie als Kollektiv, die helfen will, zugleich aber hilflos ist und ja: in manchen Momenten auch zurückschreckt; aus Überforderung. Pausen für sich einfordert vom Gefühl der Verantwortung, im tiefen Wunsch, dafür nicht gleich wieder mit dem eigenen schlechten Gewissen konfrontiert zu sein. Die Ohnmacht und die Sprachlosigkeit aller Beteiligten.

Neben dem Verständnis für die Figuren steht Wut, die sich zum einen ableitet eben aus der Empathie für die jeweils anderen. Wütend macht aber auch die Starre aus Angst und Bequemlichkeit, in der die Figuren sich selbst gefangenhalten, und dass sie zu wenig mit- und zu viel übereinander reden. Denn so, wie Markos Satz im Gespräch mit der Mutter unvermeidlich die Katastrophe auslöst, in der dieser Film schließlich (vor einem versöhnlichen Nachklapp) mündet, hätten viele kleine Sätze zur rechten Zeit, so die Hoffnung, der Familie auch ein anderes Ende bescheren können. Schließlich lässt sich auf die Frage „Was bleibt?“ nur eine Antwort finden: Jeder neue Tag – und das, was wir daraus machen.


Was bleibt
Buch: Bernd Lange
Regie: Hans-Christian Schmid
Darsteller: Corinna Harfouch, Lars Eidinger
Deutschland, 85 Minuten, FSK: 12

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Donnerstag, 16. August 2012

Rum Diary: Vergnüglich fern der Vorlage

Literaturverfilmungen sind so eine Sache für sich. Einerseits ist die Feststellung richtig, dass der Vergleich mit der Vorlage selten zielführend ist – der Film muss auslassen, Schwerpunkte setzen, er darf abseits des Originals wandeln und Mut zur Lücke beweisen. Aber geht nicht andererseits der Leser mit einer gewissen Neugierde darauf ins Kino, um welche Bilder der Regisseur die eigene Vorstellung von einer Geschichte bereichern wird? Und will nicht eine Literaturverfilmung letztlich eben das – eine bekannte Story in einem zweiten Medium neu erzählen? Und beruft sich damit letztlich selbst (und durchaus bewusst) auf ihre Vorlage? Was den Vergleich doch geradezu fordert…

Miss Berechnend und Mister Gonzo. (Foto: Verleih)
Die Macher von „Rum Diary“ (Original: „The Rum Diary“) widmen ihr Werk denn auch am Ende dem Autor des gleichnamigen Romans, Hunter S. Thompson – wäre interessant zu erfahren, wie ihm der Film gefallen hätte. So viel vorweg, man kann seine Zeit sicher schlechter investieren als in diesen Kinobesuch. Wie bereits in „Fear and Loathing in Las Vegas“ schlüpft Johnny Depp mühelos in die Story des Gonzo-Journalisten, wenn auch „The Rum Diary“ durch die schon legendäre Depp’sche Mimik bisweilen etwas überzogen wirkt: gerade in der Drogenszene – die so im Buch übrigens nicht vorkommt. Insgesamt aber machen die Schauspieler ihre Sache ordentlich und der zusätzliche Schuss Ironie schadet nicht.

Was der Geschichte allerdings keinesfalls gut tut, ist der Umstand, dass sich der Film von einer zentralen Figur trennt; mit weitreichenden Folgen. Die Story: Journalist Paul Kemp heuert in den späten Fünfzigerjahren bei einer kleinen Zeitung in Puerto Rico an. Die Zeiten sind unruhig, die Touristen sind es auch, und die Lektüre des Blatts soll alles, nur nicht die Laune trüben. Journalismus zur „Lage der Nation“ ist nicht gefragt – also besaufen sich Kemp und seine Kollegen allabendlich mit Rum und genießen dazu Burger um Burger: Ihr Job fordert sie nicht so sehr, als dass sie ihn nicht auch verkatert geschaukelt bekämen.

Kemp, Kollege Yeamon und Fotograf Sala pflegen in der gleißenden Hitze Puerto Ricos eine Männerfreundschaft mit Hindernissen: Mit Sala teilt sich Kemp eine Wohnung, was ihn aber zunehmend nervt; Yeamon wiederum lebt mit und liebt das Mädchen, das auch durch Kemps Träume spukt: Chenault. Dann wäre da noch Geschäftsmann Sanderson, mit dem Kemp sich gerne auf den einen oder anderen Drink trifft; positiver Nebeneffekt – dabei fällt ab und an ein Job für ihn ab. Ein Umstand, der ihm sein Auskommen auch dann sichern könnte, wenn die marode Zeitung tatsächlich den Bach hinunter gehen sollte.

Der Film nun streicht Yeamon – und dichtet dessen Mädchen Geschäftsmann Sanderson an. Aus einer eher naiven jungen Frau, die ohne Zögern ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen hat, um bei dem Mann zu sein, der ihren Pulsschlag beschleunigt, wird so eine berechnende, kühle Blondine, die mehr Klischee ist als Charakter. Während Thompsons Chenault oft noch schier kindlich wirkt, ein Mädchen im Körper einer Frau, das sich seiner Wirkung auf Männer kaum bewusst ist, erschafft der Film eine stets kalkulierende Frauenfigur, die ihre weiblichen Reize ganz gezielt einsetzt, um genau das zu bekommen, was sie möchte.

Das aber ändert die Geschichte nicht nur im Bezug auf Chenault selbst, sondern ist auch wesentlich für die Rolle des Paul Kemp – weil unvorstellbar scheint, dass die Romanfigur Kemp sich für die Filmfigur Chenault (Amber Heard) interessiert hätte. Und während wiederum Thompson die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich Stück für Stück seine Freiheit und Unabhängigkeit erarbeitet, begibt sich Kemp im Film in große Abhängigkeit von seinem Gönner Sanderson (Aaron Eckhart): Er ist es, der Kemp letztlich das Auskommen sichert, während der Journalist im Roman zumindest seine finanzielle Freiheit Stück für Stück selbst gestaltet.

Yeamons Unberechenbarkeit und sein Jähzorn, die das Männertrio in schwierige Situationen bringen und letztlich Chenault überhaupt erst in Kemps Arme, dichtet der Film Sala (Michael Rispoli) an – dessen Charakter so am Ende arg überfrachtet wirkt. Und weil es so schön amerikanisch ist, lässt Regisseur Bruce Robinson seinen Paul Kemp am Ende eine Revolution um die noblen Werte des Enthüllungsjournalismus anzetteln. Statt sich also, wie bei Thompson, die Sonne auf den Pelz scheinen und den Rum durch den Hals fließen zu lassen, wollen Robinsons Journalisten ihr Blatt mittels einer Story über die wahren Zustände im vermeintlichen Urlaubsparadies retten. Anstatt in der karibischen Hitze Burger zu futtern und Kette zu rauchen, wird für die hohe Moral des Berufsstandes geackert. Wenn auch leider vergeblich.

Macht aber am Ende irgendwie auch nichts. Draußen ist endlich Sommer, der Film zaubert passend zur Hitze einen wunderschönen, karibischen Bilderreigen auf die Leinwand. Das Meer war lange nicht mehr so nah, Johnny Depp interpretiert Kemp neu, aber glaubhaft – lediglich die Burger und der grenzenlos ausgeschenkte Rum fehlen der Szenerie schmerzlich. Der Film ist absolut vergnüglich; es empfiehlt sich allerdings, den Roman lediglich als lose Vorlage zu begreifen – und vor dem Kinobesuch nicht noch einmal hineinzuschauen. Danach lässt sich Thompsons Original hingegen wieder bestens genießen. Yo ho, and a bottel of rum.


Rum Diary
Buch & Regie: Bruce Robinson
Darsteller: Johnny Deep, Aaron Eckhart, Amber Heard
USA, 120 Minuten, FSK: 12

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Freitag, 6. Juli 2012

Der Bauch des Glücks: 17 Mädchen

Alles besser machen als die eigenen Eltern. Nie mehr alleine sein. Und für immer bedingungslos geliebt werden. So lauten die Gründe, die Camille (Louise Grinberg) in „17 Mädchen“ dazu bewegen, ihr Baby zu bekommen, als sie ungewollt schwanger wird. Ihren besten Freundinnen verkündet sie diesen Entschluss mit strahlenden Augen in der Schulmensa. Und die reagieren weder verwundert noch ängstlich, sondern nehmen das Strahlen der Freundin auf – künftig sind Babys, schwangere Körper und Erziehung ihre Themen.

Mit 17 hat man noch Träume – oder? (Foto: Verleih)
So viel ist klar, der Gedanke, ein besseres Leben führen zu wollen, kann einem schon kommen, als Teenager in einem aussterbenden französischen Kaff. Vor Wut auf die Verhältnisse, Langeweile, aus Liebeskummer, Frust mit den Eltern, Verunsicherung oder der Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben, das noch so unfrei scheint. Ob dagegen ausgerechnet eine Schwangerschaft hilft, darf allerdings angezweifelt werden – so wie grundsätzliche der Mechanismus, schwanger zu werden, um die eigenen Lebenssituation magisch zu verbessern.

Camille aber beschwört die Chancen, die ihr das eigene Baby bieten wird, derart eindringlich, dass ihre Freundinnen sich nach und nach entscheiden, ihr Heil ebenfalls in der Schwangerschaft zu suchen. Unter den ungläubigen Augen der Schulkrankenschwester lässt sich Mädchen um Mädchen einen Schnelltest aushändigen, tanzen die Teenagerinnen beglückt singend und lachend durch die Schulflure, wenn sie die Bestätigung dafür erpieselt haben, zur Gruppe der Schwangeren zu gehören. Und anschließend wird das Leben am Strand mit Alkohol und einem Joint gefeiert – mit 17 ist man schließlich unverwundbar, schwanger hin oder her. Und über das Baby als echten Menschen wird ohnehin nicht wirklich nachgedacht, nur über seine Rolle als Schlüssel zum Glück der Mutter.

Männer übrigens spielen in diesem Szenario erst recht keine Rolle: Väter sind ebenso unerwünscht wie Eltern. Sex als Mittel zum Zweck – und als die Jungs mitbekommen, dass sie den Mädchen zur Befruchtung herhalten sollen und plötzlich gar nicht mehr so scharf sind auf Beischlaf, wird ihnen von den findigen jungen Damen schon mal ein Fünfziger für den Klo-Quickie angeboten. Ist ja schließlich eine Investition in die Zukunft…

Schwangerschaft als Lifestyle, der wachsende Bauch als trotziges Accessoire und Mutterschaft als Lösung aller irdischen Probleme – je länger der Film dauert, umso verwunderter reibt der Zuschauer vor der Leinwand sich die Augen. Natürlich ist es charmant, 17 hübschen, jungen Mädchen beim Träumen zuzusehen. Selbstverständlich hat die Geschichte bezaubernde Momente, wenn sie von den innigen Freundschaften und vom Zusammenhalt der Clique erzählt. Ohne Frage beeindrucken die jungen Schauspielerinnen und verwöhnt die Kamera den Zuschauer mit traumhaften Bildern. Und natürlich warten die Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin mit einem starken, schönen Motto auf, wenn sie beteuern: „Nichts kann ein träumendes Mädchen aufhalten.“

Wie unkritisch der Film seine Protagonistinnen auf ihrer Reise begleitet, irritiert bei diesem Thema dennoch gewaltig. Quasi als Gegenentwurf dazu, wie die Frauenbewegung einst ihr Recht auf Abtreibung als wichtigen Teil weiblicher Selbstbestimmung einforderte, feiert „17 Mädchen“ die Schwangerschaft als ein, nein das Mittel, um dem eigenen Leben Inhalt und Perspektive zu geben. Ist diese These ohnehin schon nicht allgemeingültig, wirkt sie als Lösungsentwurf für Teenager schlicht verantwortungslos – da hilft angesichts von Thematik und Genre auch der Einwand nicht, dem Film ginge es nicht um Realitätsnähe.


17 Mädchen
Buch & Regie: Delphine & Muriel Coulin
Darsteller: Louise Grinberg, Juliette Darche, Roxane Duran
Frankreich, 86 Minuten, FSK: 12

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Dienstag, 5. Juni 2012

Liebeserklärung mit Biberfellmütze: Moonrise Kingdom

Es hätte nicht viel gefehlt am Ende von „Moonrise Kingdom“, und die Zuschauer wären in Applaus ausgebrochen. Kein Wunder. So nah wirkte der Film, so lebendig – man fühlte sich eher, als falle der letzte Vorhang im Theater. Verklinge die letzte Zugabe bei einem atemberaubenden Konzert. Stattdessen – die Kinoleinwand, dunkel nun. Und noch ein Vergleich – dieses Auftauchen, wie aus einem Buch, beinahe; so weit die Rückkehr. Als habe man einen verzauberten Wald verlassen. Und trage nun etwas von diesem Zauber in sich.

Die Crew für die beste Unterhaltung. (Foto: Verleih)
Ein Feuerwerk der Kreativität, die Formulierung klingt ein wenig bemüht. Und gilt für den neuen Film des Texaners Wes Anderson doch in bestem Sinne. Denn der strotzt nur so: vor Kreativität und Ideen, vor Spielfreudigkeit der Darsteller, vor Farbe, Wärme, Gefühl und Geräusch – vor Magie und entzückenden Einfällen.

Es ist nicht seine Geschichte, die ihn zu etwas so besonderem macht, sondern die leichte, verspielte Hand, mit der Anderson sie erzählt. Die sympathische Skurrilität der Darsteller, die knallbunten Bilder, der absolute Wille zum Abstrusen. All das hätte auch daneben gehen können;das  tut es schließlich oft genug. In „Moonrise Kingdom“ aber fügen sich die einzelnen Teile zu einem wunderbaren und berührenden Puzzle, das man nicht mehr vergisst.

Sam liebt Suzy. Suzy liebt Sam. So weit, so gut – nur, dass Sam (Jared Gilman) und Suzy (Kara Hayward) im Sommer 1965 gerade zwölf Jahre alt sind. Und sich deswegen von den Erwachsenen mit der absurden Vorstellung konfrontiert sehen, ihr gemeinsames Leben noch einige Jahre aufschieben zu müssen. Dem wollen sich die beiden nicht fügen und flüchten gemeinsam; ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wenn das eigene Zuhause Teil einer geradezu lächerlich kleinen Insel ist, der sich ein Sturm unbekannten Ausmaßes nähert. Und doch nicht hoffnungslos.

Für die Erwachsenen bedeutet die Flucht der Kinder nichts als Scherereien. Scout Master Ward (Edward Norton) muss ob des verlorenen Schützlings um seine Position innerhalb der Pfadfindergruppe fürchten, Inselpolizist Captain Sharp (herrlich selbstironisch: Bruce Willis), darum bangen, seine Affäre mit Suzys Mutter (Frances McDormand) könne auffliegen. Und die Mutter selbst wirkt ohnehin verbogen. Im Zweifel davon, neben ihrer Familie herzuleben, die die Anwältin im weitläufigen Anwesen schon mal per Megafon zu Tisch bittet.

Derweil schlagen Sam und Suzy ihr Lager am Strand auf. Reden über Bücher und Musik. Fangen Fische und grillen. Überwinden trotz allen gebotenen Ernstes ihrer Liebe federleicht deren erste Krise (Suzy offenbart sich Sam und der lacht sie aus), tanzen – und Sam darf beim Küssen Suzys Brüste berühren. Da hat er ihr bereits Ohrringe aus Angelhaken gebastelt und ihr damit, weil Suzy gar keine Ohrlöcher hat, selbige gestochen. Und unter seiner Biberfellmütze heraus hat er dem Mädchen mit dem knalltürkisenen Lidschatten, das für ihn den magischen Feldstecher abgenommen hat, seine Liebe gestanden; sie hat das Bekenntnis erwidert.

Der Soundtrack, den Alexandre Desplat dem Film als gar nicht so heimlichen Hauptdarsteller mitgegeben hat, ist dabei regelmäßig mehr als das: Fällt mit einem Schnitt in die Szene, wenn die Musik diese plötzlich nicht mehr abstrakt umschmeichelt, sondern Hank Williams aus Captain Sharps Autoradio durch die Einsamkeit des traurigen Bullen bricht – wunderbar.

Sharp ist es auch, der aus der eigenen Melancholie die Traurigkeit der beiden Ausreißer begreift. Ihr Glück darüber, in ihrem Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein, ein Gegenüber gefunden zu haben. Der dieses Glück ernst nimmt, ohne dass Anderson ihn dafür aus der Verantwortung lässt, die Zuschauer auch zum Lachen zu bringen. Und der sich schließlich so weit auf die Seite von Sam und Suzy schlägt, dass der Rest der apathischen, desillusionierten Welt der Erwachsenen sich mitschlagen lässt, lassen muss.

Das Ende des Films gerät denn auch etwas kitschig, doch das ist verzeihlich. Schließlich haben wir es hier mit einem Märchen zu tun, irgendwie. Was aber nicht bedeutet, dass sich darin keine kleinen Weisheiten über das Leben finden ließen. Wen man sich nur traut, hinabzusteigen in die Seelenbilder des Wes Anderson. Im wahrsten Wortsinn: großes Kino.


Moonrise Kingdom
Buch: Wes Anderson, Roman Coppola
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Bill Murray, Bruce Willis, Tilda Swinton
USA, 94 Minuten, FSK: 12

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Donnerstag, 26. April 2012

Das Mädchen und der Star: My Week with Marilyn

„Liebst du mich, Colin?“, fragt die junge blonde Frau. Aufgelöst in ihrer eigenen Verunsicherung. Betäubt von den ewigen Tabletten. Und so offensichtlich alleine, dass es einem nach dem Herzen greift. „Ja“, antwortet der, und weiter: „Du bist wie eine griechische Göttin für mich.“ Ganz so, als ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hätte. „Ich bin keine Göttin“, flüstert sie. Dann, noch leiser: „Ich will nur wie ein ganz normales Mädchen geliebt werden.“ Und damit ergibt sich das Mädchen, das für einen kurzen Moment aufgeblitzt war hinter der Fassade des Stars, wieder in ihre Rolle – die der Marilyn Monroe.

Für die Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ reist die Schauspielerin im Sommer 1956 nach England. Laurence Olivier will seiner Komödie mit der „berühmtesten Frau“ der Welt das gewisse Etwas und sich als Hauptdarsteller einen Jungbrunnen verpassen. Und Marilyn Monroe fühlt sich, trotz der eindeutigen Genrezuordnung des Films, durch Oliviers Ruf als ernsthafte Schauspielerin gefordert – ein Missverständnis.

Michelle Williams als Marilyn Monroe. (Foto: Verleih)
Denn Regisseur Olivier hat erst keine Ahnung, worauf er sich mit seinem kapriziösen Star einlässt, und dann keine Nerven, um auf die Schauspielerin einzugehen. Schließlich soll die nur hübsch mit dem Po wackeln und dafür sorgen, dass er daneben gut aussieht. Stattdessen verschafft sie ihm graue Haare, weil sie regelmäßig um Stunden verspätet am Set auftaucht. Und treibt ihn in den Wahnsinn, weil sie auch dann nur spielen kann, wenn sie mit Hilfe von Paula Strasberg ihre Rolle fühlt.

So wenig Marilyn die Rolle fühlt, so sehr ist sie sonst von ihren Emotionen bestimmt. Wenn sie denn ihr gehören, die Gefühle, die scheinbar unkontrolliert durch ihren begehrten Körper rauschen – immerhin, es könnten auch einfach Reaktionen ihres Nervensystems auf die vielen Tabletten sein, mit denen sich die Schauspielerin durch den Tag hilft. Denn auf diese, wie unzählige andere Formen von Unterstützung, ist der labile Star längst angewiesen.

Dass ihr dritter Ehemann Arthur Miller ihr diese entzieht, indem er während der Dreharbeiten für eine Woche zurück nach New York reist, empfindet Marilyn deshalb wie einen neuen Teil in der scheinbaren Fortsetzungsgeschichte ihres Lebens: sie wird verlassen, wieder. In ihrer tief empfundenen Verunsicherung scheint sie nach dem Augenpaar Ausschau zu halten, das sie mit der größten Bewunderung anschaut – es sind die des dritten Regisseurs, Colin Clark.

Auf dessen tagebuchartigen Veröffentlichungen über seine Woche(n) an der Seite des Stars während der Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ basiert der Film „My Week with Marilyn“ von Simon Curtis – vielleicht ist es also nicht Curtis' Schuld, dass der inhaltlich arg belanglos daher kommt: Allein die Tatsache, dass sich ein Star darin tummelt, muss ein fremdes Tagebuch ja noch nicht interessant machen.

Da ist es nur folgerichtig, dass der Regisseur sich weniger auf Clarks dünnes Geschichtchen über die angebliche Liaison verlässt als auf die Stärke der erwähnten Figuren. Die durchweg großartig besetzt sind: Julia Ormond verleiht ihrer Vivienne Leigh Würde und Kraft, Zoe Wanamaker verhindert konsequent negative Gefühle gegenüber ihrer Paula Strasberg, Kenneth Branagh als Laurence Olivier ist der personalisierte Nervenzusammenbruch auf Zeit und schließlich, zum Niederknien: Judi Dench als humorvolle, warmherzige Sybil Thorndike.

Die Stars des Films aber sind, titelgerecht, Marilyn Monroe – und die wunderbare Michelle Williams, die ihre Rolle weniger spielt als sich ihr hinzugeben. So bezaubernd der Augenaufschlag, das Lachen, der Hüftschwung. So überzeugend die Angst, das Zittern, die Verzweiflung. Ihre eigentliche Leistung aber besteht darin, in einem Film, der vermeintlich von der Fremdbestimmtheit des als Norma Jeane geborenen Stars erzählen will, diesen Trugschluss aufzulösen: Marilyn Monroe, das war nie mehr als eine Rolle. Und so unglücklich diese das Mädchen Norma Jeane auch oft gemacht haben mag, war es letztlich sie, und nur sie, die diese Rolle kontrollierte.

Weil sie sich bewusst dafür entschieden hat, das Mädchen, das scheinbar niemand lieben konnte, aufzugeben für den Star, den allen bewundern. Auch wenn der Preis dafür war, selbst genau das zu tun, was sie allen anderen zum Vorwurf machte – dieses Mädchen zu verlassen.


My Week with Marilyn
Buch: Adrian Hodges
Regie: Simon Curtis
Darsteller: Michelle Williams, Julia Ormond, Eddie Redmayne
USA, 99 Minuten, FSK: 6

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Mittwoch, 28. März 2012

Take Shelter – Im Auge des Sturms

Letztlich geht es in Jeff Nichols’ Film „Take Shelter“ vor allem um eines: Vertrauen. Wem kann ich noch trauen, wenn ich mir selbst zu misstrauen beginne? Können die Menschen, die ich liebe und die mich lieben mir auch dann vertrauen, wenn ich keine Erklärung für mein eigenes Verhalten finde? Und wie weit darf oder muss dieses aus der Liebe geborene Vertrauen gehen? Nichols’ Antwort ist denkbar einfach: Vertrauen ist die Grundlage für jede zwischenmenschliche Beziehung, die er auf der Leinwand zum Leben erweckt. Und wenn man sein ambivalentes Ende denn hoffnungsvoll deuten mag, dann im Zusammenhalt seiner Figuren – die sich entschieden haben, einander vollkommen zu vertrauen.

Curtis mit Tochter Hannah und Ehefrau Samantha. (Foto: Verleih)
Curtis laForche (Michael Shannon) hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt: Ehefrau, Tochter, Hund, Häuschen, Job – und für jedes Problem (wie die Gehörlosigkeit der Tochter) gibt es eine Lösung (in diesem Fall: seine außergewöhnlich gute Krankenversicherung). Diese Idylle ist echt, mag Curtis auch beim Plausch mit Kumpel und Arbeitskollege Dewart (Shea Wigham) nach dessen Prahlerei, er plane einen Dreier mit seiner Gattin und einer Internetbekanntschaft, leicht bedauern, so etwas sei mit seiner Frau nicht denkbar. Aber – diese Idylle ist auch bedroht, das spüren Curtis und die Zuschauer von Anfang an; nicht nur, weil der Regen, der auf den Familienvater herunterprasselt, eine unerklärliche, ölige Konsistenz hat.

Wem vertraue ich meine Ängste und Zweifel an, wem meine (vermeintliche) Schwäche? Es sind nicht nur seine Visionen vom öligen Regen, die Curtis zu schaffen machen, sondern auch seine Albträume. In denen unglaubliche Stürme aufziehen, Schwärme von Vögeln den Himmel verdunkeln, schließlich aus ihm heraus fallen, seine Tochter in Gefahren gerät, vor denen er sie nicht schützen kann – und die Welt aus den Fugen. Auch, weil Curtis nicht mehr weiß, wem er noch trauen darf: Es sind in diesen Albträumen gerade die Menschen, die er am meisten liebt, die ihn bedrohen, angreifen und verletzen. Und so, wie diese Visionen und Albträume ineinander übergehen und miteinander verschmelzen, greift beides in seine Realität. Wird er gerade wahnsinnig? Oder sind seine Träume Vorboten auf ein drohendes Unheil? Und wenn sie Vorboten sind, heißt das, dass er den Menschen, die ihn darin verraten, auch im Leben nicht mehr vertrauen kann?

Nichols bietet gleich mehrere mögliche Erklärungen für das, was mit Curtis passiert. Mag sein, der Vorarbeiter sieht tatsächlich Dinge, für die seine Umwelt kein Gespür hat. Oder der Familienvater ist krank, verliert den Verstand: Seine Mutter (Kathy Baker) war etwa in seinem Alter, als bei ihr psychotische Schizophrenie diagnostiziert wurde. Gerade zu ihr bemüht sich Curtis zuerst um ein gewisses Vertrauen, mit seinem Besuch in ihrem Heim; der aber scheitern muss. Dennoch, der rationale Curtis scheint sich zunächst mit der Variante, seiner Mutter in ihre Krankheit zu folgen, fast am wohlsten zu fühlen und beginnt eine Gesprächstherapie.

Obwohl der Boden, über den der Familienvater tastend geht, schwankt unter seinen Schritten, ist es immer wieder er selbst, dem Curtis vertraut, gibt er den Glauben an seine eigene Wahrnehmung nie auf. Und folgt den Warnhinweisen, die er daraus bezieht, in der festen Hoffnung, so die Menschen schützen zu können, die er liebt – auch wenn es zunächst wirkt, als würde er durch sein Handeln alles zerstören. „I’m doing this for us. I know you don’t understand.“ Zwei Sätze, in denen Curtis’ ganzes Dilemma liegt. Und die letztlich eben diesen Glauben an sich selbst ausdrücken – in dem er sich seiner Frau Samantha (großartig: Jessica Chastain) schließlich auch anvertraut. Von seinen Albträumen und Visionen erzählt. Und so ihr Vertrauen zurückgewinnt, mitten im scheinbaren Wahnsinn, der ihn dazu treibt, den Sturmbunker hinterm Haus auszubauen – obwohl doch alle Finanzen in die Gesundheit der Tochter fließen sollen.

Der Rest seiner Umwelt freilich rückt immer weiter vom scheinbar in den Irrsinn driftenden Curtis ab; zuletzt auch Dewart, der gemeinsam mit seinem Freund den Job verliert, nachdem der unerlaubt Werkzeug und Maschinen aus der Firma geliehen hat – für seinen Bunker. Auf einer Feier, zu der die Familie geht, weil Samantha „something normal“ braucht, etwas Normales, zum Luft holen, zum Kraft schöpfen, kommt es zum Eklat, als Dewart Curtis angreift – so lange, bis der explodiert. „You think I’m crazy?“, brüllt der Hüne, nachdem er einen Tisch umgeworfen hat, als sei es ein Glas Wasser. „There’s a storm coming like nothing you have ever seen and not one of you is prepared for it!“ Die Gesellschaft zittert und schweigt. Tochter Hannah (Tova Stewart) schaut den Vater aus großen Augen an – ist es Angst, die darin liegt? Wird Samantha das Kind – nun doch – an der Hand nehmen und wegführen, von hier, vom Vater, und wird das mühsam erkämpfte Vertrauen brechen?

Regisseur Nichols selbst sagt über seinen Film: „I think it’s a lot about communication. We all carry these fears and doubts. They will always be there, whether it’s fear of the government collapsing, or the environment, or you can’t pay your bills, whatever. We’ll always have something to worry about. And I think where relationships maybe get damaged is in people not sharing those fears with their significant others. That seemed like an answer to me, and an interesting ending for this problem that I’d built up in this film.“ So kommt es, dass dessen Ende schließlich weniger ambivalent ist, als es zunächst scheinen mag.

Die Frage, ob Curtis tatsächlich krank ist oder nicht, ob der Sturm nun kommt oder der dunkle Himmel ein falscher Alarm ist, ob die apokalyptischen Bilder des Filmes und die Visionen seiner Hauptfigur Parabeln sind auf unsere, auf die amerikanische Gesellschaft im Hier und Jetzt – all das ist letztlich nicht wesentlich. Wesentlich ist das Kleine im Großen. Wichtig sind die Beziehungen, die wir führen. Worauf es ankommt sind die Sprache, die wir wählen und der Weg, den wir gehen. Wenn wirklich ein Sturm kommt, das Ende der Welt, fehlen uns allen die Mittel, um das aufzuhalten. Aber wir entscheiden, wie wir unser Leben bis dahin gestalten. Was uns wichtig ist. Und wen wir an der Hand halten, wenn die Apokalypse uns trifft. Das mag auf dem Papier kitschig klingen, bei Jeff Nichols ist es jedoch ganz große Kinokunst.

Take Shelter
Buch & Regie: Jeff Nichols
Darsteller:  Michael Shannon, Jessica Chastain, Shea Wigham
USA, 121 Minuten, FSK: 12

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Freitag, 9. März 2012

Der Knoten der Distanz: Barbara

Es dauert bis kurz vor Schluss, dann vermag Christian Petzolds „Barbara“ endlich zu berühren: für einen kurzen Moment, immerhin. Die Leinwand ertrinkt in kühlem Nachtblau. Barbara (Nina Hoss), Ärztin, aufgrund eines Ausreiseantrages 1980 von Berlin in die Provinz verschickt, sitzt am Ostseestrand und blinzelt gegen die Tränen. In ihrem Schoß liegt die aus dem Jugendwerkhof Torgau geflohene Stella (Jasna Fritzi Bauer) und Barbara wird, so viel ist klar, gleich auf ihre vorbereitete Flucht in den Westen verzichten – und stattdessen das Mädchen schicken.

Bitte recht unnahbar: Nina Hoss als Barbara. (Foto: Verleih)
Die Geste, so nobel und übermenschlich auf der einen Seite, ist auf der anderen alles andere als das. Lediglich ein Trotz nämlich, konsequent zumindest in der Ausgestaltung der Figur. Im Westen wartet zwar der Geliebte, das gelobte Land; aber der Traum vom Leben dort funktioniert für Barbara nicht mehr. Seit nämlich der Mann, von dem sie sich geliebt fühlte und verstanden, ihr zwischen den Laken des Interhotels zugeraunt hat, in ihrem neuen Leben brauche sie nicht mehr zu arbeiten: Als ob eine wie sie denkbar wäre ohne ihren Job.

Nina Hoss spielt Petzolds Barbara mit nur einem Gesichtsausdruck – spöttisch – dafür aber mit zwei Frisuren: Der streng gezurrte Knoten, um ihre Unnahbarkeit zu verdeutlichen und die offene Lockenpracht immer dann, wenn sie sich am Leben verletzt, Demütigung erfährt. Subtil ist anders, aber der Film ist auf eine seltsame Weise offensiv, bisweilen fast plump in seinen Aussagen.

Unübersehbar brennt ihr Kollege André (Ronald Zehrfeld) für die Neue aus Berlin. Überdeutlich hält Barbara die Distanz zu allem und jedem. Für Zwischentöne ist da kein Platz und mag sein, es ist Petzolds Weg um ein Regime zu beschreiben, in dem diese gleichfalls fehlten – dem Film aber nutzt es nicht. Ebenso wenig wie die nun wirklich ausschließlich plumpe Episode über den Stasimann, der Barbara bespitzelt, quält und überwacht und dessen Frau gerade der Krebs dahinrafft. Es ist eine Aussage ohne Wert, dass der Verlust eines geliebten Menschen auch dieses kaltherzige Arschloch beutelt: Oder glaubte tatsächlich irgendwer, ein Diktator weine nicht am Grab seines Kindes?

Offensichtlich ist auch, dass Barbara Nähe zwar abblockt, aber eigentlich doch sucht, augenscheinlich sind ihre tiefen Verletzungen, die sie auf Wunden anderer mit großer Empathie reagieren lassen. Und Petzolds Film zeigt beides mit großer Eindringlichkeit: Die fast nackte Ärztin im eigenen Badezimmer, hilflos einem System ausgeliefert, dessen Durchsuchungen in der Wohnung anfangen und vor dem menschlichen Körper nicht Halt machen. Die schreiende Stella beim Abtransport zurück nach Torgau, kurz aufgefangen in den Armen der Ärztin – das sind Momente, die haften bleiben. Trotz aller Distanz und Sprödigkeit, die der Film auch in diesen Szenen bewahrt.

Am Ende fügen sich die einzelnen Teile nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Die nicht-angetretene Flucht gibt, so sehr der Zuschauer es besser weiß, André das Gefühl, Barbara habe sich irgendwie für ihn entschieden. Stella wird, zwar gut gemeint, aber vollkommen ohne Schutz, in ein neues Leben beinahe ausgeliefert. Und wie Barbara auch nur einen weiteren Tag in diesem System überleben will, dahinter steht das größte Fragezeichen.

Unterm Strich fühlt man sich ein wenig, als habe man gerade schlicht eine mäßige Lovestory gesehen, bei der die DDR weniger Thema als Setting ist – verschenkt.


Barbara
Buch & Regie: Christian Petzold
Darsteller: Nina Hoss, Jasna Fritzi Bauer, Ronald Zehrfeld
Deutschland, 105 Minuten, FSK: 6

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Donnerstag, 15. Dezember 2011

Ruth Johanna Benrath: Wimpern aus Gras

Wimpern aus Gras. (Foto: Verlag)
„You didn’t adress my husband as a part of me.“ Mit diesem Satz endet die Freundschaft zwischen Anna und Rena, diesem und einer Handvoll Wutworte, die Anna aus ihrer neuen Heimat Amerika schreibt; die Entfremdung hat freilich bereits viel früher begonnen. Rena braucht ein Wörterbuch, um Annas Vorwurf zu verstehen. Und lernt, dass es im Englischen zwei Formen der Anrede für Frauen gibt – Ms. und Mrs. – je nach dem, ob verheiratet oder nicht. In der darauffolgenden Zeit wird die Protagonistin des Romans „Wimpern aus Gras“ vieles nachschlagen, denn Annas Ehemann Reiko hat der Studentin das Tagebuch seiner Frau zusammen mit ihrer Todesanzeige nach Heidelberg geschickt.

So fragmentiert, verschachtelt und manchmal geheimnisvoll die Sätze sind, auf die Rena in diesem Tagebuch stößt, webt Ruth Johanna Benrath auch ihre zarte Geschichte über Freundschaft, Liebe, Verlust und Identität. Zumeist angestoßen von Annas rätselhaften Niederschriften entfaltet die Autorin das Leben der Verstorbenen ebenso behutsam wie das der zurückgebliebenen Freundin – und über die beiden Frauen erklärt sie die Rolle des Mannes, der im Leben zu ihrer Trennung beitrug und nun, nach Annas Tod, eine Art Wiedervereinigung ersehnt. Neben der intensiven Entwicklung der Figuren steht die Sprache im Fokus des Romans. Wie verbindend diese in bestimmten Momenten sein kann und welch enorme Distanz sie in anderen zu verschaffen vermag, lernen Benraths Figuren auf verschiedenste Weise.

Annas Großmutter ist Amerikanerin, und so selbstverständlich es in ihrem Elternhaus ist, zwischen den Sprachen zu springen, so schwierig empfindet es Rena beizeiten, diesem Wechsel zu folgen und in der fremden Sprache auch jedes Detail zu verstehen oder ausdrücken zu können. Als das Leben die Heldinnen des Romans an verschiedene Orte trägt, bleibt ihre Nähe zueinander zunächst in den Briefen erhalten, die zwischen ihnen hin und her gehen. Mit der Zeit aber werden genau diese zum Ausgangspunkt für Missverständnisse, die über Wut in die Sprachlosigkeit und zuletzt dem Ende der Freundschaft führen.

Für Anna bietet das Englische einen sicheren Rückzugsort, an den sie flüchtet in Momenten, von denen sie sich überfordert fühlt. Damit hinterlässt sie der besten Freundin in ihrem Tagebuch noch viel mehr Rätsel, als wenn sie dieses in der gemeinsamen Muttersprache geführt hätte. Wie intensiv Rena sich in das Ergründen dieser Geheimnisse hineinbegibt, lässt die Grenzen zwischen ihr und der toten Freundin immer mehr verschwimmen vor den Augen des Lesers – und ist von der ersten bis zur letzten Seite so ungewöhnlich wie lesenswert geschrieben.

Ruth Johanna Benrath
Wimpern aus Gras
217 Seiten
Verlag: suhrkamp nova
Preis: 13,95 Euro

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