Posts mit dem Label Kino:Gänger werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Kino:Gänger werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 16. Januar 2014

Inside Llewyn Davis – Home Is Where The Music Is


Angelehnt ist die Geschichte des neuen Films der Coen Brüder an die posthum erschienene Autobiografie des Musikers Dave van Ronk. Eigentlich aber geht es „Inside Llewyn Davis“ nicht um die Geschichte einer einzelnen Person, das machen schon die ersten Bilder dieses Filmes klar. Ein Mikrofon ist da zu sehen, umspielt vom Bühnenlicht des „Gaslight Café“ in Greenwich Village, zart umtanzt vom Staub, der dort ansetzt, während jeden Abend mehr oder weniger erfolgreiche Künstler versuchen, bei ihren Auftritten irgendjemanden auf sich aufmerksam zu machen, der ihnen einen Vertrag geben wird, von dem sie künftig die Miete zahlen können. Um diese Musiker, mehr noch: eben ihre Musik geht es eigentlich; und auch das ist erst die halbe Wahrheit.

Music was my first love...
Besondere Glücksmomente hat das Leben für Llewyn Davis (grandios: Oscar Isaac) derzeit nicht im Programm. Der Musiker ist so abgebrannt, dass es ihm am Mindesten mangelt – einem Mantel gegen die winterliche Kälte und einem Dach über dem Kopf. Und so, wie er tagsüber zwischen Bar, Produzent und (an guten Tagen) dem Aufnahmestudio hin und her tingelt, macht er sich jeden Abend auf die Suche nach einer Couch, auf der er diese Nacht verbringen kann – und mit etwas Glück vielleicht noch eine zweite. Womit spielerisch das zweite große Thema des Films etabliert ist, denn er handelt auch davon, unterwegs zu sein, jedoch nicht freiwillig, sondern weil ein fester Ort fehlt, an den man zurückkehren kann.

Sein Partner, mit dem Llewyn einst die erste Platte einspielte, hat sich das Leben genommen, der Vater lebt im Pflegeheim und seine Schwester findet ihn und sein Künstlerdasein arrogant – spart aber ihrerseits nicht mit Arroganz gegenüber dem Bruder. Davis ist mindestens müde, eher ausgebrannt, er ist genervt und frustriert und im Leben völlig entwurzelt. All das aber gerät in Vergessenheit, wenn er zur Gitarre greift – da ist sie wieder, die Musik, die diesem Film ebenso Leben einhaucht wie seinem Hauptdarsteller. In der er von eben diesem Leben und all seinen Widrigkeiten erzählt, so berührend und intensiv, dass die Welt einen Moment lang inne hält, weil nichts anderes zählt.

Es mag sonst nichts geben, womit dieser Llewyn Davis sich im Leben sicher ist – von seiner Musik aber ist er vollkommen überzeugt. Man mag es als Kurzsichtigkeit oder gar Arroganz verurteilen, wenn er das Angebot von Musikproduzent Bud Grossmann (angelehnt an Albert Grossmann, herrlich unterkühlt gespielt von Fahrid Murray Abraham) ablehnt, als Teil eines Trios zu spielen, nachdem er diesen mit seinem Solovortrag nicht zu überzeugen vermochte. Man kann es aber auch mutig nennen und konsequent, weil er sich das, was ihm so unfassbar wichtig ist, nicht für Geld verbiegen lässt. Was ihn allerdings nicht davor schützen wird, in einer der nächsten Nächte auf fremden Sofas mit der traurigen Realität zu hadern, dass auch diese mutige Konsequenz ihm leider seine Miete nicht zahlt.

Mutig, konsequent, aber ohne Dach über dem Kopf.
Um vom Vorabend einer Zeit zu erzählen, in der Bob Dylan sich bald anschicken würde, die Folkmusik von eben jenem Greenwich Village aus auf ihre erfolgreiche Reise um die Welt zu schicken, picken sich Joel und Ethan Coen einen jener Musiker, die es nicht geschafft haben – und das ist ein Glück. Denn diese Zeit war voll von ihnen, so wie vermutlich jede Zeit voll ist von Künstlern, die es verdient hätten, entdeckt zu werden, aber eben nie „zur rechten Zeit am rechten Ort“ sind; was immer das auch heißen mag... Genau deren Geschichten sind es aber, die zu erzählen es wert ist, in all ihrer Menschlichkeit und Tragik, mit all dem Pech und den Schicksalsschlägen, kurzum – den Realitäten dieses Lebens. Und die Brüder tun dies mit viel Liebe zum Detail, nicht nur in Sachen Setting und Ausstattung, sondern auch bezüglich ihrer Figuren, von denen einige angelehnt sind an solche, die in dieser Zeit tatsächlich gelebt und eine Rolle gespielt haben. (Herausragend ist dabei unter anderem John Goodman in seiner Rolle als draufgeschickter Jazzsänger, mit dem sich Davis eine qualvolle Autofahrt lang den Wagen teilt und der sowohl durch Dr. John als auch Doc Pomus inspiriert wurde.)

Oberflächlich gesehen erzählt „Inside Llewyn Davis“ die Geschichte eines kontinuierlichen Scheiterns. Davis scheint bereits an einem Tiefpunkt angekommen, als der Zuschauer ihm begegnet, aber egal, wie sehr er sich im Folgenden abmüht, er scheint vom Pech verfolgt: Es läuft ihm einfach alles schief. Da ist zum einen Jean, verheiratet mit seinem Kumpel Jim und schwanger – vermutlich von Llewyn. Aus der vordergründig unangenehmen Situation, sich von ihr wüst beschimpfen zu lassen, erwächst das Problem, für den Eingriff zu bezahlen, bei dessen Vorgespräch er vom ausführenden Arzt nebenbei auch noch erfährt, er ist Vater: Die Exfreundin hat das gemeinsame Kind ohne sein Wissen in letzter Minute nicht abgetrieben, sondern zieht es bei ihren Eltern groß.

Is the cat your act? Did you bring your penis along, too?
Dieses Wissen begleitet ihn ebenso durch den Film wie die Katze der Gorfeins, bei denen er häufig übernachtet. Weil ihm das Tier aus der Wohnung entwischt, deren Tür darauf prompt ins Schloss fällt, wird sie zu seinem Begleiter; allerdings nur, bis sie ihm erneut durchbrennt – diesmal aus dem Fenster der Wohnung von Jim und Jean. So selten der Glücksmoment, als er sie am nächsten Tag im Village entdeckt, so schnell ist der denn auch wieder entlarvt: Es ist die falsche Katze, die er den Gorfeins bringt; es folgt das hysterische Ende eines Abends, der ohnehin bereits außer Kontrolle geraten war – die „falsche Katze“ aber bleibt ihm erhalten.

Dank Jim hat Llewyn derweil einen Song mit eingespielt, der bald hohe Tantiemen verspricht – blöd nur, dass er auf diese verzichtet hatte, um sich das Geld direkt auszahlen zu lassen: für die Abtreibung. Erst scheint es wie ein richtig schlechter Tag, an dem wir Llewyn erwischen, bald wird eine ganze Woche daraus und ganz ehrlich, die Chancen, dass es für ihn demnächst tatsächlich besser wird, stehen nicht besonders: Immer dann, wenn er glaubt, nicht mehr tiefer fallen zu können, setzt es den nächsten Nackenschlag. Wie er die allesamt erträgt, mag stoisch erscheinen, es liegt aber eine große Würde darin, wie er sich auf den Beinen hält.

Entsättigte Farben und Liebe zum Detail. (Fotos: Verleih)
Bleibt die Frage, warum man sich einen Film anschauen sollte, in dem eine tragische Figur permanent auf die Fresse bekommt, letztlich sogar im wörtlichen Sinne, und zwischendurch zweifelnd und hadernd durch ein in entsättigten Farben eingefangenes, unfreundliches New York tapert, auf der Suche nach einem kleinen bisschen Glück – und nach einem Hafen, der endlich etwas wie Ankommen verspricht (es scheint kaum zufällig, dass Davis’ Brotjob einst ausgerechnet der eines Matrosen der Handelsmarine war – gleichfalls ohne feste Heimat auf dem Wasser unterwegs). Damit wären wir zurück bei der Musik, einerseits, zum anderen aber bei den Coen-Brüdern. Es ist ihr Humor und es sind die Songs dieser Zeit, die diesem Film so viel Hoffnung verleihen, dass es fast absurd anmutet; Hoffnung vor allem, die weit über seine Geschichte hinaus geht. Denn er erzählt, Absicht oder nicht, auch die Geschichte unserer Zeit, in der Menschen entwurzelt sind und auf der Flucht, in der Leute abgehängt werden von der Gesellschaft, in der sie leben und Kunst und Kultur an Stellenwert verlieren.

Das ist die eigentliche Kunst der Brüder, sich derart lakonisch und scheinbar belanglos mit den großen Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen, dass man sich tatsächlich unterhalten fühlt dabei – und für einen Kinobesuch lang vergisst, die beiden tun beinahe nichts anderes, als Realitäten abzubilden. Das aber mit einem verdammt guten Soundtrack.


Inside Llewyn Davis
Buch & Regie: Ethan und Joel Coen
Darsteller: Oscar Isaac, Carey Mulligan, Justin Timberlake, John Goodman
USA, 105 Minuten, FSK 6

Trailer „Inside Llewyn Davis“: http://bit.ly/J6aJo9
The Gaslight Café on MacDougal Street: http://bit.ly/1d2iKpO
Dave van Ronk – „Hang me, oh hang me“: http://bit.ly/1iWk9C1
David Haglund: The People who inspired Llewyn Davis: http://slate.me/1clFIY7

*


Montag, 23. September 2013

Top Flop: The Bling Ring


Die Geschichte
Zwischen dem Herbst 2008 und dem Sommer 2009 bricht eine Bande von Teenagern in die Villen etlicher Hollywoodstars und Celebrities ein. Obwohl die Gruppe auf ihren Beutezügen massenhaft Klamotten, Schmuck und Geld klaut, dauert es lange, bis sie tatsächlich auffliegt. Bis dahin sollen die Teenager allein in das Haus von Paris Hilton fünfmal eingestiegen sein – um in deren Kleiderschrank zu „shoppen“ und in ihrer Partylounge zu feiern.

Doch es sind die freigegebenen Überwachungsvideos von Hollywoodsternchen Audrina Patridge und der sich von Entzug zu Skandal zum nächsten Entzug schleppenden Lindsay Lohan, die schließlich den Stein der Geschichte ins Rollen bringen, an deren Ende die Festnahme der Jugendlichen steht. Für ihre ausgedehnten Diebeszüge müssen diese teils für mehrere Monate oder sogar Jahre ins Gefängnis, einige von ihnen kommen allerdings lediglich mit Bewährungsstrafen davon.

Shoppen ohne Preisschild.
Reality bites
Basierend auf wahren Begebenheiten also ist aus der Geschichte der raubenden Jugendlichen der Film „The Bling Ring“ entstanden, angelehnt an den Namen, den die Presse der Bande einstmals verpasst hat. Während deren mutmaßliche Anführerin Rachel Lee den sensationsdurstigen Reportern bis heute keine ihrer Fragen beantworten will, haben vor allem Alexis Neiers und Nick Prugo (einziger Junge innerhalb der Clique) die Öffentlichkeit nach ihren Festnahmen fast gesucht – und, klar: gefunden. Bis heute bloggt Neiers über ihr Leben, beide haben zudem Vanity Fair- Journalistin Nancy Jo Sales Rede und Antwort gestanden für einen Artikel, über den auch der Film den Einstieg in die Geschichte findet.

Bleibt die Frage offen, ob die Erzählung über den gelangweilten Nachwuchs im Windschatten der US-Glamourmetropole ein Thema ist, aus dem sich ein Film machen lässt, der etwas anderes bietet als eine schillernde Oberfläche? Mutmaßlich schon, zumindest, da Sophia Coppola ihre Finger als Regisseurin im Spiel hat, der berührende Momentaufnahmen jenseits des schönen Scheins bekannterweise beinahe mühelos von der Hand zu gehen scheinen.

Der Film
Aber manchmal irrt man sich auch einfach; oder lässt sich blenden von der Macht der Gewohnheit. Ja – Sophia Coppola hat mit Filmen wie ihrem Frühwerk „The Virgin Suicides“ oder zuletzt „Somewhere“ bewiesen, dass sie Figuren Mehrdimensionalität verleihen kann, ohne dabei moralinsauer zu werden, sie Geschichten zu Herzen gehend erzählen kann, ohne sich im Pathos zu verlieren – und dass sie auch die oberen Zehntausend zu porträtieren in der Lage ist, ohne lediglich Glitter abzubilden. Doch in „The Bling Ring“ gelingt der Regisseurin all das zuvor schon Gezeigte leider kein bisschen...

Jung und kaputt, aber oh so sexy. (Fotos: Tobis Film)
Der Film ergötzt sich an seiner eigenen Optik, feiert die Lichter der nächtlichen Stadt, den Glamour und Glitzer der Villen, in denen die Jugendlichen einsteigen. Er stachelt diese Kids an in ihrer Leichtigkeit; ist es überhaupt noch Einbrechen, wenn die doofen Promis irgendwo rund um ihre Villen immer eine Balkontür offen lassen, oder – wie Paris Hilton – sogar den Schlüssel unter der Fußmatte deponieren? Er verliert sich in endlosen Wiederholungen, die reichlich nervig daher kommen. Er ergötzt sich an den perfekt gestylten jugendlichen Körpern seiner Darsteller, die abends – per Slow Motion in Szene gesetzt – ihre eigene Coolness zu wummernden Beats in den angesagten Clubs der Stadt feiern: Mein Gott, sind wir cool! Sind wir sexy! Und sind wir kaputt, aber das macht uns ja nur umso mehr sexy!

Die Reaktionen
Nachdem Coppolas neues Werk auf den Filmfestspielen in Cannes zunächst gemischte Reaktionen hervorgerufen hat, bemühten sich Kritiker anschließend zu beteuern, der Tiefgang, den man von der Regisseurin gewohnt sei, spreche natürlich auch aus diesem Film – man müsse sich nur ein bisschen darum bemühen, ihn zu entdecken. Bullshit: Wäre der Film nicht von Coppola, sondern von irgendeinem Erstling, niemand könnte etwas, das auch nur ganz entfernt mit Tiefgang verwandt ist, darin erkennen. 

Vielmehr scheint es, als ob die Damen und Herren Kritiker nicht damit klarkommen, dass die junge Dame diesmal einen derart belanglosen, oberflächlichen Glitzerstreifen abgeliefert hat – das ist in der Tat auch sehr bedauerlich.


The Bling Ring
Buch: Sophia Coppola, Nancy Jo Sales
Regie: Sophia Coppola
Darsteller: Katie Chang, Emma Watson, Israel Broussard
90 Minuten, USA/UK/Frankreich/Deutschland/Japan, FSK: 12


*



Samstag, 17. November 2012

Mother’s little Helper: Was bleibt

Eigentlich sollte es ein entspanntes Wochenende mit der lieben Familie werden: Zu Papas Pensionierung kommt Marko (Lars Eidinger) samt Söhnchen zu Besuch zu seinen Eltern. Nicht im Gepäck ist die Kindsmutter, denn von der lebt er getrennt – was Mama und Papa aber nicht wissen sollen. Im Zug ein netter Flirt, doch am Bahnhof im elterlichen Kaff stellt sich die Dame als Freundin seines Bruders Jakob (Sebastian Zimmler) heraus; die Laune kann das aber nicht trüben.

Spaziergang mit Papa Günter (Ernst Stötzner), der von seinen Reiseplänen im Unruhestand berichtet. Ob die Mama… ? Nein, die wird nicht mitkommen; in all den Jahren habe er sich das Recht erworben, sich jetzt mal nur um sich zu kümmern. Seine Frau Gitte (Corinna Harfouch) weiß davon freilich nichts, die freut sich nach jahrzehntelanger berufsbedingter Fernbeziehung vielmehr darauf, ihren Gatten künftig mehr um sich zu haben.

„Kannst du sicher sein?“ Mutter & Sohn. (Foto: Verleih)
Beim Abendessen – Mama, Papa, die erwachsenen Söhne, einer mit Freundin, der andere mit Kind – der Donnerschlag: Mutti hat die Pillen abgesetzt. Immerhin, alles ändert sich, ihr Mann beschreitet neue Wege, da wolle auch sie einen neuen Schritt wagen. Die erhoffte Freude seitens ihrer Lieben allerdings bleibt aus, denn Mutti ist depressiv, auf ihre Pillen seit Jahren eingestellt – und wer will schon die Verantwortung dafür mittragen, dass es ihr auch ohne gutgehen wird? Eben.

Kein Verständnis demnach auch für Verständnis: Sohnemann Jakob, leidlich erfolgreicher Arzt mit eigener Praxis aus dem Portemonnaie des Vaters, herrscht den fernen Berlinbruder als naiv an, als Marko laut überlegt, ob in der Entscheidung der Mutter nicht auch eine Chance liegen könne? Kein Mut, sondern Schwachsinn und Rücksichtslosigkeit – und wieso meldet sich da überhaupt einer zu Wort, der die letzten Jahre nie da war; der die Angst nicht kennt davor, den Schlüssel ins elterliche Türschloss zu stecken und nur Schweigen zu hören.

Daneben drückt den Vater, von Stötzner leider stocksteif und leidlich glaubwürdig gespielt, ein ganz anderer Schuh: Die mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattete Gattin will ihn auf den anstehenden Reisen begleiten. Dagegen spricht vor allem eines: Zwar ist er durch 30 Jahre Pillen und Therapie bei ihr geblieben – zumindest irgendwie ein wenig, wochenends – doch wer will dazu noch große Gefühle von ihm erwarten? Längst lebt er daneben heimlich mit einer anderen Frau…

Der Vater verschnupft, Jakob betrunken und Marko irgendwie um eine Lösung bemüht – all das geschieht in strenger Abkopplung von Gitte, die ihre Lieben umsorgen darf, aber nicht wissen soll, worüber sie miteinander reden. Ob ihnen klar sei, wie das ist, bricht es plötzlich aus ihr heraus? Immer Flüstern, stets verschlossene Türen, keine Teilhabe, nur geschont werden: zum Kotzen.

Am späten Abend ein Moment der Nähe mit Marko. Rotwein, ein bisschen davon ist jetzt, ohne die Pillen, doch erlaubt. Ein freundliches Gespräch, dann ihre Hoffnung und der alles entscheidende Satz des Sohnes, achtlos dahingeplappert die Frage: Wie kann sie sicher sein, dass Günter sie noch liebt, nachdem er jahrzehntelang mehr Pfleger als Ehemann war? Das basse Erstaunen, das durch Gittes Gesicht wandert, die offensichtliche Erkenntnis: darüber hat sie noch nie nachgedacht. Eben so klar für die Zuschauer: nun wird sie nie mehr damit aufhören können – wohl aber aus dieser neuen Ohnmacht eine Entscheidung für sich ableiten.

Hans-Christian Schmid erzählt seinen Film vor allem über die Figuren, und neben vielen anderen ist eine große Stärke der Geschichte, dass man sie alle verstehen kann: Den Sohn, der gegangen ist, weil sein Leben eben so spielte, der sich daraus keinen Vorwurf machen lassen will. Den, der bleibt, und versucht, sich selbst zu sagen, es ist aus der Verantwortung heraus – und nicht wegen der Verlockung des väterlichen Geldes. Die Mutter, die sich der Krankheit nicht beugen möchte, sondern echtes Verständnis einfordert, die sich nicht abfinden will, sondern ihren eigenen Weg gehen. Obgleich geschmälert durch die schwache darstellerische Leistung: den Vater, der wegrennt, aber nicht so ganz, der bleibt, aber nur so halb.

Die Familie als Kollektiv, die helfen will, zugleich aber hilflos ist und ja: in manchen Momenten auch zurückschreckt; aus Überforderung. Pausen für sich einfordert vom Gefühl der Verantwortung, im tiefen Wunsch, dafür nicht gleich wieder mit dem eigenen schlechten Gewissen konfrontiert zu sein. Die Ohnmacht und die Sprachlosigkeit aller Beteiligten.

Neben dem Verständnis für die Figuren steht Wut, die sich zum einen ableitet eben aus der Empathie für die jeweils anderen. Wütend macht aber auch die Starre aus Angst und Bequemlichkeit, in der die Figuren sich selbst gefangenhalten, und dass sie zu wenig mit- und zu viel übereinander reden. Denn so, wie Markos Satz im Gespräch mit der Mutter unvermeidlich die Katastrophe auslöst, in der dieser Film schließlich (vor einem versöhnlichen Nachklapp) mündet, hätten viele kleine Sätze zur rechten Zeit, so die Hoffnung, der Familie auch ein anderes Ende bescheren können. Schließlich lässt sich auf die Frage „Was bleibt?“ nur eine Antwort finden: Jeder neue Tag – und das, was wir daraus machen.


Was bleibt
Buch: Bernd Lange
Regie: Hans-Christian Schmid
Darsteller: Corinna Harfouch, Lars Eidinger
Deutschland, 85 Minuten, FSK: 12

*


Donnerstag, 16. August 2012

Rum Diary: Vergnüglich fern der Vorlage

Literaturverfilmungen sind so eine Sache für sich. Einerseits ist die Feststellung richtig, dass der Vergleich mit der Vorlage selten zielführend ist – der Film muss auslassen, Schwerpunkte setzen, er darf abseits des Originals wandeln und Mut zur Lücke beweisen. Aber geht nicht andererseits der Leser mit einer gewissen Neugierde darauf ins Kino, um welche Bilder der Regisseur die eigene Vorstellung von einer Geschichte bereichern wird? Und will nicht eine Literaturverfilmung letztlich eben das – eine bekannte Story in einem zweiten Medium neu erzählen? Und beruft sich damit letztlich selbst (und durchaus bewusst) auf ihre Vorlage? Was den Vergleich doch geradezu fordert…

Miss Berechnend und Mister Gonzo. (Foto: Verleih)
Die Macher von „Rum Diary“ (Original: „The Rum Diary“) widmen ihr Werk denn auch am Ende dem Autor des gleichnamigen Romans, Hunter S. Thompson – wäre interessant zu erfahren, wie ihm der Film gefallen hätte. So viel vorweg, man kann seine Zeit sicher schlechter investieren als in diesen Kinobesuch. Wie bereits in „Fear and Loathing in Las Vegas“ schlüpft Johnny Depp mühelos in die Story des Gonzo-Journalisten, wenn auch „The Rum Diary“ durch die schon legendäre Depp’sche Mimik bisweilen etwas überzogen wirkt: gerade in der Drogenszene – die so im Buch übrigens nicht vorkommt. Insgesamt aber machen die Schauspieler ihre Sache ordentlich und der zusätzliche Schuss Ironie schadet nicht.

Was der Geschichte allerdings keinesfalls gut tut, ist der Umstand, dass sich der Film von einer zentralen Figur trennt; mit weitreichenden Folgen. Die Story: Journalist Paul Kemp heuert in den späten Fünfzigerjahren bei einer kleinen Zeitung in Puerto Rico an. Die Zeiten sind unruhig, die Touristen sind es auch, und die Lektüre des Blatts soll alles, nur nicht die Laune trüben. Journalismus zur „Lage der Nation“ ist nicht gefragt – also besaufen sich Kemp und seine Kollegen allabendlich mit Rum und genießen dazu Burger um Burger: Ihr Job fordert sie nicht so sehr, als dass sie ihn nicht auch verkatert geschaukelt bekämen.

Kemp, Kollege Yeamon und Fotograf Sala pflegen in der gleißenden Hitze Puerto Ricos eine Männerfreundschaft mit Hindernissen: Mit Sala teilt sich Kemp eine Wohnung, was ihn aber zunehmend nervt; Yeamon wiederum lebt mit und liebt das Mädchen, das auch durch Kemps Träume spukt: Chenault. Dann wäre da noch Geschäftsmann Sanderson, mit dem Kemp sich gerne auf den einen oder anderen Drink trifft; positiver Nebeneffekt – dabei fällt ab und an ein Job für ihn ab. Ein Umstand, der ihm sein Auskommen auch dann sichern könnte, wenn die marode Zeitung tatsächlich den Bach hinunter gehen sollte.

Der Film nun streicht Yeamon – und dichtet dessen Mädchen Geschäftsmann Sanderson an. Aus einer eher naiven jungen Frau, die ohne Zögern ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen hat, um bei dem Mann zu sein, der ihren Pulsschlag beschleunigt, wird so eine berechnende, kühle Blondine, die mehr Klischee ist als Charakter. Während Thompsons Chenault oft noch schier kindlich wirkt, ein Mädchen im Körper einer Frau, das sich seiner Wirkung auf Männer kaum bewusst ist, erschafft der Film eine stets kalkulierende Frauenfigur, die ihre weiblichen Reize ganz gezielt einsetzt, um genau das zu bekommen, was sie möchte.

Das aber ändert die Geschichte nicht nur im Bezug auf Chenault selbst, sondern ist auch wesentlich für die Rolle des Paul Kemp – weil unvorstellbar scheint, dass die Romanfigur Kemp sich für die Filmfigur Chenault (Amber Heard) interessiert hätte. Und während wiederum Thompson die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich Stück für Stück seine Freiheit und Unabhängigkeit erarbeitet, begibt sich Kemp im Film in große Abhängigkeit von seinem Gönner Sanderson (Aaron Eckhart): Er ist es, der Kemp letztlich das Auskommen sichert, während der Journalist im Roman zumindest seine finanzielle Freiheit Stück für Stück selbst gestaltet.

Yeamons Unberechenbarkeit und sein Jähzorn, die das Männertrio in schwierige Situationen bringen und letztlich Chenault überhaupt erst in Kemps Arme, dichtet der Film Sala (Michael Rispoli) an – dessen Charakter so am Ende arg überfrachtet wirkt. Und weil es so schön amerikanisch ist, lässt Regisseur Bruce Robinson seinen Paul Kemp am Ende eine Revolution um die noblen Werte des Enthüllungsjournalismus anzetteln. Statt sich also, wie bei Thompson, die Sonne auf den Pelz scheinen und den Rum durch den Hals fließen zu lassen, wollen Robinsons Journalisten ihr Blatt mittels einer Story über die wahren Zustände im vermeintlichen Urlaubsparadies retten. Anstatt in der karibischen Hitze Burger zu futtern und Kette zu rauchen, wird für die hohe Moral des Berufsstandes geackert. Wenn auch leider vergeblich.

Macht aber am Ende irgendwie auch nichts. Draußen ist endlich Sommer, der Film zaubert passend zur Hitze einen wunderschönen, karibischen Bilderreigen auf die Leinwand. Das Meer war lange nicht mehr so nah, Johnny Depp interpretiert Kemp neu, aber glaubhaft – lediglich die Burger und der grenzenlos ausgeschenkte Rum fehlen der Szenerie schmerzlich. Der Film ist absolut vergnüglich; es empfiehlt sich allerdings, den Roman lediglich als lose Vorlage zu begreifen – und vor dem Kinobesuch nicht noch einmal hineinzuschauen. Danach lässt sich Thompsons Original hingegen wieder bestens genießen. Yo ho, and a bottel of rum.


Rum Diary
Buch & Regie: Bruce Robinson
Darsteller: Johnny Deep, Aaron Eckhart, Amber Heard
USA, 120 Minuten, FSK: 12

*



Freitag, 6. Juli 2012

Der Bauch des Glücks: 17 Mädchen

Alles besser machen als die eigenen Eltern. Nie mehr alleine sein. Und für immer bedingungslos geliebt werden. So lauten die Gründe, die Camille (Louise Grinberg) in „17 Mädchen“ dazu bewegen, ihr Baby zu bekommen, als sie ungewollt schwanger wird. Ihren besten Freundinnen verkündet sie diesen Entschluss mit strahlenden Augen in der Schulmensa. Und die reagieren weder verwundert noch ängstlich, sondern nehmen das Strahlen der Freundin auf – künftig sind Babys, schwangere Körper und Erziehung ihre Themen.

Mit 17 hat man noch Träume – oder? (Foto: Verleih)
So viel ist klar, der Gedanke, ein besseres Leben führen zu wollen, kann einem schon kommen, als Teenager in einem aussterbenden französischen Kaff. Vor Wut auf die Verhältnisse, Langeweile, aus Liebeskummer, Frust mit den Eltern, Verunsicherung oder der Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben, das noch so unfrei scheint. Ob dagegen ausgerechnet eine Schwangerschaft hilft, darf allerdings angezweifelt werden – so wie grundsätzliche der Mechanismus, schwanger zu werden, um die eigenen Lebenssituation magisch zu verbessern.

Camille aber beschwört die Chancen, die ihr das eigene Baby bieten wird, derart eindringlich, dass ihre Freundinnen sich nach und nach entscheiden, ihr Heil ebenfalls in der Schwangerschaft zu suchen. Unter den ungläubigen Augen der Schulkrankenschwester lässt sich Mädchen um Mädchen einen Schnelltest aushändigen, tanzen die Teenagerinnen beglückt singend und lachend durch die Schulflure, wenn sie die Bestätigung dafür erpieselt haben, zur Gruppe der Schwangeren zu gehören. Und anschließend wird das Leben am Strand mit Alkohol und einem Joint gefeiert – mit 17 ist man schließlich unverwundbar, schwanger hin oder her. Und über das Baby als echten Menschen wird ohnehin nicht wirklich nachgedacht, nur über seine Rolle als Schlüssel zum Glück der Mutter.

Männer übrigens spielen in diesem Szenario erst recht keine Rolle: Väter sind ebenso unerwünscht wie Eltern. Sex als Mittel zum Zweck – und als die Jungs mitbekommen, dass sie den Mädchen zur Befruchtung herhalten sollen und plötzlich gar nicht mehr so scharf sind auf Beischlaf, wird ihnen von den findigen jungen Damen schon mal ein Fünfziger für den Klo-Quickie angeboten. Ist ja schließlich eine Investition in die Zukunft…

Schwangerschaft als Lifestyle, der wachsende Bauch als trotziges Accessoire und Mutterschaft als Lösung aller irdischen Probleme – je länger der Film dauert, umso verwunderter reibt der Zuschauer vor der Leinwand sich die Augen. Natürlich ist es charmant, 17 hübschen, jungen Mädchen beim Träumen zuzusehen. Selbstverständlich hat die Geschichte bezaubernde Momente, wenn sie von den innigen Freundschaften und vom Zusammenhalt der Clique erzählt. Ohne Frage beeindrucken die jungen Schauspielerinnen und verwöhnt die Kamera den Zuschauer mit traumhaften Bildern. Und natürlich warten die Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin mit einem starken, schönen Motto auf, wenn sie beteuern: „Nichts kann ein träumendes Mädchen aufhalten.“

Wie unkritisch der Film seine Protagonistinnen auf ihrer Reise begleitet, irritiert bei diesem Thema dennoch gewaltig. Quasi als Gegenentwurf dazu, wie die Frauenbewegung einst ihr Recht auf Abtreibung als wichtigen Teil weiblicher Selbstbestimmung einforderte, feiert „17 Mädchen“ die Schwangerschaft als ein, nein das Mittel, um dem eigenen Leben Inhalt und Perspektive zu geben. Ist diese These ohnehin schon nicht allgemeingültig, wirkt sie als Lösungsentwurf für Teenager schlicht verantwortungslos – da hilft angesichts von Thematik und Genre auch der Einwand nicht, dem Film ginge es nicht um Realitätsnähe.


17 Mädchen
Buch & Regie: Delphine & Muriel Coulin
Darsteller: Louise Grinberg, Juliette Darche, Roxane Duran
Frankreich, 86 Minuten, FSK: 12

*



Dienstag, 5. Juni 2012

Liebeserklärung mit Biberfellmütze: Moonrise Kingdom

Es hätte nicht viel gefehlt am Ende von „Moonrise Kingdom“, und die Zuschauer wären in Applaus ausgebrochen. Kein Wunder. So nah wirkte der Film, so lebendig – man fühlte sich eher, als falle der letzte Vorhang im Theater. Verklinge die letzte Zugabe bei einem atemberaubenden Konzert. Stattdessen – die Kinoleinwand, dunkel nun. Und noch ein Vergleich – dieses Auftauchen, wie aus einem Buch, beinahe; so weit die Rückkehr. Als habe man einen verzauberten Wald verlassen. Und trage nun etwas von diesem Zauber in sich.

Die Crew für die beste Unterhaltung. (Foto: Verleih)
Ein Feuerwerk der Kreativität, die Formulierung klingt ein wenig bemüht. Und gilt für den neuen Film des Texaners Wes Anderson doch in bestem Sinne. Denn der strotzt nur so: vor Kreativität und Ideen, vor Spielfreudigkeit der Darsteller, vor Farbe, Wärme, Gefühl und Geräusch – vor Magie und entzückenden Einfällen.

Es ist nicht seine Geschichte, die ihn zu etwas so besonderem macht, sondern die leichte, verspielte Hand, mit der Anderson sie erzählt. Die sympathische Skurrilität der Darsteller, die knallbunten Bilder, der absolute Wille zum Abstrusen. All das hätte auch daneben gehen können;das  tut es schließlich oft genug. In „Moonrise Kingdom“ aber fügen sich die einzelnen Teile zu einem wunderbaren und berührenden Puzzle, das man nicht mehr vergisst.

Sam liebt Suzy. Suzy liebt Sam. So weit, so gut – nur, dass Sam (Jared Gilman) und Suzy (Kara Hayward) im Sommer 1965 gerade zwölf Jahre alt sind. Und sich deswegen von den Erwachsenen mit der absurden Vorstellung konfrontiert sehen, ihr gemeinsames Leben noch einige Jahre aufschieben zu müssen. Dem wollen sich die beiden nicht fügen und flüchten gemeinsam; ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wenn das eigene Zuhause Teil einer geradezu lächerlich kleinen Insel ist, der sich ein Sturm unbekannten Ausmaßes nähert. Und doch nicht hoffnungslos.

Für die Erwachsenen bedeutet die Flucht der Kinder nichts als Scherereien. Scout Master Ward (Edward Norton) muss ob des verlorenen Schützlings um seine Position innerhalb der Pfadfindergruppe fürchten, Inselpolizist Captain Sharp (herrlich selbstironisch: Bruce Willis), darum bangen, seine Affäre mit Suzys Mutter (Frances McDormand) könne auffliegen. Und die Mutter selbst wirkt ohnehin verbogen. Im Zweifel davon, neben ihrer Familie herzuleben, die die Anwältin im weitläufigen Anwesen schon mal per Megafon zu Tisch bittet.

Derweil schlagen Sam und Suzy ihr Lager am Strand auf. Reden über Bücher und Musik. Fangen Fische und grillen. Überwinden trotz allen gebotenen Ernstes ihrer Liebe federleicht deren erste Krise (Suzy offenbart sich Sam und der lacht sie aus), tanzen – und Sam darf beim Küssen Suzys Brüste berühren. Da hat er ihr bereits Ohrringe aus Angelhaken gebastelt und ihr damit, weil Suzy gar keine Ohrlöcher hat, selbige gestochen. Und unter seiner Biberfellmütze heraus hat er dem Mädchen mit dem knalltürkisenen Lidschatten, das für ihn den magischen Feldstecher abgenommen hat, seine Liebe gestanden; sie hat das Bekenntnis erwidert.

Der Soundtrack, den Alexandre Desplat dem Film als gar nicht so heimlichen Hauptdarsteller mitgegeben hat, ist dabei regelmäßig mehr als das: Fällt mit einem Schnitt in die Szene, wenn die Musik diese plötzlich nicht mehr abstrakt umschmeichelt, sondern Hank Williams aus Captain Sharps Autoradio durch die Einsamkeit des traurigen Bullen bricht – wunderbar.

Sharp ist es auch, der aus der eigenen Melancholie die Traurigkeit der beiden Ausreißer begreift. Ihr Glück darüber, in ihrem Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein, ein Gegenüber gefunden zu haben. Der dieses Glück ernst nimmt, ohne dass Anderson ihn dafür aus der Verantwortung lässt, die Zuschauer auch zum Lachen zu bringen. Und der sich schließlich so weit auf die Seite von Sam und Suzy schlägt, dass der Rest der apathischen, desillusionierten Welt der Erwachsenen sich mitschlagen lässt, lassen muss.

Das Ende des Films gerät denn auch etwas kitschig, doch das ist verzeihlich. Schließlich haben wir es hier mit einem Märchen zu tun, irgendwie. Was aber nicht bedeutet, dass sich darin keine kleinen Weisheiten über das Leben finden ließen. Wen man sich nur traut, hinabzusteigen in die Seelenbilder des Wes Anderson. Im wahrsten Wortsinn: großes Kino.


Moonrise Kingdom
Buch: Wes Anderson, Roman Coppola
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Bill Murray, Bruce Willis, Tilda Swinton
USA, 94 Minuten, FSK: 12

*



Donnerstag, 26. April 2012

Das Mädchen und der Star: My Week with Marilyn

„Liebst du mich, Colin?“, fragt die junge blonde Frau. Aufgelöst in ihrer eigenen Verunsicherung. Betäubt von den ewigen Tabletten. Und so offensichtlich alleine, dass es einem nach dem Herzen greift. „Ja“, antwortet der, und weiter: „Du bist wie eine griechische Göttin für mich.“ Ganz so, als ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hätte. „Ich bin keine Göttin“, flüstert sie. Dann, noch leiser: „Ich will nur wie ein ganz normales Mädchen geliebt werden.“ Und damit ergibt sich das Mädchen, das für einen kurzen Moment aufgeblitzt war hinter der Fassade des Stars, wieder in ihre Rolle – die der Marilyn Monroe.

Für die Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ reist die Schauspielerin im Sommer 1956 nach England. Laurence Olivier will seiner Komödie mit der „berühmtesten Frau“ der Welt das gewisse Etwas und sich als Hauptdarsteller einen Jungbrunnen verpassen. Und Marilyn Monroe fühlt sich, trotz der eindeutigen Genrezuordnung des Films, durch Oliviers Ruf als ernsthafte Schauspielerin gefordert – ein Missverständnis.

Michelle Williams als Marilyn Monroe. (Foto: Verleih)
Denn Regisseur Olivier hat erst keine Ahnung, worauf er sich mit seinem kapriziösen Star einlässt, und dann keine Nerven, um auf die Schauspielerin einzugehen. Schließlich soll die nur hübsch mit dem Po wackeln und dafür sorgen, dass er daneben gut aussieht. Stattdessen verschafft sie ihm graue Haare, weil sie regelmäßig um Stunden verspätet am Set auftaucht. Und treibt ihn in den Wahnsinn, weil sie auch dann nur spielen kann, wenn sie mit Hilfe von Paula Strasberg ihre Rolle fühlt.

So wenig Marilyn die Rolle fühlt, so sehr ist sie sonst von ihren Emotionen bestimmt. Wenn sie denn ihr gehören, die Gefühle, die scheinbar unkontrolliert durch ihren begehrten Körper rauschen – immerhin, es könnten auch einfach Reaktionen ihres Nervensystems auf die vielen Tabletten sein, mit denen sich die Schauspielerin durch den Tag hilft. Denn auf diese, wie unzählige andere Formen von Unterstützung, ist der labile Star längst angewiesen.

Dass ihr dritter Ehemann Arthur Miller ihr diese entzieht, indem er während der Dreharbeiten für eine Woche zurück nach New York reist, empfindet Marilyn deshalb wie einen neuen Teil in der scheinbaren Fortsetzungsgeschichte ihres Lebens: sie wird verlassen, wieder. In ihrer tief empfundenen Verunsicherung scheint sie nach dem Augenpaar Ausschau zu halten, das sie mit der größten Bewunderung anschaut – es sind die des dritten Regisseurs, Colin Clark.

Auf dessen tagebuchartigen Veröffentlichungen über seine Woche(n) an der Seite des Stars während der Dreharbeiten zu „Der Prinz und die Tänzerin“ basiert der Film „My Week with Marilyn“ von Simon Curtis – vielleicht ist es also nicht Curtis' Schuld, dass der inhaltlich arg belanglos daher kommt: Allein die Tatsache, dass sich ein Star darin tummelt, muss ein fremdes Tagebuch ja noch nicht interessant machen.

Da ist es nur folgerichtig, dass der Regisseur sich weniger auf Clarks dünnes Geschichtchen über die angebliche Liaison verlässt als auf die Stärke der erwähnten Figuren. Die durchweg großartig besetzt sind: Julia Ormond verleiht ihrer Vivienne Leigh Würde und Kraft, Zoe Wanamaker verhindert konsequent negative Gefühle gegenüber ihrer Paula Strasberg, Kenneth Branagh als Laurence Olivier ist der personalisierte Nervenzusammenbruch auf Zeit und schließlich, zum Niederknien: Judi Dench als humorvolle, warmherzige Sybil Thorndike.

Die Stars des Films aber sind, titelgerecht, Marilyn Monroe – und die wunderbare Michelle Williams, die ihre Rolle weniger spielt als sich ihr hinzugeben. So bezaubernd der Augenaufschlag, das Lachen, der Hüftschwung. So überzeugend die Angst, das Zittern, die Verzweiflung. Ihre eigentliche Leistung aber besteht darin, in einem Film, der vermeintlich von der Fremdbestimmtheit des als Norma Jeane geborenen Stars erzählen will, diesen Trugschluss aufzulösen: Marilyn Monroe, das war nie mehr als eine Rolle. Und so unglücklich diese das Mädchen Norma Jeane auch oft gemacht haben mag, war es letztlich sie, und nur sie, die diese Rolle kontrollierte.

Weil sie sich bewusst dafür entschieden hat, das Mädchen, das scheinbar niemand lieben konnte, aufzugeben für den Star, den allen bewundern. Auch wenn der Preis dafür war, selbst genau das zu tun, was sie allen anderen zum Vorwurf machte – dieses Mädchen zu verlassen.


My Week with Marilyn
Buch: Adrian Hodges
Regie: Simon Curtis
Darsteller: Michelle Williams, Julia Ormond, Eddie Redmayne
USA, 99 Minuten, FSK: 6

*



Mittwoch, 28. März 2012

Take Shelter – Im Auge des Sturms

Letztlich geht es in Jeff Nichols’ Film „Take Shelter“ vor allem um eines: Vertrauen. Wem kann ich noch trauen, wenn ich mir selbst zu misstrauen beginne? Können die Menschen, die ich liebe und die mich lieben mir auch dann vertrauen, wenn ich keine Erklärung für mein eigenes Verhalten finde? Und wie weit darf oder muss dieses aus der Liebe geborene Vertrauen gehen? Nichols’ Antwort ist denkbar einfach: Vertrauen ist die Grundlage für jede zwischenmenschliche Beziehung, die er auf der Leinwand zum Leben erweckt. Und wenn man sein ambivalentes Ende denn hoffnungsvoll deuten mag, dann im Zusammenhalt seiner Figuren – die sich entschieden haben, einander vollkommen zu vertrauen.

Curtis mit Tochter Hannah und Ehefrau Samantha. (Foto: Verleih)
Curtis laForche (Michael Shannon) hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt: Ehefrau, Tochter, Hund, Häuschen, Job – und für jedes Problem (wie die Gehörlosigkeit der Tochter) gibt es eine Lösung (in diesem Fall: seine außergewöhnlich gute Krankenversicherung). Diese Idylle ist echt, mag Curtis auch beim Plausch mit Kumpel und Arbeitskollege Dewart (Shea Wigham) nach dessen Prahlerei, er plane einen Dreier mit seiner Gattin und einer Internetbekanntschaft, leicht bedauern, so etwas sei mit seiner Frau nicht denkbar. Aber – diese Idylle ist auch bedroht, das spüren Curtis und die Zuschauer von Anfang an; nicht nur, weil der Regen, der auf den Familienvater herunterprasselt, eine unerklärliche, ölige Konsistenz hat.

Wem vertraue ich meine Ängste und Zweifel an, wem meine (vermeintliche) Schwäche? Es sind nicht nur seine Visionen vom öligen Regen, die Curtis zu schaffen machen, sondern auch seine Albträume. In denen unglaubliche Stürme aufziehen, Schwärme von Vögeln den Himmel verdunkeln, schließlich aus ihm heraus fallen, seine Tochter in Gefahren gerät, vor denen er sie nicht schützen kann – und die Welt aus den Fugen. Auch, weil Curtis nicht mehr weiß, wem er noch trauen darf: Es sind in diesen Albträumen gerade die Menschen, die er am meisten liebt, die ihn bedrohen, angreifen und verletzen. Und so, wie diese Visionen und Albträume ineinander übergehen und miteinander verschmelzen, greift beides in seine Realität. Wird er gerade wahnsinnig? Oder sind seine Träume Vorboten auf ein drohendes Unheil? Und wenn sie Vorboten sind, heißt das, dass er den Menschen, die ihn darin verraten, auch im Leben nicht mehr vertrauen kann?

Nichols bietet gleich mehrere mögliche Erklärungen für das, was mit Curtis passiert. Mag sein, der Vorarbeiter sieht tatsächlich Dinge, für die seine Umwelt kein Gespür hat. Oder der Familienvater ist krank, verliert den Verstand: Seine Mutter (Kathy Baker) war etwa in seinem Alter, als bei ihr psychotische Schizophrenie diagnostiziert wurde. Gerade zu ihr bemüht sich Curtis zuerst um ein gewisses Vertrauen, mit seinem Besuch in ihrem Heim; der aber scheitern muss. Dennoch, der rationale Curtis scheint sich zunächst mit der Variante, seiner Mutter in ihre Krankheit zu folgen, fast am wohlsten zu fühlen und beginnt eine Gesprächstherapie.

Obwohl der Boden, über den der Familienvater tastend geht, schwankt unter seinen Schritten, ist es immer wieder er selbst, dem Curtis vertraut, gibt er den Glauben an seine eigene Wahrnehmung nie auf. Und folgt den Warnhinweisen, die er daraus bezieht, in der festen Hoffnung, so die Menschen schützen zu können, die er liebt – auch wenn es zunächst wirkt, als würde er durch sein Handeln alles zerstören. „I’m doing this for us. I know you don’t understand.“ Zwei Sätze, in denen Curtis’ ganzes Dilemma liegt. Und die letztlich eben diesen Glauben an sich selbst ausdrücken – in dem er sich seiner Frau Samantha (großartig: Jessica Chastain) schließlich auch anvertraut. Von seinen Albträumen und Visionen erzählt. Und so ihr Vertrauen zurückgewinnt, mitten im scheinbaren Wahnsinn, der ihn dazu treibt, den Sturmbunker hinterm Haus auszubauen – obwohl doch alle Finanzen in die Gesundheit der Tochter fließen sollen.

Der Rest seiner Umwelt freilich rückt immer weiter vom scheinbar in den Irrsinn driftenden Curtis ab; zuletzt auch Dewart, der gemeinsam mit seinem Freund den Job verliert, nachdem der unerlaubt Werkzeug und Maschinen aus der Firma geliehen hat – für seinen Bunker. Auf einer Feier, zu der die Familie geht, weil Samantha „something normal“ braucht, etwas Normales, zum Luft holen, zum Kraft schöpfen, kommt es zum Eklat, als Dewart Curtis angreift – so lange, bis der explodiert. „You think I’m crazy?“, brüllt der Hüne, nachdem er einen Tisch umgeworfen hat, als sei es ein Glas Wasser. „There’s a storm coming like nothing you have ever seen and not one of you is prepared for it!“ Die Gesellschaft zittert und schweigt. Tochter Hannah (Tova Stewart) schaut den Vater aus großen Augen an – ist es Angst, die darin liegt? Wird Samantha das Kind – nun doch – an der Hand nehmen und wegführen, von hier, vom Vater, und wird das mühsam erkämpfte Vertrauen brechen?

Regisseur Nichols selbst sagt über seinen Film: „I think it’s a lot about communication. We all carry these fears and doubts. They will always be there, whether it’s fear of the government collapsing, or the environment, or you can’t pay your bills, whatever. We’ll always have something to worry about. And I think where relationships maybe get damaged is in people not sharing those fears with their significant others. That seemed like an answer to me, and an interesting ending for this problem that I’d built up in this film.“ So kommt es, dass dessen Ende schließlich weniger ambivalent ist, als es zunächst scheinen mag.

Die Frage, ob Curtis tatsächlich krank ist oder nicht, ob der Sturm nun kommt oder der dunkle Himmel ein falscher Alarm ist, ob die apokalyptischen Bilder des Filmes und die Visionen seiner Hauptfigur Parabeln sind auf unsere, auf die amerikanische Gesellschaft im Hier und Jetzt – all das ist letztlich nicht wesentlich. Wesentlich ist das Kleine im Großen. Wichtig sind die Beziehungen, die wir führen. Worauf es ankommt sind die Sprache, die wir wählen und der Weg, den wir gehen. Wenn wirklich ein Sturm kommt, das Ende der Welt, fehlen uns allen die Mittel, um das aufzuhalten. Aber wir entscheiden, wie wir unser Leben bis dahin gestalten. Was uns wichtig ist. Und wen wir an der Hand halten, wenn die Apokalypse uns trifft. Das mag auf dem Papier kitschig klingen, bei Jeff Nichols ist es jedoch ganz große Kinokunst.

Take Shelter
Buch & Regie: Jeff Nichols
Darsteller:  Michael Shannon, Jessica Chastain, Shea Wigham
USA, 121 Minuten, FSK: 12

*


Freitag, 9. März 2012

Der Knoten der Distanz: Barbara

Es dauert bis kurz vor Schluss, dann vermag Christian Petzolds „Barbara“ endlich zu berühren: für einen kurzen Moment, immerhin. Die Leinwand ertrinkt in kühlem Nachtblau. Barbara (Nina Hoss), Ärztin, aufgrund eines Ausreiseantrages 1980 von Berlin in die Provinz verschickt, sitzt am Ostseestrand und blinzelt gegen die Tränen. In ihrem Schoß liegt die aus dem Jugendwerkhof Torgau geflohene Stella (Jasna Fritzi Bauer) und Barbara wird, so viel ist klar, gleich auf ihre vorbereitete Flucht in den Westen verzichten – und stattdessen das Mädchen schicken.

Bitte recht unnahbar: Nina Hoss als Barbara. (Foto: Verleih)
Die Geste, so nobel und übermenschlich auf der einen Seite, ist auf der anderen alles andere als das. Lediglich ein Trotz nämlich, konsequent zumindest in der Ausgestaltung der Figur. Im Westen wartet zwar der Geliebte, das gelobte Land; aber der Traum vom Leben dort funktioniert für Barbara nicht mehr. Seit nämlich der Mann, von dem sie sich geliebt fühlte und verstanden, ihr zwischen den Laken des Interhotels zugeraunt hat, in ihrem neuen Leben brauche sie nicht mehr zu arbeiten: Als ob eine wie sie denkbar wäre ohne ihren Job.

Nina Hoss spielt Petzolds Barbara mit nur einem Gesichtsausdruck – spöttisch – dafür aber mit zwei Frisuren: Der streng gezurrte Knoten, um ihre Unnahbarkeit zu verdeutlichen und die offene Lockenpracht immer dann, wenn sie sich am Leben verletzt, Demütigung erfährt. Subtil ist anders, aber der Film ist auf eine seltsame Weise offensiv, bisweilen fast plump in seinen Aussagen.

Unübersehbar brennt ihr Kollege André (Ronald Zehrfeld) für die Neue aus Berlin. Überdeutlich hält Barbara die Distanz zu allem und jedem. Für Zwischentöne ist da kein Platz und mag sein, es ist Petzolds Weg um ein Regime zu beschreiben, in dem diese gleichfalls fehlten – dem Film aber nutzt es nicht. Ebenso wenig wie die nun wirklich ausschließlich plumpe Episode über den Stasimann, der Barbara bespitzelt, quält und überwacht und dessen Frau gerade der Krebs dahinrafft. Es ist eine Aussage ohne Wert, dass der Verlust eines geliebten Menschen auch dieses kaltherzige Arschloch beutelt: Oder glaubte tatsächlich irgendwer, ein Diktator weine nicht am Grab seines Kindes?

Offensichtlich ist auch, dass Barbara Nähe zwar abblockt, aber eigentlich doch sucht, augenscheinlich sind ihre tiefen Verletzungen, die sie auf Wunden anderer mit großer Empathie reagieren lassen. Und Petzolds Film zeigt beides mit großer Eindringlichkeit: Die fast nackte Ärztin im eigenen Badezimmer, hilflos einem System ausgeliefert, dessen Durchsuchungen in der Wohnung anfangen und vor dem menschlichen Körper nicht Halt machen. Die schreiende Stella beim Abtransport zurück nach Torgau, kurz aufgefangen in den Armen der Ärztin – das sind Momente, die haften bleiben. Trotz aller Distanz und Sprödigkeit, die der Film auch in diesen Szenen bewahrt.

Am Ende fügen sich die einzelnen Teile nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Die nicht-angetretene Flucht gibt, so sehr der Zuschauer es besser weiß, André das Gefühl, Barbara habe sich irgendwie für ihn entschieden. Stella wird, zwar gut gemeint, aber vollkommen ohne Schutz, in ein neues Leben beinahe ausgeliefert. Und wie Barbara auch nur einen weiteren Tag in diesem System überleben will, dahinter steht das größte Fragezeichen.

Unterm Strich fühlt man sich ein wenig, als habe man gerade schlicht eine mäßige Lovestory gesehen, bei der die DDR weniger Thema als Setting ist – verschenkt.


Barbara
Buch & Regie: Christian Petzold
Darsteller: Nina Hoss, Jasna Fritzi Bauer, Ronald Zehrfeld
Deutschland, 105 Minuten, FSK: 6

*



Donnerstag, 22. September 2011

Komm, wir geh’n ins Kino: Ein Tick anders

Im Kino, wie eigentlich überall sonst im Leben, geht es auch ein bisschen um die Frage: Was will ich eigentlich? In diesem Fall: von einem bestimmten Film, zu einem bestimmten Thema. Und genau da fängt es ja im Prinzip schon an schwierig zu werden, weil doch irgendwie jeder etwas ganz anderes will, oder zumindest selten zwei genau das gleiche. Was also erwarte ich mir von einem Film, der eine Protagonistin mit Tourette-Syndrom in seinen Mittelpunkt stellt? Ich fürchte, das „Falsche“ – und bringe zur Erklärung eine kleinen Anekdote an, bevor ich (versprochen!) zum Film komme.

Vorsicht, diese Oma schießt scharf! (Foto: Verleih)
Im zarten Alter von 19 Jahren hatte ich die wahnwitzige Idee, mich als Praktikantin bei einer Daily Talkshow zu bewerben. Dafür gondelte ich sogar zu einem Bewerbungsgespräch nach München. Dankbarerweise erinnere ich weder meine Motivation für diesen Irrsinn, noch viel von dem Gespräch, nur dies: Die verantwortliche Redakteurin wollte von mir wissen, was meines Erachtens der Zweck dieser Sendungen sei? Und ich gab todernst und eben so gemeint zur Antwort: „Den Menschen, die daran teilnehmen, zu helfen.“ Offenbar hatte ich mich nicht unbedingt durch exzessives Schauen der Formate auf das Gespräch vorbereitet, das Praktikum jedenfalls habe ich – Überraschung! – nicht bekommen.

Worauf ich hinaus will… Ein bisschen etwas von diesem Ansatz geht auch immer mit mir ins Kino, wenn ich Filme schaue, die sich mit einer bestimmten Problematik auseinandersetzen. Das heißt nicht etwa, dass ich es nicht schätzen kann, wenn ein Thema humorvoll oder satirisch oder einfach unterhaltsam aufbereitet wird, es kann aber passieren, dass mich der Film etwas ratlos hinterlässt. Zum Beispiel, wenn sich am Ende von „Four Lions“ alle vermeintlichen Überzeugungstäter so ganz und gar sinnlos in die Luft gesprengt haben; nicht, dass ich der Meinung bin, das ließe sich sinnvoll anstellen…

„Ein Tick anders“ ist auf jeden Fall eines: herrlich skurril. Das trifft besonders auf die liebevoll gezeichneten Figuren zu, angefangen mit Hauptfigur Eva (Jasna Fritzi Bauer), die „dank“ ihres Tourette-Syndroms unkontrolliert flucht und Leute beleidigt. Ihr Onkel Bernie (Stefan Kurt), verhinderter Band-Star, steht Eva treu zur Seite, die kaufrauschende Mutter backt pausenlos für die Tourette-Selbsthilfe und der Vater kann seine Arbeitslosigkeit nur so lange verbergen, bis Eva ihn eines Tages im Wald beim Bewerbungen schreiben erwischt. Derweil vertreibt die Oma (Renate Delfs) sich ihre Zeit damit, Haushaltsgeräte in die Luft zu sprengen oder mit der Schrotflinte Playmobil-Figuren von der Schaukel zu schießen. Was nach Chaos klingt, gibt Eva Halt und Sicherheit – doch dann bekommt ihr Vater einen Job ausgerechnet in Berlin und das Mädchen soll mit den Eltern wegziehen aus der vertrauten Umgebung.

Weil Bewerbungsgespräche schon mal scheitern, wenn man sie mit einem lauten „Heil Hitler“ beginnt, sinnt Eva nach einem Plan B, der mit einem zwar missglückten Banküberfall beginnt, durch allerlei Verwicklungen aber doch erfolgreich und sehr gewinnbringend ist. Am Ende ist Eva finanziell unabhängig und kann dort bleiben, wo sie sich wohl fühlt – und ein bisschen verknallen darf sie sich auch noch.

Diese Geschichte erzählt Regisseur Andi Rogenhagen flott, unterhaltsam, manchmal auch rührend und immer saukomisch. Und doch bleibt ein wenig von der altbekannten Ratlosigkeit darüber, wie sich eigentlich ein Betroffener fühlt, nach einem Film, in dem die Lösung für den Umgang mit seiner Krankheit darin besteht, die Schule zu schmeißen, sich zumindest ein Stück weit von den Menschen zurückzuziehen und eine Bank zu überfallen. Aber das ist natürlich überspitzt formuliert und ebenso kann man den Machern die Überzeichnung als lauten Aufruf zu mehr Toleranz auslegen. Denn immerhin, mit der Chance auf einen Job wäre zumindest der Banküberfall nicht nötig gewesen.


Ein Tick anders
Buch & Regie: Andi Rogenhagen
Darsteller: Jasna Fritzi Bauer, Renate Delfs, Waldemar Kobus
Deutschland 2011, 92 Minuten

*



Freitag, 22. Juli 2011

Der nette Drogendealer von nebenan

In den Siebziger- und Achtzigerjahre war der Waliser Howard Marks nach Schätzungen der US-amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA) für etwa zehn Prozent des gesamten Welthandels von Haschisch und Marihuana verantwortlich. Als die DEA Marks und seine Frau Judy 1988 auf Mallorca festnehmen und an die USA ausliefern, wird er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Der „netteste Mann, der je zu einem kriminellen Superhirn wurde“ (Trailer) kommt nach sieben, seine Ehefrau nach zwei Jahren frei. Seine Geschichte bringt der Mann, der laut eigenen Angaben Mitte der Achtziger unter 43 Decknamen agierte, 1996 als Biographie heraus: Mr. Nice, benannt nach dem Pseudonym, das er am Liebsten trug. Und ohne Ghostwriter, denn die Vorstellung, seine Erlebnisse dauerkiffend und auf dem Sofa liegend zu diktieren habe ihm zwar gefallen, nicht aber die Tatsache, dafür 40 Prozent des Geldes abgeben zu müssen.

Mr. Nice alias Howard Marks. (Pressefoto: Koch Media)
Der Brite Bernard Rose hat die Memoiren für die Leinwand adaptiert und unter seiner Regie und Kameraführung breitet sich das Leben des Walisers vor den Augen der Zuschauer aus. Dabei wirkt die Wahl der Stilmittel zuweilen ähnlich unbeholfen wie Marks' erste Begegnungen mit Drogen während seiner Zeit als Student: Mit denen kommt der begabte Junge aus bescheidenen Verhältnissen zunächst völlig außerplanmäßig in Berührung, als er einer schönen Kommilitonin den Gang hinunter folgt, die zuvor durch sein Zimmerfenster geklettert kommt. Damit auch tatsächlich jeder Zuschauer ganz sicher versteht, welche Veränderungen dieser erste Joint für Marks' Leben bedeutet, wechselt der Film in dieser Szene von schwarz-weiß auf bunt – und passend zu der Drogenerfahrung wird auch ein bisschen mit Slow-Motion gespielt.

Dargestellt wird Marks über einen Zeitraum von fast vier Jahrzehnten ausschließlich von Rhys Ifans, ebenfalls Waliser und dereinst Leadsänger der Super Furry Animals. Das wirkt ein wenig, als spiele der ehemalige Schmuggler sich selbst – quasi vom ersten Schultag bis zur Rente – und es entbehrt nicht einer gewissen Absurdität, wenn der Mittvierziger im Schulbus fährt oder als angeblich Anfang Zwanzigjähriger reichlich naiv und ziemlich bekifft über den Rasen Oxfords tapert.

Um unter anderem das England der Siebzigerjahre zu zeigen, bedient der Film sich altem Material, in das er seine Hauptdarsteller hineinprojiziert. Wozu in etlichen Kritiken zum Film gemunkelt wird, der Produktion sei schlicht das Geld ausgegangen, erklären Marks und Ifans in einem Interview damit, Rose setze die sogenannte Rückprojektion als besonderes Mittel der Authentizität ein, da er es hasse, in anderen Filmen Einblendungen zu sehen, die auf das Jahr verweisen, in dem die Handlung gerade spielt. Ifans: „I haven’t seen it before in a movie but you really get a sense of time and place (…). You do feel that the world is changing.“ Auf den heutigen Zuschauer allerdings, der diese Technik aus Uralt-Filmen gewohnt ist, in denen die Landschaft hinter einem Auto vorbei rast, wirkt diese Optik weniger authentisch als belustigend.

So schafft der Film durch die Wahl seiner Stilmittel eine Distanz, die sich in der Art und Weise seiner Erzählung eher noch intensiviert, als dass sie aufgehoben würde. Zwar spielen die Darsteller ihre Rollen mit Intensität und Witz, doch Rose gibt seine Figuren zu sehr ans Szenische verloren, als dass er sich darum bemühen würde, ihre Entwicklung aufzuzeigen. So wird kein Motiv erkennbar, warum Marks überhaupt zum Dealer wird, erfährt der Zuschauer wenige der originellen Details über seine Schmuggeleien und bleibt unklar, warum seine Frau lange nahezu kritiklos bereit ist, diese Art von Leben mit ihm zu teilen. Keine Frage, bei 700 Seiten Vorlage muss ein Film Schwerpunkte setzen, Marks ist vielleicht schlicht zum Dealer geworden, weil die Gelegenheit sich ergab und seine Frau bei ihm geblieben, weil sie ihn eben liebte – trotzdem wäre es schön, darüber auch ein bisschen etwas erzählt zu bekommen.

Verschenkte Lebenszeit freilich sind die 121 Filmminuten nicht, denn auch wenn der Film dem, was bereits über Marks bekannt ist, wenig Neues hinzuzufügen weiß, ist er doch zumindest unterhaltsam. Der Soundtrack passt, die Bilder stimmen, das Tempo ist über weite Strecken hoch, Ifans und seine Filmfrau Chloë Sevigny sind ein schön anzusehendes Pärchen und vor allem dank David Thewlis, der den IRA-Mann Jim McCann spielt, gibt es ab und zu auch etwas zu lachen.


Mr. Nice
Buch, Regie, Kamera: Bernard Rose
Darsteller: Rhys Ifans, Chloë Sevigny, David Thewlis
Großbritannien 2010, 121 Minuten, FSK 12

*



Samstag, 10. April 2010

Zum Leben verführt

„Solange man sich treiben lässt, ist nichts zu befürchten, ja, inmitten der Strömung überkommt einen sogar das Gefühl trägen Wohlbehagens.“ [Christopher Isherwood: Der Einzelgänger]

Was, wenn das Kino all seine Geschichten schon erzählt, und uns nichts Neues mehr zu sagen hat? Wenn wir all das, was uns ein Film verraten wollte, längst wussten? Wenn kein Wort und keine Figur uns mehr zu überraschen vermag? Dann… muss das Kino seine ausgetrampelten Erzählwege und neuen 3D-Pfade verlassen, um uns mit Sinnlichkeit zu überraschen – so wie jetzt der Designer Tom Ford in seinem aufregenden Regiedebüt „A Single Man“.

Alles, was der Zuschauer im Verlauf dieser 101-minütigen Verfilmung von Christopher Isherwoods 1964 veröffentlicht Roman „A Single Man“ („Der Einzelgänger“) erfahren wird, deutet sich in den ersten Minuten an: Da ist der britischen Professor George Falconer, der über den Unfalltod seines Lebensgefährten Jim nicht hinwegkommt und auch nicht über den Umstand, von dessen Beerdigung ausgeschlossen worden zu sein, da diese „im Familienkreis“ abgehalten wurde. So satt hat der Mittfünfziger die Last von Trauer und Verlust, dass er beschließt, sich das Leben zu nehmen – und es ist der Tag, an dem er seinen Selbstmord akribisch vorbereitet, den Zuschauer und Hauptfigur miteinander teilen.

Eine Liebe, die nicht sein kann.
Da ist Georges beste Freundin Charlotte (Julianne Moore), die wie er aus London nach Los Angeles kam – und dort auch nach Jahren die Hoffnung auf seine Liebe nicht aufgeben kann, trotz alledem. Oder die Gedanken darüber, was hätte sein können, wäre er keine „scheiß Schwuchtel“; und es fließen Tränen aus Gin von einer Umarmung in die nächste. Da ist der unangenehme Nachbar, der George einen „warmen Bruder“ nennt, und seine Frau, die alle Unfreundlichkeiten ihres Gatten hinwegzulächeln versucht. Und da ist der junger Student Kenny, der zu spüren scheint, dass sein Professor nicht dem blonden Mädchen an seiner Seite freundlich zulächelt, sondern ihn, den jungen Mann, meint, wenn seine Blicke begehrlich über die Campuswiesen schweifen.

Die Kunst des texanischen Modedesigners besteht nicht darin, dem Zuschauer seine Figuren nahezubringen, obgleich es ihm gelingt. Auch nicht darin, diese Geschichte zu erzählen, gleichwohl er den Roman gemeinsam mit David Scearce für die Leinwand adaptiert hat. Seine Magie entfaltet dieser Film nicht dank der Erzählung, sondern durch das Gewand, in welches er sie kleidet. Ford reiht mit beinahe dreister Leichtigkeit Momente wie schimmernde Perlen auf und hält sie vor den Augen des Zuschauers ins grelle Sonnenlicht, damit sie ihn zugleich blenden und sich ihm ins Gedächtnis brennen. Jede Szene, jede Einstellung gar, wird zum bildgewaltigen Erlebnis, das Hingabe erfordert und den Mut, sich einzulassen auf die intensive Struktur und ungewohnte Form.

Wie im Zeitraffer bewegt sich George durch seinen (vermeintlich) letzten Tag und die Menschen, die ihm dabei begegnen, sind selten mehr als Projektionsflächen für sein Innenleben. Ist es wirklich die Nachbarsfamilie, die er aus dem Badezimmerfenster beobachtet, ist es der Nachbarsjunge, der einen Schmetterling zwischen seinen vor Aufregung feuchten Kinderhänden zerstauben lässt – oder sind all das nicht Erinnerungen des Professors an die eigene Kindheit?

Im Traum, ein letzter Kuss.
Kühl und entsättigt baut Ford seine Bilder wie kleine Kunstwerke um einen schmerzlich präsenten Colin Firth in der Rolle des Liebenden mit gebrochenem Herzen, der wenigstens im Traum die Chance hat, sich von seinem Mann mit einem zarten Kuss zu verabschieden – und zugleich bricht auch hier der Schmerz gewaltsam auf im Bewusstsein über den Verlust. Trauer und ein metallener Geschmack schwappen aus der dämmerigen Zwischenwelt in den Tag des Professors über, der neben einer Lache aus Tinte erwacht. Und dem Kuss nachfühlend landet sie als kühles Abbild der Erinnerung an diese letzte Berührung auf seinen Lippen, im Auge des neuen Tages.

Es ist dieses Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, das sich von der Hauptfigur auf die Zuschauer überträgt. So, wie George selbst beinahe sezierend auf die Welt und die Menschen um sich herum blickt, ihre Bewegungen gleichsam verzögert wahrnimmt und ihre Worte erst registriert, wenn diese bereits verklungen sind, richten sich gleichzeitig die Blicke dieser Umwelt neugierig und verwundert auf den britischen Professor.

Wenn er in seiner Vorlesung über die Angst spricht, die Menschen vor Minderheiten haben, als Motor dafür, diese auszugrenzen, ist nicht nur dem Zuschauer klar, welche Minderheit er bar des behandelten Romans meint. So wagt sich schließlich sein Student Kenny (Nicholas Hoult) nicht nur, Falconer an der Universität auf seine bevorzugte Droge anzusprechen, sondern erfragt auch die Adresse des Lehrers im Instituts-Sekretariat, um später wie zufällig in einer Bar in der Nähe aufzukreuzen.

Zuvor verbringt George jedoch einen Abend mit Charlotte, die trinkt, bis sie enthemmt genug ist, um sich ihm mit all ihrer Lust und Frustration anzubieten. Und dabei hofft, er sei seinerseits benebelt genug, um sie nicht abzuweisen. Und er tut es doch, hinterlässt sie offen und verletzt, trotz inniger Freundschaftsbekundungen, traurig und sehnsüchtig; er selbst noch im Glauben daran, sie nie wiederzusehen. Denn Zuhause wartet die geladene Waffe, wartet der Anzug, den er für sein eigenes Totenbett herausgesucht hat, liegen die Abschiedsbriefe bereit und wartet ein letzter Moment vor dem Kamin, bevor eine Kugel sein müde gewordenes Hirn treffen soll.

Erinnerung an Liebe. (Bilder: Verleih)
Umtriebig von der Erinnerung an seine erste Begegnung mit Jim (Matthew Goode) landet George jedoch in einer Bar, wo er auf Kenny trifft. Die Farbe fällt zurück in die so entsättigten Bilder, der Professor wirkt um Jahre verjüngt, nun, da ein Lächeln seine Züge entspannt und er sich sichtlich angetan dem Flirt mit seinem jungen Schüler hingibt. Die beiden baden im Meer, Kenny wird dabei zum Retter des Älteren, als dieser von einer Welle niedergedrückt wird. Wie zufällig legt Ford dem Schüler die Worte des verstorbenen Liebhabers in den Mund, wandert George wie in Trance hinter dem Jungen über den Strand. Berührung, Begehren und die kribbelige Anspannung vor der ersten leidenschaftlichen Geste liegen greifbar in der Luft, doch der Designer lässt seine Figuren nicht aufeinander prallen, sondern umeinander tanzen. Es ist ein zartes Andeuten und vorsichtiges Tasten, in dem beide sich verlieren, weil keiner dem Gegenüber zuerst den Blick hinters eigene Visier zugesteht.

Die Begegnung schafft, was Freunde, Beruf und vorangegangene Flirts nicht vermochten – sie zieht George zurück ins Leben. Aus dem Off berichtet der Professor von den wenigen Momenten der absoluten Klarheit, die er in seinem Dasein verspürt hat und wie sie ihn aus der Tiefe zurückziehen ins Licht, wo er nun bleiben möchte; bleiben muss, gleichsam – zum Leben verführt. Firth schenkt seiner Figur in all dem eine entwaffnende Zärtlichkeit, in der sich jede Bewegung wie ein Streicheln anfühlt. Als am Ende unerwartet ein Stich Georges Herz durchfährt, trifft dieser den Zuschauer ebenso unvermittelt wie jenen Leinwandhelden, der sich dem Leben doch gerade wieder zugewandt hatte.

Durch die Begegnung mit Kenny aber ist ihm ein Abschied in Frieden geschenkt – oder war da vielleicht gar niemand? Und ist der junge Mann am Ende nur eine flüchtige Vorstellung, eine Projektion, mit der George sich aus der Lethargie zu reißen versuchte…

*



Mittwoch, 9. Dezember 2009

Ich sehe es nicht kommen – aber ich kann es spüren




Lange hat es gedauert, bis Helen“, das mittlerweile nicht mehr ganz so neue Werk von Regisseurin Sandra Nettelbeck (Bella Martha)  auch in Deutschland in die Kinos kam – am 26. November war es so weit. In ihrem Film zeigt Nettelbeck die Geschichte einer Frau, die scheinbar alles hat – und an einer Depression erkrankt. 

Für Helen (Ashley Judd) selbst kommt die Krankheit zwar ähnlich unerwartet wie für ihr Umfeld, doch schlussendlich nicht ebenso überraschend: Vor zwölf Jahren war sie bereits einmal wegen einer Depression in der Klinik. Damals scheiterte ihre erste Ehe, inzwischen ist sie wieder verheiratet und ihre Tochter (Alexia Fast) zur Teenagerin herangewachsen.

Für ihren Mann David (Goran Visnjic) bricht mit der Diagnose eine Welt zusammen, den Halt jedoch verliert er erst, als er merkt – er kann seiner Frau nicht helfen. Weil sie sich nicht helfen lassen will, nicht helfen lassen kann. Der einzige Mensch, den sie noch an sich heranlässt ist Mathilda (Lauren Lee Smith), eine Schülerin aus ihrem Musikseminar an der Universität, die sie in der Klinik wiedertrifft. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Freundschaft, die zugleich Mut macht und unendlich traurig – denn sie basiert auf der gemeinsamen Krankheit. Und sehr schnell ist klar, beschließt eine der beiden Frauen, sich in ihr altes Leben zurückzukämpfen, bleibt die andere zurück; weil jede, wenn überhaupt, nur die Kraft hat, sich selbst zu retten.

Nettelbeck nimmt sich unglaublich viel Zeit, ihre Figuren zu entwickeln. Helens Depression quält sich gewaltsam aus ihr heraus, und Ashley Judd spielt diesen Zusammenbruch, die beißende Angst, die erdrückende Traurigkeit,  schmerzhaft authentisch. Obwohl Visnjic  hinter Judds schauspielerischer Leistung zurückbleibt, überzeugt auch er als überforderter Ehemann, der verzweifelt versucht, seine Frau an der gemeinsamen Liebe oder der Erinnerung daran heilen zu lassen. Doch Helen nimmt weder seine Hilfe noch die der Ärztin an, verlässt das Krankenhaus und verschanzt sich mit Mathilda in deren Wohnung.

Es mutet klischeehaft an, dass ausgerechnet eine Begegnung mit ihrer Tochter ihren Überlebensinstinkt weckt und sie dazu bringt, zur Behandlung in die Klinik zu gehen. Doch Judd vermittelt auch diese Wandlung überzeugend und überdies gibt es dem Zuschauer, der sich mit „Helen“ weit auf das schwierige Thema Depressionen einlässt, in diesem aufwühlenden Film ein Stück Hoffnung: Während Mathilda auf der einen Seite über den Selbstmord ihrer eigenen Mutter nie hinweggekommen, sondern daran sprichwörtlich kaputtgegangen ist, sieht Helen in ihrer Tochter den Grund, den sie brauchte, um gegen ihre Krankheit anzukämpfen.

Nettelbecks Film versucht nicht zu erklären, weil es nichts zu erklären gibt; er belehrt nicht, sondern lässt den Zuschauer mitfühlen – die Ohnmacht der Betroffenen ebenso wie die ihrer Mitmenschen. Das basse Erstaunen des Umfelds darüber, warum es gerade diese offenbar glückliche und erfolgreiche Frau getroffen hat: Weil es eben jeden treffen kann.

In ruhigen, kühlen Bildern, die wie ein Seelenspiegel Helens wirken, ohne dabei zu dramatisieren oder zu überzeichnen, gleitet der Zuschauer durch die Gemütszuständer der Protagonistin, fühlt und leidet mit ihr und bekommt zudem speziell in der Verzweiflung ihrer Tochter die unbarmherzige Wucht zu spüren, mit der die Depression auch die Angehörigen der Erkrankten trifft. Ein sehr empfehlenswertes Stück Kino zu einem wichtigen Thema.

*



Freitag, 20. November 2009

Eine neue Romy

Zuletzt habe ich Jessica Schwarz in der Verfilmung der „Buddenbrooks“ wahrgenommen – und sie konnte mich nicht überzeugen, ebenso wenig wie der Rest des Films. Anders war das nun beim ARD-Biopic „Romy“, das am 11. November in der ARD ausgestrahlt wurde. Einer der Gründe dafür ist, dass Schwarz „La Schneider“ nicht spielt, sondern interpretiert. Es wurde vorab viel geschrieben darüber, wie wichtig die Ähnlichkeit zwischen Romy und der sie verkörpernden Schauspielerin sei – inzwischen muss ich sagen: nicht besonders. Regisseur Torsten C. Fischer schenkt seiner Aktrice den Freiraum, ihre eigene Version von Romy Schneider zu (er)finden – das funktioniert viel besser als reines Abpausen.
Fotos: ARD – Pressedienst

Zu diesem Vertrauen schenkt Fischer der Schauspielerin unendlich viel Zeit, sich mal verträumt, mal wütend entschlossen in Nahaufnahmen zu geben, die dem Zuschauer angenehm im Gedächtnis bleiben. So zum Beispiel, als Schneider Harry Meyen (großartig: Thomas Kretschmann) erzählt, sie erwarte ein Kind von ihm; quälend lang ruht die Kamera da auf Schwarz Gesicht, das den Moment intensiv trägt. Oder wenn die schwarzsche Romy mit flirtendem Blick zu ihrem Geliebten mit ihren Fingern zart durch die Kristalle einer edlen Lampe fährt, dazwischen an einem Glas tiefroten Weins nippt, sich dreht und in sich selbst verliert, wie in Unkenntnis der sie beobachtenden Kamera.

Rar bleiben dagegen die Szenen, in denen man der 32-jährigen Schwarz ihre Romy nicht abnimmt; es sind vor allem jene mit ihrem Sohn David (u.a. David Haubenstock), aber auch der Teil des Films, der aus der Zeit erzählt, als sie während der Verfilmung von „Gruppenbild mit Dame“ an Heinrich Böll schreibt, von dem sie sich nicht gewertschätzt fühlt. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Frauen lässt sich übrigens am Ende tatsächlich nicht verhehlen – das verbindende Element ist ihre Gestik. Wie Romy arbeitet auch Schwarz viel mit den Händen und es tut gut, wenn in besonders intensiven Momenten ihr Gesicht oft nur in den Ausschnitten zwischen ihren langen Fingern zu sehen ist, eine filmische Andeutung dessen, was die Realität einst schrieb. Die Fernsehkritik zum Film gibt es hier.

*

 

kostenloser Counter