Posts mit dem Label Familienbande werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Familienbande werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 27. Januar 2014

Am Ende ein Sonntagskind



Mein Vater wuchs im festen Glauben daran auf, ein Sonntagskind zu sein. Ich kann nicht sagen, warum ihm das so wichtig war – aber ich erinnere mich, dass er oft davon sprach: Meine Oma hatte ihn an einem Sonntag auf die Welt gebracht, damals, ein paar Jahre vor Kriegsbeginn. Und das, davon schien er aus vollem Herzen überzeugt, hatte sein Gemüt geprägt, seinen Glücksstern bestimmt.

Am 50. Geburtstag meines Vaters aber kam es bei den Festlichkeiten zu einem Eklat, der meine Oma als Lügnerin enttarnte. Zum runden Jubiläum hatte meine Tante sich ein ganz besonders Geschenk für ihren jüngeren Bruder einfallen lassen: die Ausgabe einer Berliner Tageszeitung, vom Tag seiner Geburt. Mein Vater war begeistert, meine Großmutter wirkte hingegen seltsam angespannt. Und bald zeigte sich auch warum – der Wochentag, der mit fetten Lettern auf der Zeitung prangte, war kein Sonn- sondern ein Montag.

Stein des Anstosses: Berliner Lokal-Anzeiger. (Foto: WP)
Mein Vater war ein sehr leidenschaftlicher Mann, das galt auch für seine Wut – und er wurde schrecklich wütend. Auf seine Mutter, die ihn belogen hatte. Auf seine Schwester, die ihm die Lüge aufgedeckt hatte, wenngleich unbeabsichtigt. Darauf, dass er ausgerechnet montags auf die Welt gekommen war, als würde mit diesem Wochentag etwas nicht stimmen. Auch meine Großmutter, eine kleine, energische Person, wurde wütend – auf meine Tante, natürlich, die doch nur das Beste im Sinn gehabt hatte. Und redete sich erbost raus, die zwei Minuten nach Mitternacht könne man getrost vernachlässigen.

Aber mein Vater blieb unversöhnlich. Denn es hatte ihm immer etwas bedeutet, diese Rolle des Sonntagskindes. Er hatte sein Leben darauf bezogen und jedes Glück, das ihm in all der Zeit widerfahren war. Nun fühlte er sich betrogen.

Bereits ein paar Jahre zuvor hatte mein Paps, noch sehr jung, den ersten Herzinfarkt erlitten, dem über die Jahre viele weitere Herzsorgen folgen sollten. Die Ärzte hatten meiner Mutter damals kaum Hoffnung auf sein Überleben gemacht; wir Kinder waren viel zu klein, um zu verstehen, was da passierte. Nur erschrocken, dass unser Vater plötzlich im Krankenhaus lag und dazu noch einen Rollstuhl brauchte, obwohl man uns doch erklärt hatte, sein Herz wäre krank. Aber das steckte doch nicht in seinen Füßen!

Mein Vater überlebte, fast schon zur Verwunderung seiner Ärzte. Die ihm gratulierten, als er verkündete, dies hier sei ab heute sein zweiter Geburtstag, weil ihm das Leben neu geschenkt worden war. Diesmal ist es ein Sonntag gewesen, tatsächlich, als er die OP überlebte und sich wieder einließ auf das Leben; doch noch ein Sonntagskind wurde, im zweiten Anlauf. Es war nur das erste von vielen Überlebensmomenten, die ihm und uns beschieden wurden; doch der letzte Infarkt hat sein schwach gewordenes Herz tödlich getroffen. Uns hat er überwältigt und die Sprache geraubt, weil wir so gewohnt waren, an sein Überleben.

Am Tag seines Todes saßen wir vier Kinder bei meiner jüngsten Schwester zusammen und beratschlagten, was nun zu tun sei. Weil dies doch alles war, das uns blieb – nun, da er von uns gegangen war: beratschlagen, entscheiden und Dinge erledigen, in seinem Namen. Als aber schließlich einer von uns damit anfangen wollte, notwendige Telefonate zu führen, da schüttelte mein Schwager den Kopf; und wir begriffen, noch bevor die Worte seinen Mund verließen, was er sagen wollte: „Geht nicht. Heute ist Sonntag.“

*


Donnerstag, 3. Oktober 2013

Fathers

It always made him happy to remember his father
and he knew his father would have liked this story.
[Ernest Hemingway]


*



Donnerstag, 4. Juli 2013

Detailfragen


Telefonat mit meiner Nichte (3 ½): „Mara, wo bis du?“
„Zuhause.“
„Bist du nicht bei deinem Papa?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Na, mein Papa ist doch tot, Marie.“
„Nein.“
„Doch, leider.“
„Wo ist dein Papa jetzt?“
„Der ist im Himmel, beim lieben Gott.“
„Warum?“
„Weil er gestorben ist, weißt du.“
„Mein Papa ist auch gestorben.“
„Nein, Quatsch, dein Papa lebt. Unser Papa, also der von mir und deiner Mama, ist schon gestorben, aber deiner zum Glück noch nicht.“
„Doch, mein Papa ist auch tot.“
„Marie, nein, schau mal, wenn jemand tot ist, dann ist er gar nicht mehr hier, das ist sehr traurig. Aber dein Papa ist da, der frühstückt mit dir, geht arbeitet, springt rum…“
„Nein, Mara, der springt nicht rum. Der sitzt auf dem Klo!“

*

Montag, 12. März 2012

Tage wie dieser

Heute habe ich dich gesehen. Es war das erste Mal seit längerer Zeit, erkannt habe ich dich trotzdem sofort. Es muss etwas mit dieser Körperhaltung zu tun haben, die so typisch für dich ist; es scheint, als ob du immer ein wenig zu breitbeinig stehst. Darüber der Oberkörper, ein wenig zu kurz, in einem Hemd, das etwas zu locker in der Hose steckt. Leicht vorgebeugt stehst du neben dem Auto, hältst etwas dabei in der Hand – ich vermute, es sind deine Zigaretten. Und muss schmunzeln, kann mich nicht wehren gegen die Welle der Zärtlichkeit, die mich durchrollt. Ich möchte böse sein mit dir für die Unvernunft mit den verdammten Dingern, aber du verteidigst sie mit so viel Leidenschaft, dass ich den Widerstand aufgegeben habe.

Dich so stehenzusehen, in deinem hellblauen Hemd, die dünner werdenden Haare leicht vom Wind angehoben, weckt Erinnerungen an ähnliche Momente, oder besser – Tage: Zufall ist es sicher nicht, gerade an einem auf dich zu treffen, der wie ein erster Vorbote des Frühlings über uns gekommen ist. Du und ich, in meiner Heimatstadt, in diesem kleinen Gässchen zwischen der Hauptstraße und – wo führt es überhaupt hin? Die handvoll Spatzen am Rande einer Pfütze, die mit vorschnellenden Köpfchen über aufgeplusterten Körpern daraus trinken. Du, der im Laufen innehält, die Zigarette in der Hand. Lachst, forderst mich auf, ebenfalls stehenzubleiben, den Spatzen zuzuschauen. Bist völlig begeistert und fasziniert von ihrem alltäglichen Schauspiel.

Ich, die ich mich sträube, innerlich kopfschüttelnd. Was kann einen erwachsenen Mann minutenlang an diesem Bild faszinieren? Bis ich mich ergebe, der absurden Schönheit des Moments, und – ja: dir. Dabei feststelle, wie die Sonne sich durch die Gasse stiehlt, in einem Fenster bricht und das Spatzenbild erleuchtet, als wolle sie dich dabei unterstützen, mir diesen Moment ins Bewusstsein zu tragen. Wo er geblieben ist, gemeinsam mit dem Wissen, es machte ja keinen Sinn, dich antreiben zu wollen. Du hattest es längst nicht mehr eilig.

Du, an dein Auto gelehnt, vor meiner alten Wohnung. In meiner Erinnerung spielst du an deinem Handy, zugleich weiß ich, das sicher geglaubte Bild trügt. So muss es doch wieder die Zigarette gewesen sein, die du in deinen Fingern drehst, mit beinahe gespitzten Lippen daran ziehst und sie schließlich mit deiner Hand fast aus dem Mund fallen lässt, der sich zu einem breiten Lachen öffnet, als ich aus der Tür trete. Du winkst und lachst und lachst und winkst und ich kenne niemanden, der sich so offensichtlich freut darüber, einen anderen Menschen zu sehen. Frage mich, ob das immer so war, ob du dasselbe Strahlen auch schon ausgesandt hast, als wir vor langer Zeit noch Tag für Tag am selben Tisch gesessen haben.

Du, der du im Hang neben unserem Garten herumkletterst, Unkraut zupfst, Sträucher beschneidest, kurz: Dinge tust, von denen ich keine Ahnung habe – und die bei anderen Menschen Anstrengung vermuten lassen, nicht aber bei dir. Wieder dieses Strahlen und wieder die Zigarette. Wieder winkst du, bewegst dich, wie mit einem Ausfallschritt, ein Stückchen auf mich zu. Ich lache nun auch und winke zurück, bekomme Lust auf eine Zigarette, obwohl ich nicht rauche; bis heute möchte ich mir zu diesen Erinnerungen eine Zigarette anstecken – verrückt, findest du nicht?

Ich will dein Winken nicht so fern wissen, möchte dein Lachen aus der Nähe sehen. Ich wünschte, du würdest mir und meinen Teenagerfreunden mitten in der Nacht Spaghetti Bolognese kochen. Mit einem Eimer Kirschen aus dem Baum klettern, mich zu einem Eis einladen, dorthin, wo du zu den süßen Kugeln und dem Cappuccino italiano noch rauchen darfst. Du könntest es nicht glauben, wenn sie dir das heute verbieten würden – bei der Vorstellung muss ich grinsen und kann deine Entrüstung fast spüren.

Da stehst du also auf diesem Parkplatz. Und ja, es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich dich so sehe, mitten im Tag, ohne einen bestimmten Anlass. Aber es ist das falsche Auto, an dem du lehnst. Und in der Hand ruht nicht die ewige Packung mit den Zigaretten, sondern ein Smartphone. Das Blau des Hemdes ist zu hell – oder zu dunkel, jedenfalls nicht richtig und die Haare: nein, deine sind anders. Weniger licht, dafür dünner, auch die Farbe ist falsch, alles ist falsch; ich kann es selbst auf diese Distanz erkennen.


Und doch: Magst du auch nicht mehr hier sein und der Schmerz darüber nie vergehen. Bist du doch nah. Spüre ich deine Gegenwart an manchen Tagen so lebendig wie einst. Wird mein Herz dich nie loslassen und deines mich nie allein. Und werden wir uns immer wieder begegnen, an Tagen wie diesem; wenn ich dein Strahlen auch nur noch aus der Entfernung spüren kann.


*


Freitag, 4. März 2011

Scars

Ich habe ein paar alte Narben, die nun, wo ich braungebrannt in der Flughafenhalle stehe, besonders gut zu sehen sind. Eine kleine, auch jetzt kaum sichtbar, nur ein dünner, weißer Streifen auf dem Gelenk meines Mittelfingers an der linken Hand. Eine alte, etwas größere, auf der Innenseite meines rechten Arms, die zwar noch zu sehen ist; aber nicht mehr zu spüren. Während ich sie mit dem Finger sanft berühre, fahre ich mir mit der Zunge neugierig über die Oberlippe und schiebe den feuchten, schmalen Muskel noch ein Stück weit darüber hinaus, so nah an die Nase heran, wie ich kann, denn auf dem Weg dorthin befindet sich eine weitere Narbe. Klein, kreuzförmig und verwachsen. Ein schmaler, unsauberer Kreuzstich in meinem sonnenverbrannten Gesicht.

The Memories we share. (Foto: Monika Braun)
Es war so wahnsinnig heiß und schwül in diesen Urlaubswochen, ohne das kleinste barmherzige Lüftchen, so dass ich fast den ganzen Tag auf meiner Luftmatratze auf dem Meer getrieben bin; nun spannt jeder Millimeter meiner Haut. Ich versuche mir vorzustellen, wie viel früher die Falten in meinem Gesicht zu tiefen Schluchten werden, dank dieser Zeit, dank der Hitze, der Sonne. Und muss an den vorwurfsvollen Gesichtsausdruck meiner Schwester denken, als diese mir kürzlich beinahe wütend verkündete, sie habe trotz ihrer jüngeren Jahre bereits mehr Falten als ich.

Ich taste mit einer Hand vorsichtig über den Stoff meiner Jeans, vornübergebeugt, mit der zweiten Hand auf meinem Koffer aufgestützt, wobei ich bete, dass dieser kein Übergewicht hat. Dort, wo meine Hand vorsichtig und ein wenig ungelenk entlangfährt, in der Mitte des linken Knies, befindet sich noch eine Narbe. Ich kann meine umgekrempelte Jeans nicht weit genug hochschieben, um sie zu sehen, aber ich weiß, sie ist da. Eine tiefe, kraterförmige Schlucht, von fast brutaler Zerschlagenheit; und wunderschön.

Ein Stück weiter das dünne, lange Bein hinunter weiß ich um eine weitere Narbe, die sogar unter der Arbeiterhose hervorblitzt, doch ich habe mich bereits wieder aufgerichtet und beachte sie nicht. Ihre Form kann ich sehen, wenn ich die Augen schließe, ihre Farbe ist weißer als weiß, und sie erscheint fast frisch. Sommer. Meer. Urlaub. Lanzerote. Riff. 1998. Ein anderes Leben.

Noch ein Stück tiefer, auf dem rechten Bein aber, die nächste – doch erst noch im Werden. Wie eine rittlings umgestürzte Schweinsbohne mit 1000 dünnen Ärmchen und Beinchen. Rot und blutig, die Entzündung gerade abgeklungen, aber noch erkennbar in dem verhärteten Eiter, der gelb und ätzend durch die ansonsten dunkle Kruste hindurchschimmert. Ein aufgekratzter Mückenstich, der mir dreckige Nägel, meine Wut auf die Mücken, das Jucken, und mich selbst, irgendwie, der mir den Sand und das Meer und ständiges wieder an-ihm-herumpulen erheblich übler genommen hat, als ich es zunächst erwartet konnte.

Die Narbe am linken Knie ist von einem Sturz mit dem Fahrrad. Ich weiß, dass ich noch ein Kind war, blond, pausbäckig, mit großen, durstigen Augen. Unsere Straße, in der wir damals das Haus Nummer 4 bewohnten, später dann die Nummer 2, hatte eine Seitengasse: sehr steil und von einer scharfen Kurve in zwei ungleiche Hälften aufgeteilt. Oben wohnten nur zwei Familien. Die eine hatte zwei Söhne und viele, viele Katzen, von denen mich eine, die wildeste, als Kind angriff und mit wütenden Bissen verletzte.

Ich erinnere mich daran, und auch an die Wut auf meine Mutter, weil sie mir nicht glauben wollte, dass sich das Katzengebiss so sehr in meinen Schenkel verkeilt hatte, dass es auch nichts nützte, als ich laut schreiend und wild umherhüpfend damit durch die Luft wedelte, das Tier wollte nicht von mir lassen, und irgendwann glaubte ich zu erkennen, dass es sogar das Maul geöffnet hielt, aber trotzdem nicht von meinem Bein abfiel, weil sich die Zähne so tief in mein Fleisch gebohrt hatten. Hinterher hatte ich jahrelang Angst vor Hunden, ohne dass ich dafür eine vernünftige Erklärung hätte abgeben können.

Mein Vater war damals mit mir oben bei den Nachbarn, zur Gegenüberstellung, und beim Anblick der Katze sprang ich mit einem Satz auf seinen Arm und begann laut und jämmerlich zu heulen. Die Katzenbesitzerin, eine mächtige Doppel-D, die sich Jahre später zum Entsetzen meines Vaters die Brüste chirurgisch verkleinern ließ, hörte auf, ihre Unschuld zu beteuern und schwenkte um auf Bedauern. Ich hasste sie dennoch in diesem Moment, die Katze aber tat mir leid, nun, da ich erfahren hatte, dass sie nicht im Haus schlafen durfte, sondern nachts in den Hof verbannt wurde. So wurde das Tier für mich unschuldig und es war, als hätte mich an seiner statt die Besitzerin gebissen.

Die Familie gegenüber hatte ebenfalls zwei Kinder, aber viel ältere. Das Mädchen, soviel weiß ich noch, hieß Annette. Ich mochte sie, zumindest meistens. Eigentlich nur dann nicht, wenn wir fein eingeladen waren, bei Snob-Freunden meiner Mutter, denn dann musste Annette mir einen französischen Zopf flechten, was ziepte, meine Mutter nicht konnte – und ich nicht leiden.

Meine jüngere Schwester, Annette und ich haben manchmal gemeinsam mit ihrem großen Bruder süße Erbsen aus ihren Hüllen gepult und im Sichtschatten einer Hecke gegessen, während die Erwachsenen im Sommer an lauen Abenden auf der Terrasse hinter dem Haus grillten. Von Annettes Vater durfte ich die alten Goofy Comics leihen, Hefte, in denen es nur um den sympathischen, trotteligen Hund im roten Pullover ging, und die ich nicht gekannt hatte, bevor ich sie eines Tages bei ihm entdeckte.

Annettes Vater ist vor ein paar Jahren an seinem Geburtstag gestorben. Beim Kaffeetrinken vom Stuhl gekippt, einfach so, den Kuchen noch auf der Gabel. Herzinfarkt. „Zu früh, der arme Kerl“, hat mein Vater damals gesagt, denn für ihn kam der Tod fast immer zu früh, und mit traurigem Gesicht und ungläubigem Kopfschütteln rechnete er an manchen Samstagen das Alter der Verstorbenen aus den Todesanzeigen aus und schien ehrlich darunter zu leiden. Und dann sagte er noch, „aber ein schöner Tod, so beim Feiern, und Kuchen zum Abschied!“ – oder zumindest wünsche ich mir das.

goodbye my friend it’s hard to die / when all the birds are singing in the sky /
now that the spring is in the air / pretty girls are everywhere /
think of me and i’ll be there
[Terry Jacks: Seasons in the Sun, 1973]

*


Dienstag, 21. Dezember 2010

Eigentlich ein Winterkind…

Vielleicht ist es der Schnee, warum ich derzeit so oft an dich denke. Solange ich mich erinnern kann, habe ich den Schnee geliebt. Obwohl ich doch eigentlich ein Sommerkind war: Freibadnixe, Sonnenanbeterin, Frostbeule. So, wie ich dich geliebt habe – obwohl ich doch eigentlich zuallererst ein Mamakind war: Waffenträgerin, Schmeichelkatze, Zaunprinzessin. Eigentlich… Zehn Buchstaben, und darin eine ganze Welt. Die mich immer wieder aufs Neue schmerzt, im Vermissen.

Der Schnee macht alles leise, hüllt die Welt in ein Schweigen, in dem das Pochen meines Herzens klingt wie dumpfe Schläge gegen Höhlenwände. Niemals liegen Friede und Aufruhr so nah beieinander wie in diesen weißen Wochen. Wenn der strahlende Schnee Schritte und Lachen ebenso verschlucken kann wie unbändige Freude und Energie freisetzen. Wenn die Tage angefüllt sind mit zärtlichem Erinnern und dem wieder aufbrechenden Schmerz über einen Verlust, den ich niemals ganz begreifen werde. Wenn du überall bist – und doch nie wieder hier.

Die Wochen vor Weihnachten, das war auch damals: Friede und Aufruhr, Freude und Terror in ungewohnter Nähe. Wir wurden eine Kirchenfamilie und ich liebte, wie dort die Sonntage im Advent begangen wurden, schmetterte inbrünstig, „macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit“ – und träumte vom Christkind und dem Heiligen Abend. Wir wurden eine Streitfamilie und ich hasste, wie Kleinigkeiten ausuferten im Advent, wollte mich nicht in harte Bandagen wickeln, um mitzukämpfen – und scheute mich vor dem Heiligen Abend, wenn die Auseinandersetzungen in trauter Runde und Regelmäßigkeit ihren Höhepunkt erreichten. Ich konnte Weihnachten kaum erwarten und fieberte dem Ende der Feiertage entgegen, die im Rhythmus der Jahre mal in der erwartbaren Katastrophe endeten, dann aber überraschend ein Licht in uns entzündeten, das weit über das Ende dieser Tage leuchtete.

Der Schnee stiehlt sich in meine Erinnerung an die Bilder dieser Zeit, obwohl er vielleicht nur in den Jahren zu Gast war, die wir Weihnachten im Winterurlaub feierten. Er war dein Element, ohne als solches durchzugehen. Du auf Skiern, diese Bewegung erschien beinahe natürlicher als die Schritte, die du sonst in die Welt gesetzt hast. Der Schneeanzug, das war deine zweite Haut, und die erste ewig sonnenverbrannt. So trugst du auch im tiefsten Winter den Geruch des Sommers in jeden Raum.

Als du gestorben bist, rochen alle Innen- und Außenräume nach Schnee. Weich ist er auf den harten Boden gefallen, in den sie mit Gewalt eine Grube schlagen mussten, dich zu verschlucken. Und es lag ein Klirren in der Luft, von dem ich nicht sagen kann, ob es der Klang der brechenden Kälte war oder das Geräusch, das unsere Herzen machten im Abschied.


Was schlimm ist
(…)
Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun. 
(…)
Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

[Gottfried Benn]

*


 

Freitag, 9. April 2010

Jockel [… leave a piece of you with me]

Als ich ein kleines Mädchen war, arbeitete mein Paps für eine Firma in Berlin. Über Berlin wusste ich nur zwei Dinge: „große Stadt“ und „weit weg“. Ich vermissten ihn furchtbar, wenn er wieder lange Tage, manchmal sogar Wochen, nicht bei uns zu Hause war – und bei seiner Rückkehr gab es jedes Mal ein großes Hallo. Oft wurde es Nacht, bis er auf seiner Rückreise aus der großen Stadt endlich daheim ankam. Wir Kinder lagen dann längst in unseren Betten und meist haben wir schon geschlafen, doch das hätten wir nie zugegeben, wollten wir uns doch endlich wieder an die starke Papibrust schmiegen können, wo es nach Pfeife roch. Nach dem Leder der Jacken, die er trug. Nach der großen, weiten Welt da draußen, von der wir noch nichts wussten. Nach Liebe und Geborgenheit.

So bestanden wir stets flehentlich darauf, ihn bei seiner Rückkehr noch begrüßen zu dürfen. Und egal wie spät es wurde, irgendwann in der Nacht würden sich die Türen zu unseren Kinderzimmern, in denen wir gegen den Schlaf strampelten, einen kleinen Spalt öffnen, sodass zunächst ein wenig Licht hereinfiel, von dem wir wie ein voreingestellter Videorekorder sofort wieder wach waren, sollte der Schlaf uns doch erwischt haben. Dem Licht schließlich folgte leise, sacht, sein Kopf, den er durch den Türspalt ins Zimmer schob – womit er helle Begeisterung auslöste. Und: Neugierde darauf, was er uns aus der großen Stadt mitgebracht hatte, denn er kehrte nie mit leeren Händen heim.

„Hallo Papi!“ flüsterte ich dann, aufgeregt, „Papi, hast du mir was mitgebracht?“ Ich konnte meinen Paps selbst im Halbdunkeln lächeln sehen, wie er sich auf mich zubewegte, um mich für meine Frage durchzukitzeln – und dabei vorgab, enttäuscht zu sein, weil ich mich gar nicht für ihn interessierte, sondern nur für sein Geschenk. Anschließend blieb er immer eine Weile sitzen, erzählte von der großen Stadt und seinen Kundenfahrten und ich lauschte gebannt, bevor ich meinerseits erzählte, von den Dingen, die ich in seiner Abwesenheit erlebt hatte. Als er schließlich die Tür ebenso leise wieder hinter sich schloss, wie er sie Minuten zuvor geöffnet hatte, wollte ich ihm die Frage nach dem Geschenk nachrufen. Doch da spürte mein Kopf etwas Weiches, Warmes, direkt neben meinem Gesicht – einen kleinen Plüschhund, den er unbemerkt bei mir liegengelassen hatte. Ich taufte ihn auf den Spitznamen, den mein Vater als kleiner Junge getragen hatte: Jockel – und ich liebte meinen „Berliner“ innig. Bald war er durchgelegen und plattgeliebt von meinen innigen Umarmungen.

Der Sommer begann und mit ihm die Tennissaison. Tagelang jagte mein Vater nun in seiner freien Zeit den gelben Bällen hinterher – bis zu dem einen, als ihn beim Spiel ein Herzinfarkt erst taumeln ließ, dann fallen und im gefräßigen Schlund des herbeigeeilten Krankenwagens verschwinden. Als wir ihn zum ersten Mal in der Klinik besuchten, trennte ich mich von meinem geliebten Jockel und hinterließ ihn am Krankenbett, damit mein Paps nicht alleine an diesem schrecklichen Ort bleiben musste. Über die Jahre wurde daraus ein selbstverständliches Ritual: Immer wenn das Herz meines Vaters aus dem Takt geriet, wechselte das Jockelchen von meinem Kopfkissen zu seinem, ins Bett einer Klinik. Mit der Zeit schien er sogar ein wenig nach Krankenhaus zu riechen, egal wie oft er sich in der Waschmaschine tummelte.

Als ich älter wurde, landete der Plüschhund ein wenig herzlos in einer flachen Kiste unter dem Bett, gemeinsam mit Puppen, Teddys und allerlei anderen Gefährten aus Kindertagen. Irgendwann war ich zu alt geworden, um nachts einen abgewetzten Plüschhund mit einer gelben Weste im Arm zu halten – und ihn meinem Vater jedes Mal wieder ins Krankenhaus zu bringen, erschien mir auch nicht mehr passend. Dann aber, als ihm am Tage nach seinem 65. Geburtstag in einer komplizierten Operation mehrere Bypässe gesetzt wurden, stand ich in einem Anflug hilfloser Nostalgie doch wieder mit dem eingestaubten Plüschtier an seinem Bett, verlegen grinsend, weil der doch immer Glück gebracht hat. Mein Paps grinste zurück.

Er hat die Operation überlebt und mein Jockel ist danach einfach bei ihm geblieben, ohne, dass wir ein Wort darüber verloren haben. Später, als mein Vater wieder nach Hause zurückgekehrt war, habe ich ihn dort gesehen: er hat im Schlafzimmer auf dem Bettrand gelegen, als treuer Wächter, der bei Nacht immer ein Auge auf meinen Paps hatte. Er hat den Schlaf meines Vaters bewacht bis zu dessen Tod. Als wir Geschwister am Morgen danach im Haus unseres Papis ankam, habe ich ihn gesehen, immer noch auf dem Bettrand – er war das einzige, was ich an dem Tag von dort mitgenommen habe.

So ist er nun zu mir zurückgekehrt, ist es wieder mein Kopfkissen auf dem er sitzt, bin ich es, auf die er ein Auge hat. Nach Krankenhaus riecht er längst nicht mehr. Aber, wenn ich die Augen schließe und meine Nase tief in sein verwetztes Fell wühle, finde ich darin alte Gerüche wieder. Nach Tabak duftet es da, ein bisschen zumindest. Nach Leder, auch. Nach Liebe und Geborgenheit. Nach Papi eben.

*


Montag, 22. März 2010

Wenn du die Scherben aufliest, zieh dir Handschuhe an


Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. 
Und es fließt 
das Herz sich nicht draus tot. 
Nur manchmal bin ich blind und spüre 
Blut im Munde.


[Gottfried Benn]

*



Freitag, 19. März 2010

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein

Beim ersten Mal ist er kaum älter als zwei. Die Sonne scheint, über dem Grab summen Bienen und ich kaue meine Unterlippe, als der Zwerg unvermittelt sagt: „Wo ist der Opa Jürgen jetzt?“ Dabei schaut er mit seinen großen, blauen Augen fragend zu mir herauf – und mein Herz verpasst einen Schlag beim Anblick dieses großartigen Kindes, das mein Paps nicht mehr kennenlernen durfte. „Im Himmel“, antworte ich mit einem Lächeln, hebe den Kleinen hoch und deute in die fliehenden Sommerwolken. Er nimmt die Neuigkeit interessiert auf, und als wir den Friedhof später verlassen legt er den Kopf in den Nacken, formt mit den Händen einen Trichter und ruft laut und fröhlich ins weltumspannende Blau: „Tschüß, Opa Jürgen.“

~~~

Bis er mich wieder darauf anspricht, vergeht einige Zeit. Eines Abends im Spätherbst, als wir mit seinem Einrad die Straße hinauflaufen, bevor der Zwerg sie erneut hinunterflitzen kann, schiebt sich seine kleine Hand in meine und er bleibt plötzlich stehen. Die Dämmerung taucht den Abend in dunkle Grautöne, über uns funkeln die ersten Sterne. „Ist der Opa Jürgen wirklich im Himmel?“, fragt der Kleine, und ohne Zögern antwortet ich, „na klar“. Doch er läuft darauf nicht weiter, zupft stattdessen unentschlossen an meiner Hand und will wissen: „Nicht in der Erde?“ Ich gehe zu ihm in die Hocke, fasse seine zweite Hand und frage, wie er darauf kommt. „Hat mir jemand erzählt“, sagt er unbestimmt. Ich überlege kurz, bevor ich sage: „Wenn ein Mensch stirbt, wird er auf dem Friedhof beerdigt. Das ist da, wo wir den Opa Jürgen besuchen. Aber er bleibt nicht in der Erde, sondern kommt in den Himmel, zum lieben Gott.“ „Auf eine Wolke?“, hakt er nach; ich nicke: „Genau.“ Da schlingt der kleine Mann seine Arme um meinen Hals und ich halte ihn fest; über uns ist der Abendhimmel inzwischen dunkel geworden.

~~~

Am nächsten Morgen beim Frühstück, während er nach der Brötchenhälfte greift, die seine Mama geschmiert hat, fragt der Zwerg mich: „Und wie hat der Opa Jürgen den Himmel gefunden?“ Meine Schwester hält kurz in ihrer Bewegung inne, ich suche ihren Blick, sie nickt mir zu: Mach du das. So viele Fragen, die zu drängend sind, als dass die Antwort darauf Zeit hätte… „Ein Engel hat ihm den Weg gezeigt“, sage ich schließlich, verwundert darüber, wie das Thema die ganze Nacht in seinem Kopf überlebt hat und er nun daran anknüpft, als hätten wir den losen Faden gerade erst entwischen lassen. Wie der Engel aussah, will mein Neffe wissen: „Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gesehen, nur der Opa.“ „Warum?“ „Den Engel kann man nur sehen, wenn man tot ist.“ Er nickt, bedächtig. „Und dann?“ „Der Engel hat den Opa Jürgen an der Hand genommen und in den Himmel gebracht.“

~~~

„Ist es okay, wenn wir den Opa Jürgen besuchen, bevor wir auf den Spielplatz gehen?“ Ich schaue im Rückspiegel nach dem lollieverschmierten kleinen Jungen, der konzentriert in seinem neuen Laura-Büchlein blättert. Wir kommen gerade aus dem Tierpark und ich meine die Frage ernst, weil ich ihn nicht mitnehmen mag auf den Friedhof, wenn er das nicht möchte. Er schaut auf, überlegt und sagt: „Kurz.“ Wenig später halten wir beim Friedhofsgärtner. Der Anblick der Frühlingsblumen versetzt mir einen Stich – wie damals, auf dem Sarg. Der Kleine hüpft und schlägt Blume für Blume vor, findet jede wunderschön und möchte am liebsten einen riesigen Strauß mit allen; schließlich nehmen wir gelbe Tulpen. Als wir den Friedhof betreten erkläre ich ihm, dass sein Opa in ein paar Tagen Geburtstag hat. „Bringen wir ihm da Kuchen?“, fragt er neugierig, und ich muss lachen. „Nein, den kann er ja nicht essen. Aber er freut sich über unsere Blumen“ – und gemeinsam legen wir sie auf der feuchten Erde ab.

Mit der Fußspitze wühlt mein Neffe sich in den Boden des Grabes, der locker nachgibt. „Gell, der Opa Jürgen ist im Himmel?“, fragt er. Ich nicke, setze mich auf den Rand des Grabs und der Zwerg will wissen, wieso wir ihn dann immer hier besuchen. Kaum ist die Frage gestellt schaut er unwillig und verkündet im Protestton: „Mir ist kalt!“ Ich öffne meinen Mantel, er setzt sich auf meinen Schoß und kuschelt sich in den warmen Stoff, den ich über ihm schließe. Sein süßer Kinderatem bläst gegen meinen Hals, ich überlege. Schließlich steckt er seinen Kopf aus dem Mantel und sieht mich fragend an. „Kannst du dich an den Engel erinnern, der den Opa Jürgen in den Himmel geführt hat?“ Er nickt. Ich hole tief Luft. „Der hat ihn hier abgeholt. Als dein Opa gestorben ist, ist er hier in die Erde gelegt worden. Sein Körper.“ Ich hänge, der Zwerg wiegt den Kopf und schlägt vor, dass wir nachschauen, ob er noch da ist. Oder ein Loch buddeln, damit er sieht, dass wir da sind. Mein Herz sticht, ich schüttle den Kopf.

„Wir brauchen ihm kein Loch zu buddeln“, setze ich an. „Er sieht uns auch so, weil er ja im Himmel ist.“ Der Kleine schaut aufmerksam an mir vorbei in die Wolken und nickt. „Aber obwohl der Engel ihn abgeholt hat, bleibt etwas von ihm im Grab. Eine Hülle. Ein bisschen so wie Kleider. „Kann man das angucken?“, fragt der Zwerg und ich schüttle wieder den Kopf. „Nein, das ist schon so lange in der Erde, dass es auch Erde geworden ist.“ Er überlegt, streckt einen Arm aus dem Mantel und bohrt den Finger in den feuchten Boden. „Und was ist im Himmel?“ „Alles, was deinen Opa ausgemacht hat“, sage ich und greife nach seinem Finger. Die kleine Kinderhand in meiner großen klopfe ich sanft gegen seine Brust. „Sein Herz“, gegen seinen Kopf, „seine Gedanken“, und wieder die Brust, „seine Liebe“. Der kleine Mann kuschelt sich fest an mich.

„Kann ich mit ihm reden?“ Ich schlucke. „Na klar. Du kannst ihm erzählen, dass wir heute im Tierpark waren. Dass wir seine Kamera dabei hatten. Wie es deiner Schwester geht. Was du willst.“ „Aber wie hört er mich?“, will der Zwerg wissen. „Er hört dich, weil er dich lieb hat. Egal wo du bist. Du kannst nicht nur hier mit ihm reden, sondern überall.“ Da dreht der Zwerg sich im Mantel zu mir und fragt mit großen Augen: „Auch an seinem Geburtstag?“ Ich nicke: „Auch dann, ja.“ Ernst schweift sein Blick zwischen Himmel und Grab, er überlegt. Plötzlich erhellt ein Strahlen sein Gesicht, und während er mich fest umarmt sagt er erleichtert: „Das ist gut!“ Und ich drücke ihn an mich, atme den Duft von Lollies und Kindershampoo und sage ebenso erleichtert: „Ja, das ist gut.“



[Titel: Rudolf Otto Wiemer]

*

 

Mittwoch, 16. September 2009

Club der toten Väter

„Es gibt da einen Club. Den Club der toten Väter. Und du kannst nicht Mitglied werden, bevor du nicht dazugehörst. Ich meine, natürlich kannst du versuchen, es zu verstehen. Du kannst mitfühlen. Aber – bevor du diesen Verlust nicht selbst erlebt hast… Es tut mir so leid, dass du jetzt dazugehören musst.“

„Ich weiß einfach nicht, wie ich in einer Welt ohne meinen Paps existieren soll.“

„Ja, das ändert sich auch nie wirklich.“


[Frei übersetzt aus: Greys Anatomy, 3. Staffel]

Im Herbst 2002 war ich mit meinem damaligen Freund, meiner Besten und einigen guten Bekannten im Sonnenurlaub in Spanien. Die Sonne verwöhnte uns, das Wetter war heiß und trocken, die Abende lang, lau und lustig. Wir tranken spanisches Bier aus kleinen, braunen Flaschen und spielten Karten, jeden Abend, als seien wir auf Klassenfahrt. An einem dieser Abende zeigte mein Handy eine neue SMS an. Sie war von einer guten Freundin, die, so glaubte ich, daheim ungeduldig auf meine Rückkehr wartete: Bereits im letzten Jahr hatten wir gemeinsam zwei Kurzfilme verwirklicht, nach meiner Rückkehr sollte der dritte folgen und wir tauschten täglich aufgeregte Nachrichten aus.

In der SMS ließ meine Freundin mich wissen, dass sie leider ausscheren müsse aus den Plänen, was sie sehr bedaure. So heftig betonte sie diesen Umstand, sich entschuldigen zu wollen für ihre Absage, dass ich einen langen Moment brauchte, um zu verstehen, was doch eigentlich nur zählte: Ihr Vater lag im Krankenhaus, bei ihm war Krebs festgestellt worden.

Er starb am Ende des folgenden Winters. Ich erinnere mich an meine Ohnmacht, wenn ich nie die richtigen Worte fand, um sie hinter ihrem abwesenden Gesichtsausdruck zu erreichen. An die riesige Wut auf Gott und die Welt, wenn sie am Telefon immer nur neue Hiobsbotschaften zu verkünden hatte. Und erinnere mich besonders an eine Feier bei mir Zuhause, das hilflose Gefühl, als sie leeren Blickes mitten im Trubel abwesend auf meinem alten Sofa saß – wie sie darin zu versinken schien. Immer schmaler wurde. Und mein Herz warf eine große, traurige Falte, als er schließlich gehen musste. Die intensivste Erinnerung die ich habe aber ist, dass ich es nicht verstehen konnte. Wie das sein muss, seinen Vater zu verlieren. Ich konnte das nicht begreifen: Es war zu groß für mich.

Im Sommer des folgenden Jahres war ich mit einer Freundin auf der Autobahn unterwegs, als wir das Ausfahrtsschild Bad Nauheim passierten. Ich schreckte zusammen, wie man als Kind zusammenzuckt, wenn man gegen die Warnungen der Eltern an einen Zaun greift, der leicht unter Strom steht. „Alles o.k.?“, fragte jene Freundin in mein blasses Gesicht. „Ja. Ich wusste bloß nicht, dass – dieses Schild gerade. Das hat mich etwas erschreckt.“ „Bad Nauheim?“, hakte sie nach und fügte hinzu: „Ja, das finde ich auch immer erschreckend.“ Sie lachte rau. „Wieso?“, war es nun an mir, nachzuhaken. „Mein Vater ist dort gestorben“, entgegnete sie leise; ihr Blick schweifte in eine Ferne, die mir unbekannt war. Mein Vater war auch in Bad Nauheim gewesen, nach seinem Herzinfarkt; doch er hatte überlebt.

Im Sommer 2004 bereiste ich mit meinem damaligen Freund die Südstaaten der USA. Es war der letzte, ernsthafte Versuch, unsere Beziehung noch zu retten – und ausgerechnet er, dessen Planeten sonst nur um seine eigene Sonne kreisten, hatte vorgeschlagen, dass wir mein Mississippi bereisen sollten, wo ich vor fast zehn Jahren die elfte Klasse besucht hatte. Eine Woche von vieren verbrachten wie bei einer lieben Freundin, mit der ich ein Jahrzehnt zuvor die Highschool gemeinsam durchlitten hatte. Und sie: hatte noch mehr gelitten, als ich schon längst wieder in der Heimat weilte. Schwanger mit siebzehn, war sie durch eine Hölle aus Ablehnung und prüder Entrüstung gegangen – doch hatte überlebt. Und wohnte nun mit ihrem Lebensgefährten, dem Sohn und ihren beiden Schwestern im Haus ihres Vaters. Allerdings – ohne den Vater, der kurz zuvor an Krebs gestorben war.

Ich erinnere mich an unsere vielen Gespräche am Tisch in der großen Küche. Sehe die Muster des dunklen Holzes vor mir, zu dem ich herabstarrte, auf meiner verzweifelten Suche nach den richtigen Worten. An meine Tränen, die mit einem leisen Platschen auf das Holz klatschten, und wie töricht ich mir vorkam – wo doch sie es war, die den Vater verloren hatte. Doch wieder überstieg die Situation meine Vorstellungskraft. Ich wollte für sie da sein, ihr Trost spenden – und hatte doch das Gefühl, dabei nie übers Stammeln hinauszukommen.

„Guck doch mal“, wisperte ich meinem Freund zu, wenn wir vor den Familienfotos standen, „das war an Ostern. Und sechs Wochen später, zack, ist er tot. Wie soll man das verstehen, ohne wahnsinnig zu werden?“ Er zuckte mit traurigem Gesicht die Schultern – da standen wir: Wortlos. Hilflos. Ahnungslos. Weil es Dinge gibt, die man nicht begreifen kann, bis man sie nicht selbst durchgemacht hat. Und Situationen, in denen man auch dann immer hilflos bleiben wird, wenn man sie schon erlebt hat. Weil es Erlebnisse gibt, in denen kein Wort passt, sondern nur stumme Gesten gegen die lärmende Stille sprechen.

„Es gibt da einen Club. Den Club der toten Väter. Und du kannst nicht Mitglied werden, bevor du nicht dazugehörst. Ich meine, natürlich kannst du versuchen, es zu verstehen, du kannst mitfühlen. Aber – bevor du diesen Verlust nicht selbst erlebt hast…“ An einem 30. Januar wurden meine Geschwister und ich Mitglied im Club der toten Väter. Überraschend. Über Nacht. Und, wie immer: viel zu früh. Ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt. Aber „ich weiß einfach nicht, wie ich in einer Welt ohne meinen Paps existieren soll.“

„Ja, das ändert sich auch nie wirklich.“


*

Dienstag, 9. Juni 2009

Fußballerziehung


Als die Tür zum Gästezimmer sich öffnet, ist es noch nicht einmal sechs Uhr. Im Rahmen steht strahlend der Zwerg und verkündet, er habe „fertig geschlafen“. Ich blinzle gegen das plötzliche Licht in meinem Gesichtsfeld, als es auch schon wieder von seinem Körper verdeckt wird. „Ich hab meine Decke dabei!“, erklärt mein Neffe – und dass er zum Kuscheln gekommen sei.

Verschlafen und ein wenig dankbar hebe ich einen Zipfel meiner eigenen Decke an. Wenn der Kleine mich an Besuchswochenenden bei meiner Schwester sonst vor seiner Mama weckt, fordert er meist seine Morgenmilch – und in Gedanken hatte ich schon den ersten Fuß auf den kalten Küchenfliesen. Kuscheln klingt dagegen sehr versöhnlich und nur Sekunden später spüre ich die Wärme des kleinen Körpers ganz nah an meinem.

„Hast du auch ausgeschlaft?“, kitzelt mich der Atem meines Neffen am Hals und ich murmle ein müdes „Mhm“. Der Kleine dreht sich auf den Rücken, schiebt sich in der Bewegung noch ein wenig näher an mich heran und fragt: „Wann sind wir mal wieder bei deinem Zuhause?“ Gähnend erkläre ich: „Hoffentlich bald, bei mir in der Nähe sind nämlich Pferde, die muss ich dir mal zeigen!“ – die Höfe habe ich selbst erst kürzlich in meiner Nachbarschaft entdeckt. „Und Traktoren.“

„Wo sind die Traktors?“, fragt der Zwerg und ich erkläre: „In den Feldern, weißt du, wenn wir zum Spielplatz gehen und dann über die kleine Brücke.“ In Jakobs Gesicht arbeitet es, ich weiß, er kennt den Spielplatz, bin mir aber nicht sicher, ob er sich an die Felder schon erinnern kann. Mir fällt plötzlich etwas ganz anderes ein. „In den Feldern, da wird jetzt auch das neue Stadion von Mainz 05 gebaut, weißt du. Fußball.“ Das Wort weckt sein Interesse. „Was für ein Fußball?“ Auch ich werde ein wenig wacher. „Mein Fußball, Mainz 05. Du hast doch den roten Schal an deiner Hängematte, weißt du, welchen ich meine?“

Jakob gähnt und deutet auf das Dachschrägenfenster. „Wieso ist da offen?“ Ich folge seinem Blick und erkläre: „Weil ich gerne in den Himmel gucke.“ „Wieso?“, will der Zwerg wissen. „Weiß nicht, ich mag das einfach.“ Und: „Weißt du, welchen Schal ich meine? Ich hab so einen in kleiner auch am Autofenster.“ Mein Neffe schaut weiter grübelnd zum Dachfenster hinaus. „Gell, im Himmel ist der Opa Jürgen?“ Mein Herz wird ganz leise. „Ja“, sage ich einfach und der Kleine strahlt mich an. „Das ist dein Papa und der ist tot, aber mein Papa ist nicht tot!“, erklärt er mir enthusiastisch seine gesammelten Weisheiten. Ich küsse ihn auf die Nase. „Nein, ist er nicht, und das wird auch noch lange so bleiben.“

Da kommt der Zwerg plötzlich unerwartet zurück zum Fußball. „Hast du auch ein Tor geschossen?“ Ich muss lachen. „Nein, ich spiele doch gar nicht.“ „Auch nicht im neuen Stadion, im Feld?“, wundert sich mein Neffe. „Nein, ich gucke nur zu. Und bald nehme ich dich mal mit. Da hängen wir uns die Schals um, und wenn dann ein Tor fällt schreien wir ganz laut, aber du brauchst dich nicht erschrecken.“ „Warum schreien wir da?“, will Jakob wissen. „Na, weil wir uns so freuen.“

„Und was ist das?“ Fragend zupft er an einem hellen Träger, der über mein Schlüsselbein unterm T-Shirt verschwindet. „Das ist ein Trägershirt.“ „Warum hast du das an?“ „Weil es heute Nacht kalt war“, erkläre ich und versuche, zum Thema zurückzukommen. „Aber bevor das neue Stadion steht, nehme ich dich mal mit ins alte. Das heißt Bruchweg.“ „Hast du auch einen BH an?“, fragt der Kleine, einen Finger immer noch an dem dünnen Träger. „Nein. Und im Bruchwegstadion, da nehme ich dich mit in meinen Block. So heißen die…“ „Warum?“, unterbricht mich mein Neffe. Ich bin kurz davor, den Faden zu verlieren. „Warum was?“

„Warum hast du keinen BH an?“ „Weil das beim Schlafen total unbequem ist“, gebe ich einen minimalen Einblick in die Tücken weiblicher Bekleidungsordnung. „Und der Block heißt Q-Block.“ Doch mein Versuch, erneut an das Thema Fußball anzuknüpfen, wird vom Rauschen der Klospülung unterbrochen. „Mama?“, ruft Jakob, knapp neben meinem Ohr. Und noch mal, lauter: „Maaa-maaa!“

Gähnend kommt meine Schwester zu uns ins Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. „Ihr seid ja schon wach!“, murmelt sie schläfrig. „Ja, und die Mara guckt gern in den Himmel!“, verkündet mein Neffe. „Und was noch?“, frage ich. Er überlegt kurz. „In den Feldern“, helfe ich nach. „Pferde besuchen!“, strahlt der Zwerg und ich beschließe, die Fußballerziehung für heute aufzugeben. Vielleicht ist es noch zu früh, denke ich, während meine Schwester nach unten geht, um ihrem Sohn die Milch zu machen. Nicht am Tag, sondern in den Jahren. Vielleicht muss ich noch ein, zwei davon abwarten, bis ich mit dem Thema anfange, ihn mitnehme oder versuche, den Zwerg für Aufstiegsgeschichten zu begeistern.

~~~

Viele Stunden später stehe ich in Unterwäsche vor dem Spiegel im Gästezimmer und schminke mich. Wir haben es alle ein wenig eilig, denn wir sind eingeladen und schon spät dran. Da höre ich plötzlich Jakobs Stimme aus dem Flur, er ruft: „Guck mal Mara, ich hab mich schick gemacht!“ – laut und so freudig, dass ich sein Strahlen schon spüre, bevor er das Zimmer betritt.

Und da steht er also, der beste Zwerg der Welt. In blauen Boxershorts, seinem schicken Hemd und dem dunklen Pullunder, alles Dinge, die meine Schwester ihm für die Feier rausgelegt hat. Und um den Hals trägt er seinen Schal, den Schal, in leuchtendem Rot und Weiß, mein Weihnachtsgeschenk, das sonst über seiner Hängematte baumelt: „Guck mal“, strahlt er, und kitzelt mich mit den weißen Troddeln des 05-Schals am nackten Bein. Und noch mal, stolz: „Guck doch mal, wie schick ich bin, zum Fußball!“

*

Samstag, 9. Mai 2009

Tick, tack – goes the Heart


An einem kalten Tag im Januar ist plötzlich deine Uhr stehen geblieben. Du hast sie mir geschenkt in dem Jahr, als es für mich an die Universität ging – weil du eine neue zu Weihnachten bekommen hast. „Die mochtest du doch immer so gern!“, hast du gesagt – und sie mir im Schein der Christbaumbeleuchtung über die Hand ans Gelenk gezogen. „Jetzt gehört sie dir.“

Manchmal, wenn du wieder krank geworden warst, habe ich die Uhr mit Argwohn betrachtet. Sanft gegen das Glas geklopft und geprüft, ob ihr Schlag noch regelmäßig tönte. Und mich dann wieder beruhigt, weil ich sicher war, solange das Ticken an meinem Arm noch erklang, würde auch dein Herz seinen Rhythmus wiederfinden.

Einmal, im Sommerurlaub mit der Besten, ist die Uhr überraschend stehen geblieben, als wir nachmittags faul unter der spanischen Sonne am Pool lagen. Es ist mir nicht gleich aufgefallen, erst als ich vor der Hitze mit Handtuch, Sonnenmilch, Fanta und Lektüre dem Schatten hinterhergewandert bin. Dort habe ich die Uhr, deren sonst so angenehm kühles Metall sich fast schmerzhaft aufgeheizt hatte, vorsichtig vom Arm genommen – und gemerkt, dass sie schon Stunden zuvor ihr Ticken aufgegeben hatte.

Dein Herz ist mir eingefallen und meines hat einen angstvollen Schlag ausgesetzt; als es sich selbst wieder angestoßen hat, sind ihm die Tränen hinterhergeflossen, aus Angst, dir könne etwas passiert sein. Es dauerte eine Weile, bis die Beste mich davon überzeugt hatte, dass nur ein Anruf daheim mir die Ruhe wiedergeben würde; zu groß war die Sorge, durch die Leitung zwischen dem Sommer und der alten Heimat würde eine schlechte Nachricht gespült werden.

Stattdessen – wurde mir deine vertraute Stimme ins Ohr geschwemmt, „Mädel, was rufst denn du aus dem Urlaub an, das ist doch viel zu teuer, ihr seid ja im Ausland!“, hast du gerufen. Und ich musste erleichtert lachen; und gegen meine Tränen anblinzeln, die du nicht sehen konntest oder hören solltest. „Ich wollte mich bloß mal melden und hören, wie es euch geht.“ Und am nächsten Tag habe ich der Uhr eine neue Batterie gekauft.

~~~

Nach deinem Tod habe ich sie stets getragen; Tag für Tag um mein Handgelenk geschnallt, wo sie jeden meiner wachen Herzschläge gezählt hat. Bis sie wieder aussetzte, ich sie ablegte – doch jetzt sah es nackt aus, da, wo sie viele Jahre gesessen hatte; und ein bisschen kam es mir vor, als würde ich genau an dieser Stelle frieren. Also wollte ich eine neue Batterie kaufen, damit meine Herzschläge wieder bewacht werden, von diesem Ticken, in dem ich noch immer das Klopfen deines Herzens vermutete.

Da habe ich an den Abend gedacht, an dem du sie mir vermacht hast, an die vielen Augenblicke, in denen sie mich irgendwie mit dir zu verbinden schien – und an den Moment, als mir der Bestatter deine neue Uhr, das Weihnachtsgeschenk, zusammen mit ein paar Münzen und deiner Brille in einer durchsichtigen Plastiktüte übergeben hat, am Tag deiner Beerdigung.

Ich habe an unser letztes Telefonat zwei Tage vor deinem Tod gedacht, all die Dinge, über die wir gesprochen haben, ohne zu wissen, es würde das letzte Mal sein, dass ich deine Stimme hören darf. Deinen Rat annehmen, deinen Trost. Das letzte Mal auch, dass du am Ende eines Gespräches zu mir sagst: „So, Mädel, jetzt machen wir aber mal Schluss. Das wird doch sonst zu teuer für dich und dann gibt es morgen statt Butter wieder nur Margarine aufs Brot.“ Und ich habe gelacht. „Ach Papi, so teuer ist telefonieren doch gar nicht mehr!“

Ich habe an deinen Mut gedacht, an den unerschütterlichen Optimismus, mit dem du, wie in Gummistiefeln, durch die schlimmen Tage gewatet bist, mit denen das Schicksal beizeiten nicht gespart hat in deinem Leben. An deine wärmende Liebe, deine Begeisterungsfähigkeit und an deinen Durst, auf alles Neue, jeden frischen Tag. Daran, wie du dir das Leben in die Lungen gesogen hast, so, als könnte jeder Tag der letzte sein, weil es: genau so ist.

Und gespürt, dass noch so viele Momente, in denen meine Lippen ein leises „Auf Wiedersehen, Paps“, murmeln nichts nutzen, wenn mein Herz sich noch immer dagegen sperrt zu begreifen, dass es in diesem Leben nicht einen gemeinsamen Tag mehr für uns geben wird. Egal, wie sehr ich es mir noch immer wünsche.

Also vertraute ich noch einmal auf die Symbolkraft deiner Uhr, diesmal, indem ich sie ablegte; mich damit einen Block weiter diese Allee des Abschieds hinunterbewege, die ich so fürchte. Und statt ihrem nun verklungenen Ticken an meinem linken Arm pocht ein Stück weiter südlich sanft mein Herz in der Einsicht, dass es mich dir und meinem Leben näher bringt, wenn ich deinen Mut erlerne, als wenn ich stets aufs Neue die alte Uhr wiederbelebe.

*

Montag, 23. März 2009

Was schlimm ist


„Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers
einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.“
[Gottfried Benn: Was schlimm ist.]

Du hast den Sommer geliebt. In meiner Erinnerung bist du immer sonnenverbrannt und strahlend. Stehst am Strand, da, wo das Meerwasser dir die Füße umspült, und winkst zu uns rüber, „kommt doch rein, Mädels! Das Wasser ist herrlich.“ „Aber Papi, die Haie!“ Wir Mädchen hatten immer Angst vor Haien. Du hast gelacht und bist ins offene Meer hinaus geschwommen. Und nur noch braungebrannter zurückgekommen.

Ich sehe dich im Garten, in diesen albernen grün-weiß gestreiften Shorts. Die musst du wohl zwanzig Jahre lang immer wieder aus der untersten Schublade rausgekramt haben. „Die sind doch noch gut, was habt ihr denn?“ – und ab, in die Sonne. Den Spaten tief in die Erde gerammt. Gepflanzt und begrünt. Der Garten, das war deine zweite große Liebe. Nach uns natürlich, der Familie – von allen Lieben dir die größte.

Wenn du nicht in den Shorts im Garten unterwegs warst, dann sicher in deinem besten Anzug, sonntags, wenn wir aus der Kirche zurückkamen oder von einer feinen Einladung. Beides Anlässe, bei denen du dich ebenso hingebungsvoll gelangweilt hast wie wir Kinder. Aber, „der Mama ist das wichtig, Mädels!“, also sind wir hingegangen, alle zusammen. Hinterher durftest du dich dann bei deinen Pflanzen austoben. „Schatz, doch nicht im Anzug!“, würde unsere Mutter missbilligend rufen, „und ich muss den Scheiß nachher wieder waschen“.

Und du hast gelacht, „ich pass schon auf!“, nur um Stunden später, wenn die Sonne schon blutrot am Horizont untergegangen war, vollkommen verdreckt ins Haus zu laufen, wo eine feine Lehmspur deinen Weg kennzeichnete; bis der nächste desinfizierende Lappen wütend darüber hinweggewischt hatte.

Du hast viele Geschichten aus deiner Kindheit erzählt und ich konnte dich dabei immer vor mir sehen. Den kleinen Bub, aus dem mal mein großer Papa werden sollte, denn dieser kindlich-jungenhafte Schalk, der ist dir für immer in den Augen sitzen geblieben und hat uns von dort angeblitzt. „Der Krieg hat uns doch nicht ernsthaft interessiert, wir waren ja noch Kinder. Haben nur dummes Zeug gemacht, damals, alle zusammen!“, lachst du uns an – und ich glaube dir jedes Wort und keines davon.

Doch der Sommer war dir nicht so treu wie du ihm. Und so hat es immer wieder dunkle Wintermonate gegeben in deinem Leben. Gegen die du angelacht hast, weil ein Papi nicht weint, vielleicht – doch auch das hast du schließlich gelernt, und es hat gut getan. Die Tiefs, die dich überrannten, hast du auf eine Art gemeistert, die ich immer bewundert habe: Nie klagend, jammernd oder gegen das Schicksal wetternd, sondern mutig und entschlossen, mit der tiefen Überzeugung im Herzen, sie meistern zu können. Bist jede Krise angegangen, hast dich nie unterkriegen lassen, vom Leben.

Und dann, ganz unerkannt, der letzte Winter. Du, im neuen Häuschen, das alte Leben verlassen, um noch mal ganz von vorn anzufangen. Und ich, die ich aus diesem Wissen endlich die Kraft schöpfen konnte, ein eigenes, lange schon schmerzhaft gewordenes Kapitel meines Lebens zu beenden. Wir haben uns gegenseitig Mut ins Telefon geflüstert und auch hineingeweint, so lange, bis sie beide den Geist aufgaben: erst meines und dann deins. Weil du mehr Mut hattest und ich mehr Tränen. Dein Trost schmeckte neu und tat wohl.

„Bis Ostern, Mädel, dann tut es nicht mehr weh!“, hast du gesagt. „Und wenn der Sommer kommt und die vielen Feste, dann kommst du mich besuchen, dann findest du mir noch mal eine liebe Frau – und ich dir einen guten Kerl!“, und wir haben uns gefreut, auf diese Zeit; wie Kinder auf den Rummel.

Doch der Sommer hat uns betrogen, denn ich sollte ihn ohne dich erleben. Dich aber hat der Winter geholt und du musstest sterben, einfach so, ohne Vorwarnung. In der kalten, dunklen Jahreszeit, als die Wiesen zugeschneit waren, die Erde eingefroren und alte Spaten in klirrende Friedhofserde stießen, um daran zu zerbrechen. So, wie ein Teil meines Herzens an deinem Tod.

*

Dienstag, 13. Januar 2009

Siebenundneunzig


Als ich aus dem Flugzeug stieg konnte ich sehen, dass sie geweint hatte. Ein ganzes Jahr war ich weg gewesen und hatte hoffnungsvoll daran geglaubt, die Dinge würden sich ändern in dieser Zeit. Mit der glanzlosen Wahrhaftigkeit meiner jugendlichen Naivität tief im Herzen verschlossen, hatte ich von einer Ankunft geträumt, die besser zu mir sein würde als es die Abreise vor zehn Monaten gewesen war: und hatte mich doch geirrt.

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist!“, flüsterte sie mir ins Ohr, die Hand zum festen Griff um meinen Nacken gelegt. „Denn mir geht’s so beschissen.“ In diesen zwei Sätzen lag die ganze jämmerliche Wahrheit über den Sinn meiner Existenz, damals. „Jetzt bin ich ja wieder da!“, lächelte ich hoffnungsvoll und in Breitband. „Jetzt wird alles gut, versprochen.“

Aber etwas hatte sich doch verändert, Zuhause. Es war noch kühler geworden und der Umgang miteinander war so scharfkantig, dass es mich erschreckte. Irgendwann vertraute sie mir zwischen zwei lauen Frühstückskaffees an, „wir hätten uns fast getrennt, während du weg warst. Aber dann dachten wir, man teilt eine Familie nicht, während sie unvollständig ist.“ Doch ich wusste, da war noch mehr, nämlich die stille Hoffnung darauf, ich würde zurückkehren als der sichere Puffer, der ich immer zwischen ihnen beiden gewesen war – und so könnte es doch wieder funktionieren.

Doch ich war nicht mehr das Kind, als das ich meine Heimat verlassen hatte, sondern eine junge Frau, die in der Fremde das Leben gekostet hatte und nun neugierig darauf war, ihre Zukunft zu gestalten, mit jedem neuen Tag. Ich spürte, wie ich mich innerlich von ihr distanzierte und wusste, die Entwicklung war auch ihr längst schon aufgegangen.

Ich erinnere mich, wie sie einmal in mein Zimmer kam, während ich telefonierte, worauf ich höflich, doch unter albernem Gekicher das Telefonat mit der Freundin beendete. Sie sah mich an und die Schärfe ihres Blickes schnitt bluttropfend eine kleine Wunde, als sie sagte: „Schön, dass du dich so gut amüsierst, obwohl ich es hier so schwer habe.“ Und weil ihre Worte mich immer schlechter erreichten, holte sie bald vor jedem Schlag noch weiter aus; viele davon trafen mich an Stellen, die heute noch blaulila schimmern von ihrer Wut.

Der Winter verging, doch die Kälte in unseren vier Wänden blieb. Es wurde viel diskutiert und geschrieen und ich lernte, meine Ohren nach innen zu verkehren beim Versuch, wenigstens die eine oder andere Auseinandersetzung zu überhören. Doch in die meisten wurde ich ohnehin hineingezogen, um Rat zu geben oder Stellung zu beziehen – um das eine bemühte ich mich redlich, beim anderen scheiterte ich bereits im bloßen Ansatz.

Der Frühling raste an uns vorbei und als darauf der Sommer kam verschwand sie für vier Wochen in einen Kurort am Bodensee. Die beiden anderen flogen zehn Tage gemeinsam auf die Kanaren, ich hatte nur kurz gezögert und mich dann stattdessen für ein paar ruhige Tage allein daheim entschieden. Am Ende wurden sie weder ruhig noch alleine, wieder war das Haus erfüllt vom Krach, doch diesmal drang er lachend aus bierseligen Kehlen und ich spürte das Leben durch meine Adern pochen, als habe es den Weg hierher erst jetzt gefunden.

Am Ende des Sommers packten meine Mädels und ich den blauen Golf voll mit Zelten, Taschen und Bier und hinterließen unseren Eltern Zettel an den Küchenkühlschränken, die verkündeten: „Sind in Holland“. Dort vergaßen wir für eine Woche, was uns jeweils daheim beschränkte und stießen nachts, wenn der Regen gegen das Zeltdach trommelte, auf unsere Zukunft an. Doch wenn die anderen schliefen kehrte das Brennen in meine Augen zurück und die Angst davor, was Zuhause passierte, während ich weg war.

Als wir vier Familienbruchstücke uns im Herbst wieder trafen, an dem Ort, den wir einst mit Überzeugung im Herzen unser Zuhause genannt hatten, da wussten wir, dass es vorbei war. Doch hofften noch, wenn wir nur lange genug an der Tatsache vorbeischielten, dann würde der Sturm die Richtung vielleicht noch einmal ändern.

Aber die Streitereien wurden immer unerträglicher und längst hatte sich das Salz auf den Gesichtern beider Generationen verkrustet. Die Kleine und ich sprachen kaum darüber und spürten doch, mit einem Blick, unsere Herzen schlugen denselben Takt; nur konnten sie einander nicht helfen – noch nicht.

Eines Abends öffnete sich mit einem wütenden Zittern die Tür zu meinem Zimmer und meine Mutter stand im Rahmen. Sie hielt ihre Hand bereits, als umschließe sie den Henkel eines Koffers, doch bis jetzt hatte sie ihn nur in Gedanken gepackt. „Ich gehe!“, verkündete sie und setzte nach: „Wer kommt mit?“

Ich erinnere mich an alte Tränen und neue Erleichterung. Und dass ich damals glaubte, nun sei das Schlimmste überstanden. Doch in Wahrheit fing es gerade erst an...

*

Donnerstag, 6. November 2008

Sheriff meines Herzens

Mein Papi hat alte Western geliebt. Und ich fand es wundervoll, sie mit ihm anzuschauen – wie es überhaupt schön war, Dinge nur mit ihm zu teilen. Schon als ich noch recht klein war, begannen mich seine staubigen Cowboystreifen zu faszinieren. So wurden es unsere Western, seine und meine – und gemeinsam haben wir im Lauf der Jahre wohl sämtliche Streifen gesehen, in deren Titel das Wort „Colt“ vorkommt.

Ich mochte die dreckigen Helden der Filme, mochte, dass die Guten und die Bösen hier einfach auseinander zu halten waren. Ich fand es cool, wie die Männer mit wettergegerbten Händen ihre Zigaretten hielten, so, wie ich es auch von meinem Paps kannte. Mir gefiel die Musik der Filme, die immer ein wenig fremd klang. Und ich war fasziniert von der Weite des Landes, in dem die Cowboys umherritten.

Eines aber beschäftigte mich und ich erinnere mich daran, wie ich das Thema irgendwann aufbrachte, ein wenig unsicher: Was mich an den Filmen besonders beeindruckte war, wie selbstverständlich sich diese Männer vor ihre Familie stellten, wenn Gefahr im Verzug war. Wurde auf einen Menschen geschossen, den sie liebten, sprangen sie mit verzerrtem Gesichtsausdruck und auf eine mir damals noch unverständlich langsame Art und Weise vor den Bedrohten, laut schreiend fingen sie mit ihrem Körper die Kugeln ab und mussten anschließend – meist qualvoll und stark blutend – sterben; nicht ohne zuvor ein paar letzte liebende Worte gurgelnd aus ihrer Kehle gestoßen zu haben.

Mein Vater erklärte mir, es sei selbstverständlich, was diese Cowboys taten – sich zu opfern, wenn es um die Menschen geht die man liebt. „Würdest du dich denn auch vor mich stellen, wenn jemand auf mich schießt?“, fragte ich ihn damals und mein Paps nickte ernsthaft. „Na klar. Vor dich, die anderen drei, vor deine Mami. Auf jeden Fall.“ Und obschon Schießereien zwischen Cowboys im Odenwald der Achtzigerjahre nicht an der Tagesordnung waren, dieses Bild hat mich nie mehr losgelassen und schon damals begriff mein kleines Kinderherz, welche Bedeutung in den Worten meines Vaters lag; dass ich geliebt wurde und beschützt.

Umso mehr litt ich darunter zu wissen, ich könnte dasselbe nicht für ihn tun: Für niemanden wollte ich mir Kugeln durch den Körper jagen lassen und so grauenvoll verenden, wie die Cowboyväter in den Filmen, die ich mit meinem sah. Immer wieder erklärte er mir dann geduldig, dass ich das auch nicht musste, denn ich war doch ein Kind, von mir wurde kein Heldenmut gefordert. Das zu wissen tat unglaublich wohl und es erwuchs mir eine warme Zuversicht daraus und aus dem Wissen, dass er mich retten würde – jederzeit.

Heute weiß ich, dass er genau das getan hat, über all die Jahre. Als mein Vater zum ersten Mal krank wurde, hatten alle Ärzte erwartet, er würde sterben. Aber er hat sich ins Leben zurück gekämpft, ist bei uns geblieben – und für uns. Sein Überleben all die Jahre ist auch der Willenskraft zu verdanken, die er hatte. Seinem Kampf, den er immer gegen die Krankheit gefochten hat. Seinem Glauben daran, zu überleben und bei seinen Kindern zu bleiben. Weil wir seines Schutzes bedurften.

Wir vier wären ohne ihn nicht zu den Menschen geworden, die wir heute sind. In all dem Chaos, das über die Jahre immer wieder um sich griff war er es, der dafür gesorgt hat, dass unsere Herzen weich blieben. Weil er sie gepflegt hat, uns Liebe beigebracht, Vertrauen und Glück.

Manchmal scheint es fast, als habe er den Zeitpunkt seines Todes gewählt, als habe er in der Zeit zwischen dem ersten Infarkt und seinem Tod, schließlich, immer wieder mit Gott verhandelt, ihm immer neu klar gemacht, dass er noch nicht gehen könnte. Er hat seine Hand über unsere Herzen gehalten und ist so lange an unserer Seite geblieben, bis wir einen Punkt erreicht hatten, an dem wir alleine weiterkommen konnten, ohne ihn; trotz des unendlichen Schmerzes über den Verlust. Er hätte tausend Jahre später gehen können, doch keinen Tag früher.

In jener Nacht, bevor er gestorben ist, hat er sich in unsere Träume geschlichen, um uns jedem einen Schutzumhang dazulassen, genäht aus den Fasern seines Herzens. Der hält das Böse von uns fern, nun, da er an einem anderen Ort ist. Den Umhang kann man natürlich nicht sehen. Aber manchmal, wenn ich ganz aufmerksam bin, spüre ich, wie er sanft über meine Schulter streift. Und fühle mich sicher in seinem Schutz.

*

Donnerstag, 19. Juni 2008

Meine kleine Schwanger-Schwester

Du liegst neben mir auf der Couch – und in diesem Moment gibt es auf der ganzen Welt kein Geschöpf, das ich lieber habe als dich. Und vermutlich ist das immer so gewesen… Du bist der Mensch, der immer da war. Na gut, die ersten 32 Monate meines Lebens musste ich ohne dich auskommen, aber da war ich ja noch allzu klein, und es gab auch alleine eine Menge zu entdecken. Dann aber warst du da – und ich von der ersten Sekunde an uneingeschränkt begeistert.

Die Fotos von damals zeigen dich, mit dicken Backen und blonden Locken, und mich, mit einem Lachen, das nur halb so strahlend war, bevor du angekommen bist. Manchmal wirkst du ein bisschen gequetscht und nicht immer komfortabel unter meinen liebevollen Küssen. Auf einigen Bildern schleife ich dich hinter mir her, um dir etwas zu zeigen, aber immer sind die dicken, warmen Umarmungen auch vorsichtig.

Als wir beide älter wurden, hat es immer öfter gekracht zwischen uns. Tut es manchmal noch. Wir hatten es nicht immer einfach, als wir versucht haben, in dem Chaos daheim groß zu werden – und es hat ein wenig gedauert, bis wir begreifen konnten, dass wir besser klar kommen, wenn wir zusammen halten, anstatt gegeneinander zu gehen.

Als ich mit 16 Jahren zehn Monate lang weg war, weit, in Amerika, hast du mir die allerputzigsten Briefe geschrieben – und ich dich so vermisst. Schon kurz danach ist unsere Welt aus den Angeln gebrochen, doch wir konnten uns nun aneinander festhalten, an der Krise wachsen, auch zusammen. Wir sind sehr weit gekommen. Waren uns dabei niemals ähnlich. Doch immer nah. Jede hat Spuren ihres Glücks gefunden, mittlerweile. Wir wissen immer, was wir an der anderen haben – und können doch bei Meinungsverschiedenheiten übereinander herfallen wie die sprichwörtlichen Brunnenputzer.

Kinder sind wir längst nicht mehr. Doch nun trägst du eines in deinem dicker werdenden Bauch. Einen kleinen XS. Dein Glück strahlt auf mich ab und kommt zu dir zurück, als mein Lächeln es reflektiert. Ich darf deinen Bauch anfassen, horchen, ob uns XS schon eine Mitteilung zu machen hat. Ich schubse mit dem Finger vorsichtig in deine Babyplauze und kündige dem Kleinen an, dass ich ihn mit ins Fußballstadion nehmen werde.

Dein Baby hat dich weicher gemacht, schon bevor es auf die Welt gekommen ist. Es hat uns bereits in dieser kurzen Zeit der Schwangerschaft so viele glückliche Momente beschert. Öfter erklingt nun wieder dein Lachen und ich stelle fest, wie witzig du sein kannst, entdecke überhaupt lauter Seiten an dir, von denen ich schwören könnte, dass es sie bis eben noch nicht gab.

Jetzt liegst du neben mir auf der Couch, wie früher, als wir beide kleine Mädchen waren. Ich bin von allem hier so gerührt. Dein XS hat mir eben ins Ohr getreten, als ich dir in den Bauch gehorcht habe. Und ich bin so stolz auf dich, dass ich platzen könnte. Kleine Mama, kleine Schwester, großes Herz!

[Mai 2006]

*


Sonntag, 4. Mai 2008

Ich träume mir einen Tag

Ich träume mir einen Tag, und ich träume mir den Tag mit dir. So sicher fühlt sich mein Herz, als ob wir ihn erlebt hätten, genau heute, obwohl kein Bollerwagen darin vorkommt. Morgens früh schon steige ich in mein Auto und mache mich auf in die alte Heimat. Dir verrate ich davon nichts, denn am Schönsten ist es, dich mit einem Besuch zu überraschen. Wo ich dich in den Morgenstunden finde weiß ich: im „Café Müller“ – dort gehst du frühstücken. Mit deinem Männerstammtisch, diesem bunt zusammengewürfelten Haufen, die von sich selbst sagen, es gibt nur einen Grund, warum sie zusammenpassen: dich. Du bist das Glied, von dem diese Gruppe verbunden wird. Ohne dich wären sie nicht bunt, würden sich auch nicht jeden Morgen treffen. Vielleicht weißt du das gar nicht, mir aber haben sie es erzählt; kürzlich erst.

Wenn ich durch die Tür das Café betrete, bemerkst du mich zunächst nicht. Du bist ganz vertieft, in alles, was du tust. Deine Geschichten, die unablässig aus dir heraussprudeln. Die unvermeidliche Zigarette, an der du tief und genussvoll ziehst, während du gleichzeitig deine Kaffeetasse anhebst, um sie zum Mund zu führen, sobald du die Marlboro freigegeben hast. Einer aus deinem Stammtisch sieht mich zuerst, er lauscht dir nur noch unaufmerksam, die anderen wenden wie er nach und nach die Köpfe, bis zuletzt auch du auftauchst aus diesem Moment, und wie sie zur Tür siehst.

„Mensch, Mädel!“, rufst du. Dann schiebst du die Kaffeetasse weiter in die Mitte des Tisches und kommst mir mit der Zigarette in der Hand entgegen. Du lachst. Ich kann sehen, wie sehr du dich freust. „Mädel! Was machst du denn hier?“ Du sagst immer Mädel, so, wie du uns Schwestern im Kollektiv gern Weiber nennst; ich mag das. Vielleicht, weil mich sonst niemand so nennt, es auch niemand dürfte. „Dich besuchen!“, antworte ich lächelnd. Und freue mich – darüber, dass du dich freust; und darüber, dich zu sehen.

Ich setze mich zu dir und deinem Stammtisch und du stellst mich jedem von ihnen vor, obwohl die Männer mich alle kennen. Ich spüre, dass du stolz bist, einfach so, ohne dass ich irgendetwas getan habe; nur weil ich hier bei dir sitze, weil ich deine Tochter bin. Dein Glück ist ehrlich und tut genau deshalb so gut, dein Strahlen wärmt alle, die es streift. Die Liebe, die du gibst, geht keine Umwege – sie trifft direkt ins Herz. Ich bestelle mir ein Frühstück und du bestellst dir noch einen Kaffee. „Für meine Tochter bitte nur die hellen Brötchen“, sagst du zu Frau Müller, weil du weißt, dass ich die mit den Körnern nicht mag. Frau Müller weiß das auch, aber es gehört zu unserem Ritual. Auch, dass du mir erklärst, jede fünfte Tasse Kaffee gibt es für euch umsonst. „Du sollst gar nicht so viel Kaffee trinken, Paps“, mahne ich – und einer der Männer meint, das ginge schon in Ordnung, die kostenlose fünfte Tasse sei koffeinfrei. Die Männer lachen und ich muss grinsen. So ist es immer.

Irgendwann verlassen wir das Café und fahren zu deinem Häuschen. Stolz zeigst du mir dort, was sich seit meinem letzten Besuch verändert hat, welche Lampe neu ist und wo du weitere Fotos von uns Kindern aufgehängt hast. Dein Heim strahlt Wärme aus, ebenso wie du. Ich bin gerne hier und das spürst du, als du mir erklärst, das Gästezimmer sei doch im Grunde für mich, die ich von uns vier Kindern am weitesten von dir entfernt wohne. Falls ich mal länger bleiben möchte.

Heute fahren wir anschließend zur Jüngsten der Geschwister. Dort kannst du mit deinem glücklichen Stolz ihren dicken Babybauch streicheln, bevor du und ihr Mann auf der Terrasse ein paar Bierchen auf diesen Tag zischen, während wir Mädels im Wohnzimmer plaudern. „Er freut sich so!“, wird si sagen; und ihre Wangen davon glühen. „Das hat er sich immer gewünscht!“, werde ich lächelnd nicken. Und jede Minute dieses Tages wird sich genau richtig anfühlen. Auch ohne Bollerwagen. Zumindest in meinem Traum. Denn so oft wir Kinder uns auch danach sehnen, nichts wird solche Tage mit dir je wieder aus der Welt unserer Gedanken und Träume ins wirkliche Leben zurückkehren lassen.

Vorhin habe ich lange mit der schwangeren Maus telefoniert. Wir haben über dich gesprochen, über diesen Tag, an dem Männer mit Bollerwägen und Bier losziehen und darüber, dass auch wir früher einen solchen Wagen hatten, in dem du aber nie Bier, sondern lieber uns Mädchen durch die Stadt gezogen hast – und uns dabei die Welt erklärt. Dann hat sie mir mit Tränen von dem Medaillon erzählt, das sie für dich gekauft hat, und dass es „Opa 2006“ liest. Sie wird es dir vorbeibringen, wenn sie in gut zwei Wochen mit ihrem Mann und dem Kleinen das Krankenhaus verlässt.

Auf dein Grab wird sie es dir legen, und ihrem frisch geschlüpften Sohn dabei erklären, was für ein Glück er hat, weil sein Großvater der beste von allen ist, der fabelhafteste Opa auf der ganzen Welt. Denn das soll er spüren, der Kleine, in unserer Liebe zu dir; auch wenn ihr beide einander verpasst habt…

[Vatertag 2006]

*



Sonntag, 23. März 2008

Billy Joel


In dem Moment, als mein Vater gestorben ist, saß ich auf dem Klo. Ich war gerade von der Party einer Bekannten nach Hause gekommen und irgendwie schräg drauf. Der ganze Tag war schon so seltsam gewesen, auch nachmittags, in der Fußballkneipe – ohne, dass ich einen Grund dafür benennen konnte; doch manchmal ist es ja gerade das.

Ich musste über meine Trennung nachdenken beim Pinkeln – und fand mich ganz fantastisch dafür, dass ich diese Beziehung überwunden hatte, endlich, nach all der Anlaufzeit. Einen Kampf zu Ende gefochten, und nun konnten die Wunden heilen, dir mir diese schwarze Liebe ins Fleisch geschlagen hatte.

Irgendetwas hatte dieser Moment plötzlich, im halbdunklen Bad, das mich pathetisch werden ließ – vielleicht waren es auch nur die Jägermeister, die an diesem Abend schon in mich hineingeflossen waren. Ich packte mein Handy aus und filmte meine Badewanne; weil der Schein der Straßenlaterne sie in ein warmes Lichtrauschen hüllte, das ich festhalten wollte.

Als ich Tage später im leeren Haus meines Papis saß, zwischen meinen Geschwistern und mit diesem wummernden Wort im Kopf: Herzinfarkt, Herzinfarkt, Herzinfarkt – da musste ich plötzlich daran denken, dass ich gepinkelt habe, als es passierte.

Dass ich Radio hörte und meine Badezimmerfließen anstarrte, als sein großes Herz stehenblieb. Meine Blase entleerte, während die Ärzte versuchten, sein Leben zu retten. Und ich konnte diese beiden Situationen des einen Momentes, der für immer alles verändert hatte, nicht zusammenbringen – obgleich ich mich darum bemühte, als hinge mein weiteres Leben davon ab.

Schließlich habe ich mir den kleinen Film angeschaut, den ich mit dem Handy zusammengeflimmert hatte in jener Nacht – und unvermutet das Lied wahrgenommen, das in dem Moment im Radio lief. Billy Joel, Leningrad. Die Textzeile, die das Handy mit aufgezeichnet, hatte lautete –

„and in that bright October sun
we knew
our childhood days were gone“.

~~~

Und er hatte Recht.

*



Dienstag, 18. März 2008

Kammerflimmern


Mit dir ist ein Teil meines Herzens stehen geblieben. Und bei dir. Der schlägt nun sanft in deiner Brust, damit es dort nicht ganz tot ist.

In meiner Vorstellung war das immer Eins: das organische, schlagende Herz, das uns am Leben hält. Und der liebende Ort, der uns dieses Leben wertvoll macht. Nach dieser Definition aber müsstest du längst tot sein; mag auch die Mechanik deines Herzens funktionieren.

Wir hatten das Glück, die Liebe von anderen zu lernen; sie alle schienen auf diesem Instrument, dem wir den Namen Herz gegeben haben, reinere Töne zu produzieren, die weiter und tiefer klangen als deine. Die du doch alles hättest sein sollen; die Liebe an sich. Ich weiß nicht, wer sie an dir verlernt hat, kann nur ahnen. Erzählt hast du nie. Gefragt habe ich… und dann aufgegeben. Weil mein Herz, das nie Antworten bekam, verlernt hatte, deinem Fragen zu stellen.

Stattdessen hat es versucht, deine Brust mitzufüllen. Sich aufgemacht in die tiefste aller Herzhöhlen, um dort zu schlagen und zu schütteln. Immer ein wenig in der Hoffnung, dass dein Herz sich dadurch anstoßen ließe. Mitschlagen. Mitlieben. Michlieben. Aber du warst gefangen in deiner selbsterfüllten, spiegelnden Welt, die immer nur das eigene Bild zu dir zurück warf.

Dein Herz ist ein kalter, spiegelnder Diamant. Sehe ich hinein, erblicke ich die Tränen, die ich um dich vergossen habe; dieser tiefe, dunkle Tümpel meiner Seele, in dem andere ertrunken sind, ohne dass ich es verhindern konnte. Und immer wieder auch ein bisschen ich selbst: Nicht, weil ich nicht schwimmen kann, sondern weil ich es vergesse, wenn ich an dich denke.

An deinem Diamantherz habe ich mich blutig gestoßen; so blieb am Ende nur die Flucht. Doch zuvor habe ich einen letzten Versuch unternommen, dich zu retten, indem ich dir ein Stück meines Herzens zurückgelassen habe. Das schlägt nun sanft in deiner Brust, damit es dort nicht ganz tot ist.

*



Freitag, 1. Februar 2008

220 km/h


Als ich ein kleines Mädchen war, erschien mir alles so groß. Mein Bett war groß, so groß, dass ich es mit ungezählten Plüschtieren anfüllen musste, um mich darin nicht einsam zu fühlen. Für andere mochte es aussehen, als sei zwischen all den Tatzen und Schnauzen und Fellbäuchen kein Platz für mich, doch ich passte direkt in ihre weiche Mitte.

Meine Eltern waren groß. So groß, dass ich beim Reden zu ihnen hinaufschauen musste. Weil mir das nicht gefiel, redete ich mit ihnen am Liebsten dann, wenn wir zu Tisch saßen, denn im Sitzen war der Größenunterschied nicht so auffällig: da in unserer Familie lange Beine zur Standardausrüstung gehören, sind wir Sitzzwerge.

Unser Haus war groß, so groß, dass ich meinen Eltern von morgens bis abends die Ohren volljammerte, es sei eine Verschwendung, hier nicht mit mehr Menschen zu leben. Dahinter versteckte sich allerdings keineswegs ein nobler Plan, sondern mein Wunsch nach mehr Geschwistern – oder wenigstens einem Haustier.

Unser Auto war groß, so groß, dass ich am Liebsten darin gewohnt hätte. Mein Vater fuhr es oft aus der Garage und verschwand damit in die Welt, denn er war beruflich viel unterwegs. Wenn das Auto einmal da war, besuchte ich es gerne in der Garage. Es war dunkelblau und sehr edel. Ich mochte den leichten Schimmer seines Lacks und fuhr gern mit den Fingern sanft darüber. In seinem großen Bauch hatte es schwarze Sitze aus glattem Leder, die im Sommer von der Garage angenehm kühl blieben und im Winter mit einem magischen Knopf angewärmt werden konnten.

Manchmal, wenn mein Vater den größten Teil des Tages im Büro gearbeitet hatte und erst am Nachmittag zu einem Kunden fuhr, der noch dazu in der Nähe wohnte, durfte ich ihn auf seiner Fahrt begleiten – natürlich nur, wenn meine Hausaufgaben erledigt waren und ich Zuhause nicht gebraucht wurde. Dann verschwand ich mit ihm im großen Bauch des blauen Autos und wir fuhren zusammen die schmalen Gassen und einspurigen Straßen aus unserem Heimatfleck hinaus. Dazu hörten wir hr4, wünschten uns, wie Gitte Haenning, einen Cowboy als Mann – oder gingen mit Peter Maffay über sieben Brücken.

Wenn wir etwa eine halbe Stunde gefahren waren, erreichten wir die Autobahn. In meinem Bauch machte sich eine bizzelnde, warme Aufgeregtheit breit, von der mir immer fast ein wenig schwindelig wurde. „Papi, fährst du ganz schnell?“, bettelte ich, sobald wir die mehrspurige Straße unter unseren Reifen hatten. Mein Vater erklärte mir dann, dass er nicht einfach drauflos rasen konnte, sondern wir einen Streckenabschnitt abwarten mussten, der gut einzusehen und wenig befahren war – und ich ließ mich ungeduldig in meinen Sitz zurückfallen.

Doch irgendwann kam so ein Abschnitt immer. „Jetzt!“, rief mein Vater, und trat aufs Gaspedal. Ich zuppelte aufgeregt an meinem Gurt, saß erst ganz aufrecht, juchzte vergnügt, drückte mich dann tief in meinen Sitz und genoss mit geschlossenen Augen das kribbelnde Gefühl, das die Geschwindigkeit in meine Magengrube pflanzte. Nur leider war der Rausch immer sehr schnell vorbei, weil mein Vater sich weigerte, die ganze Strecke durchzurasen: „Das ist viel zu gefährlich!“ – aber ich liebte unsere kleinen Sprints.

Irgendwann erreichten wir die Kunden meines Vaters. Es gab solche, bei denen er nur kurz etwas abgeben musste, dann saß ich eine Weile im Auto und wartete auf ihn. Ich drückte meine Backen gegen die schwarzen Sitze, sog den Geruch des Leders ein und begann anschließend, am CD Player herumzuspielen. Dann war mein Vater auch schon zurück am Auto und die Reise ging weiter.

Bei anderen Kunden durfte ich mit aussteigen. Sie hatten Probleme mit ihren Computern oder Druckern, die sie bei meinem Paps gekauft hatten, also half er ihnen, sie zu reparieren. Einen dieser Kunden besuchte ich besonders gern, er hatte einen Hund so groß wie ein Pony und so weiß wie Schnee, mit dem ich gern durchs Büro tobte, während die Männer mit ernsten Mienen am Schreibtisch saßen und an Druckern und PCs herumschraubten.

Wenn ich mich mit dem Hund ausgetobt hatte suchten wir uns eine Stelle unter den vielen, riesigen Schreibtischplatten, die nicht mit Computerhardware, Mülleimern und Papierboxen vollgestellt war, und legten uns schlafen. Ich drückte mein Nase in das weiche Fell des Hundes, so wie zuvor in die Sitze unseres Wagens – und war bald eingeschlafen.

Wenn mein Vater und der Computerbesitzer alle Probleme gelöst hatten, trennte mein Paps mich auf den Knien rutschend von dem großen, weichen Hund. Er verabschiedete sich dann flüsternd von dem Mann und trug mich zurück zum Wagen, wo er mich auf die Rückbank packte, anschnallte und dann ums Auto herum zum Fahrersitz schlich. Die Heimfahrt verschlief ich meistens, manchmal wurde ich auch wach, stellte mich aber weiter schlafend.

Denn wenn ich noch schlummerte, sobald wir am Haus meiner Eltern ankamen, weckte mich mein Paps auch hier nicht, sondern trug mich an meiner spielenden Schwester und meiner lesenden Mutter vorbei in mein Kinderzimmer, wo er mich zwischen all meinen plüschigen Gefährten ins Bett rutschen ließ. Bevor er sich anschließend hinaus schlich, schlang ich einmal meine Arme fest um ihn und küsste ihn gute Nacht. Er lächelte dann, hielt mich fest in seinen starken Papa-Armen und nickte, wenn ich schlaftrunken und flüsternd fragte, ob ich bald wieder mit ihm ausfahren dürfe.

Ja, als kleines Mädchen war ich von vielen großen Dingen umgeben. Am größten von allem aber war – mein Paps.



[Februar 2008 / 2011]

*

 

 

kostenloser Counter