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Mittwoch, 30. Oktober 2013

Melody, uncertain


»Ich kenne diese Melodie, es schmerzt am ganzen Körper, und Leute klopfen bei mir an, kommen herein, trinken und reden mit mir, ohne zu merken, daß ich längst aufgegeben habe, die Küche aufgeräumt, die Mäuse unter dem Bett verjagt, gefaßt auf den letzten endgültigen Strahl aus dem Flammenwerfer.«

[Charles Bukowski]

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Montag, 7. Oktober 2013

Tunnel

„Friends you swore you'd never lose
 melted from your style. 
Down the tunnels of your youth 
and now you never smile.“

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Donnerstag, 3. Oktober 2013

Fathers

It always made him happy to remember his father
and he knew his father would have liked this story.
[Ernest Hemingway]


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Mittwoch, 18. September 2013

Auszug aus »Die TORToUR« #33 – We’ve got the Book!

Wir geben es ja zu – die TORToUR-Redaktion ist voreingenommen gegenüber »111 Gründe, Mainz 05 zu lieben«. Was sollen wir zu einem Buch sagen, in dem es auf 261 Seiten um nichts anderes geht als die Liebe zu unserem Verein? Das von zwei Kollegen geschrieben wurde, mit denen wir uns den Deckel beim Redaktionstreffen teilen, bei Wind und Wetter gemeinsam das schee Heftsche verkaufen und nichts lieber tun, als über Fußball im Allgemeinen und den FSV im Besonderen zu philosophieren: »Kauft das Buch nicht«? Also bitte, das kann man von uns nicht verlangen.



Aber im Ernst: »111 Gründe« ist ein großer Spaß. Weil die Autoren die richtige Mischung aus unterhaltsamem Kokolores und wichtigen Meilensteinen der Vereinshistorie zusammengetragen haben. Weil die unendliche Geschichte, die in Mainz mit den Worten »Damals, als Noveski getackert wurde« beginnt, beim Leser unweigerlich Phantomschmerzen auslöst. Weil das Thurk-Denkmal in dreizehn Zeilen errichtet, umgekippt und wieder aufgestellt wird und die Innenministerkonferenz in gerade zehn Zeilen den Narhallamarsch gesungen bekommt: Mehr hätte sie auch nicht verdient.



Wer nicht den kompletten Backkatalog der TORToUR und die Vereinschronik auswendig gelernt hat, bekommt Momente der Überraschung, Geschichten zum Schmunzeln und Hintergrundwissen zum Klugscheißen beim Halbzeitgespräch geliefert. »Vieles ist normal geworden«, schreiben die Autoren im ersten Kapitel. »Spiele gegen Stuttgart sind nicht mehr per se Feiertage, wir haben uns an sie gewöhnt. Nach der traurigen Rückrunde (...) mussten wir uns die Frage stellen lassen, ob es überhaupt 111 Gründe gibt, Mainz 05 zu lieben, und ob wir unser Buch nicht lieber 111 Gründe, Mainz 05 geliebt zu haben nennen wollten.«

Jeder Fan weiß, dass solche Gedanken die Sommerpause selten überleben und die neue Saison ja eh wieder bei Null losgeht. Für uns nicht: Wir haben schon 111 Punkte.





War das eine Aufregung: Mara war auf ihrem Balkon unter zig Kubikmetern Lektoratsfahnen verschüttet, Christian zwischen Schillerplatz und Rhein verschollen, Oli von Weinmarktbesuchern eingekreist. Dank modernster Technologie haben wir es dennoch geschafft, zum Interview zusammenzufinden. Und es gibt sogar etwas zu gewinnen!

Der Buchtitel klingt nach einer Idee, die einem beim zweiten Schoppen einfällt. War es so?    Wo unser Verleger Oliver Schwarzkopf und unser Agent Dr. Martin Brinkmann die Idee ausgekaspert haben, trinkt man andere Dinge, aber grundsätzlich könnte es so gewesen sein. 

Wollte eigentlich der Verlag 100 Gründe, Mainz 05 zu lieben, und Ihr habt auf 111 bestanden?     Genau genommen wollten wir zehnmal elf Gründe liefern und die letzte Seite leer lassen, damit unsere Leser ihren eigenen Grund eintragen können. Wir würden wirklich gerne behaupten, dass die Elf unsere Idee war, würden damit aber sehr schnell auffliegen. Der Verlag bringt schon seit Jahren Bücher in seiner 111er-Reihe heraus. Die Fußballbücher sind lediglich der neueste Streich. Wäre aber mal interessant, wie die damals eigentlich genau auf 111 gekommen sind. Hm... (Inzwischen wissen wir, auch dabei war Alkohol im Spiel...)


Ab welcher Zahl war es wirklich harte Arbeit, weil der Riesling leer und das Buch noch nicht voll war?
Schwierig wurde es ab der Nummer 136... Im ersten Brainstorming haben wir schon gemerkt, dass wir alleine mit Spielern, die wir gerne würdigen wollten, die 111 locker voll bekommen hätten. Es war harte Arbeit, uns auf 111 Gründe zu beschränken. Das Weglassen von Themen war schwieriger als das Schreiben der nun im Buch vertretenen Texte. Denn das hat Spaß gemacht. Wichtige Ereignisse und Menschen zu streichen, hat dagegen wehgetan. Und seit die neue Saison läuft, ist es richtig schlimm, weil wir dauernd weitere Texte über den tollen Start schreiben wollen, über den unfassbar grandiosen Choupo, die tollen Neuen, die Stimmung in der Schluss­phase des Wolfsburg-Spiels – und dann feststellen müssen: Mist, geht ja gar nicht mehr, das Buch ist längst voll!


Euer Grund Nummer 1 heißt »Weil wir nur ein Karnevalsverein sind«. Ist das der wichtigste – oder warum steht er am Anfang?
Die Karnevalsnummer ist einfach so verbunden mit Mainz 05, das ehemals verhohnepipelnde Gesinge der Gegner, das zum positiven Selbstbild wurde, dass es auf jeden Fall ganz weit vorne stehen musste. Und dann war es uns wichtig, einzusteigen mit dem Selbstverständnis, mit einem kleinen Charakterabriss, wie wir den Verein und uns als die Fans verstehen. Das passte natürlich alles bestens unter genau dieses Dach.

Wie einig wart ihr euch?

Was die Zusammenstellung der Gründe angeht, waren wir uns fast immer überraschend schnell einig. Auch wenn mal einer von uns ein Thema vorgeschlagen hat, das der andere erst nicht auf dem Schirm hatte, war es in aller Regel unkompliziert, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Was sicher hilft ist, dass wir häufig ähnliche Einschätzungen oder auch so kleine Schwächen haben. Wir bauen seit Jahren gemeinsam und heimlich ein Dimo-Wache-Denkmal. Wir finden Thomas Tuchel absolut sensationell und simsen uns bei jedem Gegentreffer dieser Saison, Wetti hätte den gehabt. Das war also leicht. Komplizierter wurde es eher bei den Texten selbst. Wir haben vieles gemeinsam verfasst und uns gegenseitig lektoriert, da gab es manchmal richtig Zoff. Auch, weil wir da gnadenlos waren miteinander, Sachen gestrichen haben, auf Kleinigkeiten rumgeritten sind. Da wurde es manch­mal sogar laut, aber selten blutig. Und am Ende gab es Eis und alles war wieder gut.

Bei welchem Punkt wird selbst der langjährige Allesfahrer sagen: Stimmt, war mir bisher gar nicht bewusst?

Hoffentlich bei ganz vielen, denn es hat ja einfach jeder andere Erinnerungen. Uns ging es auch so, wenn wir unsere Texte gegenseitig gelesen haben – man entdeckt dabei immer noch Neues. Und natürlich sind etliche Fakten drin, die man nicht alle ad hoc weiß oder vielleicht tatsächlich zum ersten Mal liest.


Text & Interview: Oliver Heil





Gewinnspiel: Sei unsere letzte Seite
Schick uns deinen Grund, Mainz 05 zu lieben.
Schreibe einen Text oder male ein Bild:
Mach es nicht größer als eine Postkarte –
und schicke es uns bis zum 1. Oktober an
die.tortour@googlemail.com
Unter allen anderen Einsendern
verlosen wir drei Exemplare des Buches.


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Dienstag, 10. September 2013

Robert Enke: Ein allzu kurzes Leben

Lesen, das ist eine emotionale Angelegenheit. Ein Einlassen in die Geschichte, die sich entfaltet, ein Abtauchen in die Seiten, deren Umblättern zart die Innenseite der Hände streichelt. Es ist der Auftakt einer ganz besonderen Beziehung – der zwischen Lesendem und Schriftsteller, die Berührung zweier Welten außerhalb der Welt, dort, wo die Imagination des einen und die Phantasie des anderen sich treffen. Bücher schaffen Veränderung – bei dem, der sie schreibt und dem, der sie liest.

Bei einer Biografie wird dieses besondere Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser um eine Person erweitert – und das anders, als es bei Protagonisten in einem Roman der Fall ist. Für die Begegnung mit dieser Person muss sich der Leser auf den Autor, bei dem er einen Wissensvorsprung voraussetzen darf, verlassen können. Auch seine Beziehung zu dieser Figur, der tatsächlichen, aus dem Leben ins Buch transportierten, ist abhängig vom Blick des Schriftstellers auf den Gegenstand seines Schaffens. Kann die Verbindung über Bande gelingen?

Ronald Reng: Robert Enke. (Foto: Verlag)

„Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“ – die 427-Seiten starke Biografie des Sportjournalisten Ronald Reng über den Torwart, der sich im November 2009 das Leben nahm, stiftet die Beziehung zwischen Enke und dem Leser in beinahe schmerzlicher Intensität. Das einfühlsame Portrait gelingt dank seines hervorragenden Autors auf allen Ebenen. Nicht nur ist Reng ein weit gereister Sportjournalist, der den Fußball versteht und mit Leidenschaft für das Spiel brennt, seine Schreibe ist warm, klug und spannend. Die enge persönliche Verbindung des Autors zu Enke und dessen Witwe Teresa spricht aus jeder Zeile über den Privatmenschen Robert Enke; und Reng vermag es ohnehin, jedes Thema, das er anpackt, mit einer beinahe poetischen Zärtlichkeit zu unterlegen – die niemals zu weit geht, nie in den Kitsch abdriftet. In einem Satz: Dieses Buch ist ein Geschenk.

Ein Geschenk allerdings, dessen Auspacken dem Leser schmerzlich vor Augen führt, in welcher Welt wir leben. Wie wir, als gesellschaftliche Gemeinschaft, viel zu häufig versagen dabei, die aufzufangen, die schwach sind oder sich als schwach empfinden. Der Druck, der auf Enke lastete, seine furchtbare Scham im Umgang mit der Depression, hält uns den Spiegel vor – der Blick hinein ist beschämend.

„Ein Glückskind, eigentlich“ – so lautet das erste Kapitel des Buches. Und die Erkenntnis, dass Enke doch, eigentlich, irgendwie, ein Glückskind war, begleitet den Leser auf seiner Reise durch dessen Lebensgeschichte. Die große Liebe zu Teresa, mit der Robert Enke sein Leben schon früh teilte, das Elternhaus, das ihm scheinbar alles mitgab, der Beruf, den er liebte. Wieso dann immer wieder diese Angst? Woher dann diese Verunsicherung, warum die Zweifel und dunklen Gedanken?

Weil eine Krankheit, egal welche, dem Anspruch widerspricht, zu funktionieren. Der Hoffnung auf Glück. Weil eine Depression, scheinbar muss man das immer wieder betonen, eben genau das ist: eine Krankheit. Die den Menschen genauso schonungslos attackiert wie ein Herzleiden, wie Krebs – weil sie den Körper ebenso belastet, den Betroffenen ebenso durchschüttelt, ihn angreifbar macht, schutzlos und abhängig von der Hilfe anderer. Um die es sich aber umso schwerer bitten lässt, weil neben der Angst vor der eigenen Schwäche die noch größere vor der Stigmatisierung mitschwingt.

Der Eindruck, der nach der Lektüre von Enkes Biografie zurückbleibt ist so schlicht wie bitter: Der Torwart hat sich immer wieder dagegen entschieden, Hilfe offen anzunehmen, weil er sich nicht vorstellen konnte, anschließend seinen Beruf weiter ausführen zu dürfen. Die Berufung als Nummer Eins ins Nationalteam, für Enke großartige Chance und immense Belastung zugleich, besiegelte dabei auf tragische Weise sein Schweigen, alle Überlegungen, mit der Krankheit doch an die Öffentlichkeit zu gehen, wurden für ihn so hinfällig. Ein Torwart muss stark sein, muss alles aushalten können, dieses öffentliche Bild war auch Enkes Überzeugung. Die Angst, mit der vermeintlichen Schwäche seine Chance zu vergeben, war zu groß. Und am Ende mit und in dieser Angst auch der Druck.

Dass der sensible, stets um seine Mitmenschen besorgte Enke sich gerade vor einen Zug wirft und einen anderen zum Komplizen seines Selbstmordes macht, die Tatsache steht für Reng wie ein Symbol: Robert Enke hat an diesem Novembertag keine Hoffnung mehr gehabt, keinen Ausweg mehr gesehen. Und nein – es gibt kein gesellschaftliches Schuldprinzip für Selbstmord. Doch es gibt eine Verantwortung, die wir tragen, im Umgang miteinander, auch und gerade im Angesicht von Krankheit, Not und Schwäche. Prominente Schicksale wie das von Robert Enke erinnern uns daran – es bleibt zu hoffen, dass sich daraus in kleinen Schritten ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Enkes Tod und die tragischen Umstände haben das Land im November 2009 betroffen gemacht und den Ruf nach Veränderungen laut werden lassen – aber was ist seither tatsächlich passiert? Rengs Buch leistet einen wichtigen Beitrag: für den Wandel und gegen das Vergessen. Lesebefehl!


Ronald Reng
Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben
427 Seiten
Piper Taschenbuch
9,99 Euro

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Dienstag, 23. Juli 2013

Der Leseherbst wirft seine Schatten voraus: 111 Gründe, Mainz 05 zu lieben


Mara Braun & Christian Karn
111 GRÜNDE, MAINZ 05 ZU LIEBEN
Eine Liebeserklärung an den großartigsten Fußballverein der Welt
ca. 288 Seiten I Broschur
ISBN 978-3-86265-270-9
Originalausgabe I 9,95 EUR
Erscheint im Herbst 2013
www.zwoelftermann.de

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Samstag, 11. Mai 2013

Sternenhimmel über der Wüste: Die Farbe der Nacht

„Als ich erwachte, saß ich auf meiner Veranda. Das kalte Telefon in beiden Händen. Der Akku war leer, er hatte sich klaglos verbraucht. Wie oft ich wohl angerufen hatte. Wieder und wieder, Stunde um Stunde. Aber nie eine Antwort, kein einziges Mal.“ – Madison Smartt Bell: „Die Farbe der Nacht“

Gut 30 Jahre sind vergangen, seit Mae ihre Geliebte Laurel zuletzt gesehen hat. Nun entdeckt sie diese wieder – im Fernsehen, als eine der ungläubigen, verstörten Beobachter der einstürzenden Türme des 11. September. Durch dieses Quasi-Wiedersehen geht eine Wunder auf, so will es dem Leser zunächst erscheinen; bald schon wird aber klar, Mae ist längst selbst zur Wunde geworden – offen stehend und blutend.

Die Farbe der Nacht. (Foto: Verlag)
Der Blick, den Autor Madison Smartt Bell durch die Augen seiner Ich-Erzählerin auf das Amerika der letzten sechs Jahrzehnte wirft, ist ein schonungsloser. Er schickt seine Figur in eine durch und durch abartige Welt, umgeben von perfiden Menschen wandelt sie in zunehmender Abgestumpftheit durch den Morast ihres Lebens. Dessen Szenen sind in ihrer Eindeutigkeit fast schon zu banal – der Bruder, der sie missbraucht und dann für eine andere Frau „verlässt“, die Eltern, die sie vernachlässigen, die Gesellschaft, in der sie keinen Halt findet – und wirken doch nie platt oder beliebig.

In den Sechzigerjahren wird Mae Teil einer Kommune, für deren zerstörerische nächtliche Feldzüge Bell sich Charles Manson zum Vorbild nimmt. Gewalt, Mord, Drogen und Sex greifen bei den Sektenmitgliedern ineinander wie die stumpfen Zacken eines Zahnrades und können jederzeit zur Orgie anschwellen. Angst und Euphorie, Blutrausch und Erregung, das alles schafft Einheit und wird zu einer zerstörerischen Bewegung, mit der die Gruppe zuerst andere, aber letztlich auch sich selbst vernichtet, da sich ihre Mitglieder zu sicher fühlen.

Als die Polizei die Kommune hochnimmt, sind es alleine Mae und Laurel, die sich zuerst verstecken können und dann gemeinsam fliehen. Für eine Weile bleiben beide in scheinbarer Unbeschwertheit zusammen, wirken befreit aus den Klauen der Sekte; bis sie ihren Anführer in der Wüste treffen und eine erneute Bluttat sich so zwischen die Frauen schiebt, dass ihre Wege sich fürderhin trennen.

Mae lebt in einer Wohnwagensiedlung, als der Leser ihr begegnet. Sie arbeitet in einem Casino in Nevada, vögelt mal für den Rausch und mal gegen Geld, berauscht sich neben dem Sex an Drogen und Gewalt. Wenn sich die Wüste abkühlt, zieht sie mit ihrem Gewehr unter dem Sternenhimmel durch die nächtliche Einsamkeit, umgeben von derselben Stille, die ihre gewalttätigen Streifzüge einst kennzeichnete. Diese äußere Stille schafft eine innere Ruhe, die Mae sonst vergeblich sucht, zugleich schafft sie für den Leser kleine Inseln der Erholung im atemlosen Tempo der Geschichte.

Mae wird Laurel aufsuchen, so viel ist klar – aber was passiert, wenn die beiden Frauen sich nach all der Zeit gegenüberstehen? Und feststellen, die gemeinsame Zeit hat eine von ihnen in einem Leben der Zerrüttung wieder ausgespuckt, während die andere ihres seit der Trennung in der Wüste in die Formen der gesellschaftlichen Erwartung gegossen hat?

Bells Buch ist schnell und intensiv, seine Geschichte und ihre Figuren wirken lange nach. Ein Phänomen ist zudem, wie er es schafft, in all der scheinbaren Eindeutigkeit dieser Schilderungen nie ein Urteil über seine Hauptfigur zu fällen, ihr vielmehr sogar Momente der Nähe mit dem Leser erlaubt. Die Sprache der Erzählung bohrt sich unter die Haut, sie ist poetisch und eindringlich und Bell findet Bilder, die weder zu schwach wirken noch überzogen – sondern immer genau richtig. Ein absolut empfehlenswertes, aufwühlendes Leseerlebnis.


Madison Smartt Bell
Die Farbe der Nacht
238 Seiten
Verlag: Liebeskind
Preis: 18,90 Euro

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Samstag, 15. Dezember 2012

George Pelecanos: Der coolste Autor Amerikas

Manchmal ist das Fernsehen selbst dann zu etwas gut, wenn gerade keine Sportschau läuft. Dann ist allerdings selten das deutsche Programm zu loben, sondern eher der US-Bezahlsender HBO. Der produziert nämlich in beeindruckender Regelmäßigkeit Fernsehserien, die in ihrer Qualität jeden hiesigen TV-Film um lockere Längen hinter sich lassen. Das allein ist schon positiv, doch mit dem Überschwappen eben jener Serien nach Deutschland ist noch längst nicht Schluss: Auch manch ein Musiker oder Autor, der hierzulande leider viel zu lange unter dem allgemeinen Radar flog, wird damit einem breiteren Publikum bekannt. Und das ist eine wirklich gute Nachricht, schließlich stolpert nicht jedermann zufällig über Steve Earle oder George Pelecanos – um nur mal zwei Beispiele zu nennen.

Krimi- & Drehbuchautor George Pelecanos beim Brooklyn
Book Festival 2008. (Foto: David Shankbone/CC 3.0)
Die Bekanntschaft mit Earle, dem genialen Troubadour, habe ich dem Soundtrack zu „Brokeback Mountain“ zu verdanken, die mit Pelecanos, dem phantastischen (Krimi-)Autor, dem Bücherregal meines Freundes. Für alle, die sich bislang weniger glücklich schätzen konnten, kommen beide seit einiger Zeit auch via „The Wire“ ins Wohnzimmer. Die in Baltimore angesiedelte Crime-Serie ist nicht nur für sich genommen eine kleine Sensation, sie wird inzwischen auch von Pelecanos mitgeschrieben und produziert. Und Earle glänzt darin nicht nur durch Gastauftritte, sondern liefert in Staffel 5 auch seine Version der Titelmelodie „Way Down in the Hole“ – im Original übrigens von Tom Waits; wer den noch nicht auf dem Radar hat, dem ist allerdings nicht zu helfen.

Pelecanos wird häufig als Amerikas coolster Autor tituliert; eine Behauptung, die man gerne hinnimmt. Der Nachkomme griechischer Einwanderer hat zuerst mit seiner „Nick-Stefanos“-Trilogie („A Firing Offense“, „Nick's Trip“, und „Down by the River Where the Dead Men Go“) auf sich aufmerksam gemacht, in der er seinen Protagonisten mit der eigenen griechischen Herkunft ausstattet. Drogen, Alkohol, Frauen, Waffen und Kriminalität in Washington DC – was in der Synopsis beliebig wirken könnte, bekommt bei Pelecanos einen ganz eigenen Klang, eine besondere Dichte und ein sehr spezielles Tempo.

Den Klang erzeugen neben der Sprache des Autors seine ausführlichen Beschreibungen der Musik, die den Soundtrack zum Leben seiner Figuren bildet. Die Dichte entsteht aus der großen Nähe zu eben diesen Figuren und, ebenso wie das Tempo, dank der zahlreichen Dialoge. Gleichzeitig ist der Fluss der Story an sich – anders, als man es von Krimis vielfach kennt – kein reißender: Pelecanos muss keine Reifen quietschen oder Gebäude explodieren lassen, muss seine Helden nicht in wüste Ballereien schicken, um Spannung zu erzeugen. Die entsteht vielmehr aus seinen Figuren heraus, ihren Haltungen, inneren Kämpfen und Kollisionen mit der Welt um sie herum.

Dem Krimi wird gerne vorgeworfen, er sei „bloße Unterhaltung“ und somit nicht tauglich, auch als Literatur durchzugehen. Fraglos gibt es viele schlechte Krimis – wohl auch, weil in den letzten Jahren aus einem wahnsinnigen Hype heraus per se zu viele Krimis veröffentlicht wurden. Und vor allem, weil es eben in jedem Genre (auch) schlechte Bücher gibt. Wer aber ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie literarisch Krimis sein können, der sollte sich in der Buchhandlung seines Vertrauens einen Roman von George Pelecanos bestellen. Die Verfasserin dieser Zeilen hat neben seiner Erstlingstrilogie (nur auf Englisch erschienen) auch „Drama City“ (2005) und „The Cut“ (2011) gelesen, kann aber – schlussfolgernd und aus zweiter Hand – auch fast alles andere empfehlen, was der Mann zu Papier gebracht hat.

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Donnerstag, 15. Dezember 2011

Ruth Johanna Benrath: Wimpern aus Gras

Wimpern aus Gras. (Foto: Verlag)
„You didn’t adress my husband as a part of me.“ Mit diesem Satz endet die Freundschaft zwischen Anna und Rena, diesem und einer Handvoll Wutworte, die Anna aus ihrer neuen Heimat Amerika schreibt; die Entfremdung hat freilich bereits viel früher begonnen. Rena braucht ein Wörterbuch, um Annas Vorwurf zu verstehen. Und lernt, dass es im Englischen zwei Formen der Anrede für Frauen gibt – Ms. und Mrs. – je nach dem, ob verheiratet oder nicht. In der darauffolgenden Zeit wird die Protagonistin des Romans „Wimpern aus Gras“ vieles nachschlagen, denn Annas Ehemann Reiko hat der Studentin das Tagebuch seiner Frau zusammen mit ihrer Todesanzeige nach Heidelberg geschickt.

So fragmentiert, verschachtelt und manchmal geheimnisvoll die Sätze sind, auf die Rena in diesem Tagebuch stößt, webt Ruth Johanna Benrath auch ihre zarte Geschichte über Freundschaft, Liebe, Verlust und Identität. Zumeist angestoßen von Annas rätselhaften Niederschriften entfaltet die Autorin das Leben der Verstorbenen ebenso behutsam wie das der zurückgebliebenen Freundin – und über die beiden Frauen erklärt sie die Rolle des Mannes, der im Leben zu ihrer Trennung beitrug und nun, nach Annas Tod, eine Art Wiedervereinigung ersehnt. Neben der intensiven Entwicklung der Figuren steht die Sprache im Fokus des Romans. Wie verbindend diese in bestimmten Momenten sein kann und welch enorme Distanz sie in anderen zu verschaffen vermag, lernen Benraths Figuren auf verschiedenste Weise.

Annas Großmutter ist Amerikanerin, und so selbstverständlich es in ihrem Elternhaus ist, zwischen den Sprachen zu springen, so schwierig empfindet es Rena beizeiten, diesem Wechsel zu folgen und in der fremden Sprache auch jedes Detail zu verstehen oder ausdrücken zu können. Als das Leben die Heldinnen des Romans an verschiedene Orte trägt, bleibt ihre Nähe zueinander zunächst in den Briefen erhalten, die zwischen ihnen hin und her gehen. Mit der Zeit aber werden genau diese zum Ausgangspunkt für Missverständnisse, die über Wut in die Sprachlosigkeit und zuletzt dem Ende der Freundschaft führen.

Für Anna bietet das Englische einen sicheren Rückzugsort, an den sie flüchtet in Momenten, von denen sie sich überfordert fühlt. Damit hinterlässt sie der besten Freundin in ihrem Tagebuch noch viel mehr Rätsel, als wenn sie dieses in der gemeinsamen Muttersprache geführt hätte. Wie intensiv Rena sich in das Ergründen dieser Geheimnisse hineinbegibt, lässt die Grenzen zwischen ihr und der toten Freundin immer mehr verschwimmen vor den Augen des Lesers – und ist von der ersten bis zur letzten Seite so ungewöhnlich wie lesenswert geschrieben.

Ruth Johanna Benrath
Wimpern aus Gras
217 Seiten
Verlag: suhrkamp nova
Preis: 13,95 Euro

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Donnerstag, 25. August 2011

Theresa Bäuerlein: Roman ohne Eifersucht

Roman ohne Eifersucht. (Foto: Verlag)
Zwar heißt es landläufig, „You Can’t Judge a Book by the Cover“, die Beziehung zum geschriebenen Werk aber kann dennoch mit eben jenem anfangen: dem Cover. Schließlich zählt immer auch der erste Eindruck – das gilt nicht nur im Zwischenmenschlichen. Insofern stand meine Liaison mit Theresa Bäuerleins „Roman ohne Eifersucht“ eigentlich unter einem sehr guten Stern, denn das rostrote Cover, auf dem die titelgebenden Buchstaben wie ausgestanzt scheinen, um darunter Zeitungspapier zu enthüllen, gefiel mir spontan, ebenso die angedeuteten Wellen und Zeitungsschiffchen. Aber dann…

Das Buch beginnt mit einem Brief, den Protagonistin Karen an ihren Freund Jonathan schreibt. Der kommt gerade zurück von einer Outdoor-Reise in Polen, die beide ursprünglich hatten zusammen antreten wollen – bis dann Karens Job dazwischen kam. Und Jonathan alleine abreiste, nicht ohne Karen vorher zu versichern, es sei „kein Problem“, sollte sie in seiner Abwesenheit „Bock auf jemand anders“ haben. Denn der Fotograf empfindet keine Eifersucht, sich selbst deswegen als anders – und ist getrieben von dem Wunsch, neben seiner Freundin auch mit anderen Frauen schlafen zu dürfen.

Weder teilt diese seinen Wunsch, noch kann sie dem Aspekt so recht etwas abgewinnen, dass Jonathan ihr umgekehrt ebenso großzügig das Recht einräumen würde, mit anderen Männern zu schlafen. Für die Zeit der Polen-Reise schlägt sie dennoch halb vor, halb willigt sie ein, das Experiment „Offene Beziehung“ zu wagen – und Jonathan verabschiedet sich elektrisiert vor Begeisterung. Und vielleicht ist es doch ein Hintergedanke, der Karen treibt, denn noch vor seinem Abflug gesteht sie ihrem Freund, sie habe für dieses Experiment einen Kandidaten im Kopf: Ben, ihren Nachbarn. Was Jonathan plötzlich verunsichert, weshalb er in einer Mail einige Regeln für das Experiment aufstellt; die wichtigste: nicht zweimal mit demselben Menschen schlafen.

So also nehmen die Dinge ihren Lauf. Karen schnappt sich den vollkommen überraschten Ben, seines Zeichens introvertierter Forscher, der mit einer gestohlenen Laborratte lebt. Jonathan empört seine Reisegruppe am polnischen Lagerfeuer mit seinem Monolog über offene Beziehungen, darf aber zur Belohnung mit der hübschen Reiseleiterin schlafen – und das entgegen seiner eigenen Regeln gleich mehrfach. Karen stellt fest, dass ihre Chefin sich der freien Liebe mit professionellem Eifer verschrieben hat – trotzdem kommt es zu Problemen, als sie gerade mit deren Mann anbändelt. Wie sie überhaupt plötzlich das Bedürfnis verspürt, anzubändeln, mal mit dem einen, mal dem anderen. Nur nicht mehr Ben, dessen Rattenklau mittlerweile aufgeflogen ist, worauf er das Tier in Anwesenheit seines Professors einschläfern muss, um seine Stelle zu retten.

Das hinterlässt ihn deutlich zerstörter als den Leser, der zumindest sicher sein darf, keine weiteren Kapitel aus der Sicht der Ratte erzählt zu bekommen – ein Mittel, zu dem die Autorin zuvor mehrfach gegriffen hat. Allerdings längst nicht so häufig wie zu endlosen Vergleichsformeln, nichts existiert im Bäuerleinschen Universum, ohne wie etwas anderes zu sein, in endloser Verkettung. Und dann ist plötzlich alles vorbei, schließt sich der Kreis, als Karen an ihren Brief noch einige Sätze anfügt, ratlos klingen die. Und ratlos bleibt auch der Leser zurück, der auf 272 Seiten ein Thema angedeutet bekommt, ohne jemals das Gefühl zu haben, wirklich darin einzutauchen. Dasselbe gilt für die Geschichte – sofern es sie denn gab…

Aber vielleicht ist es nicht das Cover, nach dem man sich einen ersten Eindruck machen sollte, sondern das kurze Autorenportrait auf der Umschlagsklappe. Und vielleicht sollte ich nie wieder Bücher einer Autorin lesen, die genau an dieser Stelle über sich ausgerechnet zu sagen hat, dass es ihr Probleme bereitet, sich zwischen zwei Sorten Joghurt zu entscheiden…


Theresa Bäuerlein
Roman ohne Eifersucht
272 Seiten
Krüger, Frankfurt
14,95 Euro

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Dienstag, 2. Juni 2009

Kaufbefehle und Lesewarnungen (2)


Die Autorin entwickelt keine Figuren, sondern Vorstellungen von Menschen und Beziehungen, die in keiner Zeile wirken, als hätten sie etwas mit dem Leben zu tun. Stattdessen bleiben sie eine Auffassung davon, wie unglücklich Liebe macht, wenn sie nicht echt ist. Dabei gaukelt der Roman dem Leser vor, das Problem an diesen falschen Lieben sei ihre Unausweichlichkeit und versteckt sich hinter Phrasen und endlosen, bemühten Vergleichen. In Wahrheit aber haben Heinrichs Protagonisten einfach nur nicht den Mut, ihre Einsamkeit auszuhalten und lenken sich davon ab, wie alleine sie sich eigentlich fühlen müssten in ihrem Scheitern, das sie verletzt und zutiefst irritiert. So bleiben sie seltsam künstlich und fern, wie Stars in einem Hochglanzmagazin – und man hat sie mit der letzten Zeile des Romans bereits vergessen.

Susanne Heinrich
So, jetzt sind wir alle mal glücklich
DUMONT Literatur und Kunst Verlag
304 Seiten
ISBN-10: 3832180338



Als Agnes sich in ihrer Küche gegen einen Mann, der vorgab, ihren Hund entführen zu wollen, mit der Pfanne verteidigt – stürzt der durch die Wand in einen der Hausbesitzerin unbekannten Keller. Die passionierte Köchin mit der Leiche im Untergeschoss hofft, niemand werde in ihre Polizeiakte schauen und dabei ein Muster entdecken, was die Sache mit der Bratpfanne angeht… Außerdem stellt sie fest, dass ihr Verlobter mal wieder nicht Willens oder in der Lage ist, ihr zu helfen. Dafür ist da plötzlich Shane, der den Auftrag hat, sie zu beschützen, normalerweise aber als Profikiller arbeitet. Hinter dieser Geschichte stecken zwei Autoren mit zuvor sehr unterschiedlichen Feldern – während Crusie erfolgreich romantische Komödien schreibt, ist Mayer Thriller-Spezialist. Ihr gemeinsames Buch ist witzig, spannend und sexy, die Charaktere lebendig und überhaupt, so möchte man vorm Einschlafen unterhalten werden. Irgendwie verwunderlich, wieso bislang keines der Crusie-Bücher verfilmt wurde, aber vielleicht kommt das ja noch.

Jennifer Crusie & Bob Mayer
Agnes and the Hitmann
St Martins Press
432 Seiten
ISBN-10: 0312363052





Was ich nämlich der Figur meines Vaters zuschreibe, etwa, daß sie alles, was um sie herum existiert und geschieht, flugs zum Motiv macht, kann ich mir selbst nicht abschreiben. Mir selbst wird nicht nur alles, was um mich herum, sondern auch alles, was in mir existiert und geschieht, zum Motiv. Alles, was ist, denke ich, ist gut, sofern es gutes Material ist. Was dir zum Foto wird, Papa, wird mir zum Text. [Peter Henisch]
Als Peter Henisch seinem Vater Walter ankündigt, ein Buch über ihn schreiben zu wollen, ist der nur scheinbar mürrisch. Bald aber gefällt ihm die Idee, wenn auch getrübt vom Bedauern, dass Heinz Rühmann zu alt sein wird, um ihn in einer möglichen Verfilmung darzustellen. Der Sohn, hat seinen Vater, den Kriegsberichterstatter, als kleiner Junge bewundert und seine Geschichten vom Einsatz mit der Kamera aufgesogen. Mit dem Alter kam die Kritikfähigkeit am Vater und damit eine gewisse Ablehnung, aber auch ein tiefes Bedürfnis nach Versöhnung. Das Buch atmet diese gemischten Gefühle, auch die Irritation des Sohnes darüber, sich dem Vater zunehmend ähnlich zu fühlen – und sei es nur, weil sie doch beide dokumentieren, der eine mit der Kamera, der andere mit der Schreibmaschine. Beeindruckend ist dabei vor allem, wie offen die Männer über ihre Gespräche lernen, miteinander umzugehen; wie der Vater, am Ende bereits vom Sterben gekennzeichnet, dem Sohn seine Geschichten, auch seine Naivität, damals, anvertraut – und der milde wird gegenüber dem Alten. Unsentimental, und doch sehr berührend: ein ganz, ganz wundervolles Buch.

Peter Henisch
Die kleine Figur meines Vaters
Deutscher Taschenbuch Verlag
272 Seiten
ISBN-10: 3423136731

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Dienstag, 19. Mai 2009

Kaufbefehle und Lesewarnungen (1)

Mal wieder: Ein Buch, das ich irgendwann angefangen und dann weggelegt habe, weil es sich nicht eignete für die abendliche Viertelstunde vorm Einschlafen. Aber bei einer stundenlangen Zugfahrt durch die Republik hat dann der zweite Anlauf geklappt. Interessant ist Yaloms szenischer Bericht über 45 Jahre als Therapeut, die Tücken und guten Seiten, das Verhältnis zu seinen Patienten und die Einsicht, dass er von ihnen beizeiten genauso viel lernen kann wie sie von ihm auf jeden Fall. Unterhaltsam auch und, ja: lehrreich, obgleich das immer nach Mittelstufe klingt. Empfehlenswert.

Irvin D. Yalom
Der Panama-Hut
Was einen guten Therapeuten ausmacht
btb Verlag
283 Seiten
ISBN-10: 3442728487




Gemein ist das Gefühl, dass es sich irgendwie verbietet, über das Tagebuch einer Krebserkrankung negativ zu sprechen. Also stelle ich das Positive voran: Ich mochte den Titel wahnsinnig gerne… Und sicher greift Schlingensief Themen auf in seinem Buch, die es mehr als verdienen, so vor allem die Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit ihren Schwachen und Kranken. Der Blick in seine Seele, das Öffnen hin zum Leser mit seinen Ängsten, will zumindest mit mir aber nicht gelingen. Zu oft klingt er nicht authentisch, nicht wirklich bei sich, sondern in Gedanken schon wieder damit beschäftigt, wie werden die Leute darauf reagieren? Das Buch wirkt nie wie ein echtes Tagebuch, sondern immer wie die Sammlung von Gedanken, die schon im Moment ihrer Entstehung dazu angedacht waren, Publikum zu haben. Schade, irgendwie.

Christoph Schlingensief
So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein
Kiepenheuer & Witsch
254 Seiten
ISBN-10: 3462041118



Ach, was soll ich nur anfangen mit diesem Murakami, der von der Rezensionspresse ebenso wie einer hochbegeisterten Anhängerschaft mit Lobeshymnen überschüttet wird, in denen sich Superlativ um Superlativ das Staffelhölzchen in die Hand geben. Nach Gefährliche Geliebte, das ich so gar nicht mochte, zunächst Norwegian Wood – auf Englisch, weil die englischen Ausgaben seiner Werke angeblich oft besser übersetzt sind. Das zumindest gefiel, irgendwie. Nun Kurzgeschichten – die waren gar nicht mein Fall. Von insgesamt neun mochte ich zwei, keine gute Quote.

Haruki Murakami
Wie ich eines schönen morgens im April das 100%ige Mädchen sah
btb
183 Seiten
ISBN-10: 3442737974

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Montag, 19. Januar 2009

Die merkwürdigen Erinnerungen des Thomas Penman


Thomas Penman ist ein Junge von 13 Jahren mit abstehenden Ohren. Und das ist nur einer der Gründe, warum er es nicht leicht hat im Leben. Wenn Thomas nervös wird, scheißt er sich in die Hose. Einen großen, dicken Haufen. Weil ihm das peinlich ist, versteckt er die verschissene Unterwäsche hinterher an den unmöglichsten Orten, sei es im Haus seiner Eltern oder im Turnbeutel eines Klassenkameraden während der Sportstunde. Der Arzt, der ihm deswegen in den Hintern leuchtet, kann keine organische Ursache für sein Verhalten feststellen und beruhigt die geplagten Eltern, es würde sich verwachsen.

Tatsächlich sieht Thomas plötzlich einen Grund, die Scheißerei zu lassen – und das ist seine aufflammende Liebe zur Schulschönheit Gwendolin, deren Herz zu erobern urplötzlich die höchste Priorität in seinem Leben einnimmt. Und es scheint, als könne sein Werben erfolgreicher sein als zunächst angenommen.

Seine Probleme aber fangen da erst an. Zum einen wäre da sein Vater zu nennen, der heimlich die Gattin betrügt. Daraus resultieren Wutanfälle der genannten, die sich aber ebenso gut gegen ihren im Grunde unschuldigen Sohn wie den schuftigen Gatten richten können. Dem Gatten rückt sie mit einem Privatdetektiv zu Leibe, was einige Verwirrung stiftet – und um ihn zu quälen, wenn er satt und glücklich von seiner Geliebten kommt, zwingt sie ihn, Unmengen von Fleisch in sich hineinzustopfen, die sie den lieben langen Tag für ihn zubereitet.

Und dann ist da Thomas’ Großvater Walter, der einzige Mensch, von dem der Junge sich geliebt und verstanden fühlt. Der liegt im Sterben, was seinen Enkel vor mehrere Probleme gleichzeitig stellt. Zum einen konfrontiert ihn der nahende Tod mit großen Verlustängsten, die er bisher nicht gekannt hatte – der Gedanke, seinen Großvater, dem er sich so nahe fühlt, zu verlieren, erschreckt den Heranwachsenden. Zum anderen sorgt er sich um die Pornosammlung des Alten, deren Existenz ihm zwar bekannt ist, von der er aber nicht weiß, wie er sie sicher in seinen Besitz bringen soll.

Alleine die unzähligen skurrilen Situationen, in die Thomas auf der Jagd nach besagter Pornosammlung kommt oder der Moment, als er Fotos entdeckt, auf denen einer jungen Frau ein „Flugtier“ im Hintern steckt – und diese schließlich als seine Großmutter identifiziert – machen diese Kindheitserinnerungen der völlig anderen Art schon lesenswert. Herrlich lakonisch, nie ohne einen gewissen kindlichen Ernst und immer hinreißend und vergnüglich entführt uns Bruce Robinson in die Geschichte seines jungen Helden. Das hat stets eine sehr eigene Note und wird bis zum überraschend zu Herzen gehenden Ende nie langweilig.

Bruce Robinson
Die merkwürdigen Erinnerungen des Thomas Penman
347 Seiten
Goldmann
Preis variiert (gebraucht erhältlich)


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Dienstag, 14. Oktober 2008

Ronald Reng: Fremdgänger


Der Autor beginnt die Geschichte seines Protagonisten Tobias Linderoth, indem er dessen Einstellung zum Lesen beschreibt. Er tut dies mit einer Klarheit und Nähe zu seiner Figur, die von der ersten Seite an berührt und Rengs Kunst offenbart, seine Hauptfigur sehr dicht und erlebbar zu machen. So wird Linderoth dem Leser bei all seiner inneren Zerrissenheit und der augenscheinlichen Distanz zu den Menschen um ihn herum – vielleicht dem Leben an sich – nie fremd oder gar unsympathisch. Mit dem lesenden Tobias endet das Buch 354 Seiten später auch und spannt so zum Schluss erneut den direkten Draht von der Figur zum Leser.

Linderoth arbeitet als Investmentbanker in London, der Stadt der Ausländer, wie er sie nennt. Von denen gibt es in seiner Denke zwei Arten. Die eine, der er angehören möchte, mischt sich unauffällig unter die echten Londoner und versucht, es ihnen gleichzutun. In allem – und besonders darin, Erfolg zu haben, es zu etwas zu bringen. Die Anderen bleiben unter sich, sie vermischen sich nicht mit den Londonern sondern putzen deren Wohnungen, hüten ihre Babys und reinigen die Straßen dieser pulsierenden Stadt.

Die Beziehungen, die er führt, sollen vor allem eins sein – unaufgeregt. Die Frauen unbedingt ein wenig angepasst, sie müssen akzeptieren, dass sein Beruf die erste Geige spielt und er gerne auch tageweise das Gefühl des Singles zurückerobern möchte: alleine ausgehen, flirten vielleicht – ohne, dass sich das aber gegen seine Partnerin richtet. Über seine Gefühle zu sprechen hat er nie gelernt und erachtet es mittlerweile auch als überflüssig. Seine Partnerschaften verfolgen von einem ersten Anflug der Verliebtheit an ein bestimmtes Muster, das abgeschlossen wird damit, dass die Frau ihn irgendwann aufgibt und geht. Zuvor aber hat er sich ohnehin aus Langeweile bereits so weit von ihr zurückgezogen, dass er kaum mehr wahrnehmbar ist.

Als er beruflich in der Ukraine zu tun, hat lernt er die junge Larissa kennen; die beiden verlieben sich. Verärgert über die abweisenden Reaktionen seines Umfeldes auf dieses von ihm als so selten und echt empfundenen Gefühls und besessen von dem Wunsch, alles „richtig“ zu machen – und Larissa die Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu beweisen –, heiratet er die 11 Jahre jüngere Frau nach vier Monaten und holt sie zu sich nach London.

Schnell ergeben sich in ihrer jungen Ehe erste Probleme. Tobias ist der Doppelbelastung von Jobs und einer echten Beziehung nicht gewachsen, während Larissa, die sich an der Musikhochschule beworben hat und vorerst nichts tun kann, als auf das Ergebnis der Aufnahmeprüfung zu warten, sich zusätzlich zum Heimweh zu langweilen beginnt. Zum Entsetzen ihres Mannes freundet sie sich mit seiner Putzfrau an, Monika, einer gleichaltrigen Polin. Anstatt durch die früher stets erhoffte Liaison mit einer echten Londonerin den letzten Schritt auf die aus seiner Sicht richtige Seite der Stadt zu schaffen, scheint er nun abgerutscht in das London, vor dem er seit jeher flieht.

Larissa spürt seinen wachsenden Unwillen, der doch zum Teil auch aus der Unsicherheit über seine eigene Gefühlswelt rührt, will ihm helfen, nahe sein. Doch er weist sie ab und schafft es erneut nicht, seine Gefühle zu artikulieren.

Tief entführt uns Reng in die Gedankenwelt seines Protagonisten, der so sehr darum bemüht ist, ein guter Mitarbeiter zu sein, ein guter Ehemann, ein guter Freund, ein guter Mensch – dass er sich dabei fast selbst verloren geht. Die Sprache des Autors ist zugleich klar und poetisch und lässt zu jedem Zeitpunkt starke Bilder im Kopf des Lesers entstehen über den jungen Mann und seine Stadt – die heimliche Heldin des Buches – in der alles möglich ist, oder zumindest sein sollte.

Seine Flucht aus den Zwängen der jungen Ehe, die jedoch letztlich zu großen Teilen selbst gemacht sind, führt ihn schließlich weit in die Vergangenheit. Diese kommt in Form seiner ersten großen Liebe daher, mit der er sich hinter dem Rücken seiner Frau trifft. Doch dann ist es just diese Begegnung, die ihm in Erinnerung ruft, warum er sich damals in der Ukraine in Larissa verliebt hatte, und im fremden Kiew an diese Liebe glauben konnte. So kehrt er zu ihr zurück, ohne sie betrogen zu haben.

Reng gibt am Ende glücklicherweise nicht vor, eine Lösung zu den Problemen der beiden bieten zu können, hinterlässt seine Leser aber mit dem Besten, was er ihm bieten kann – dem Mut seines Protagonisten, sich den Anforderungen dieser Liebe zu stellen. Und der Hoffnung darauf, dass es eben wegen der Liebe, dieser speziellen ebenso wie der Liebe an sich, jeden Tag eine neue Lösung geben wird.

Ronald Reng
Fremdgänger
364 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: 9,90 Euro

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