Lesen, das ist eine emotionale Angelegenheit. Ein Einlassen in die
Geschichte, die sich entfaltet, ein Abtauchen in die Seiten, deren
Umblättern zart die Innenseite der Hände streichelt. Es ist der Auftakt
einer ganz besonderen Beziehung – der zwischen Lesendem und
Schriftsteller, die Berührung zweier Welten außerhalb der Welt, dort, wo
die Imagination des einen und die Phantasie des anderen sich treffen.
Bücher schaffen Veränderung – bei dem, der sie schreibt und dem, der sie
liest.
Bei einer Biografie wird dieses besondere Verhältnis zwischen
Schriftsteller und Leser um eine Person erweitert – und das anders, als
es bei Protagonisten in einem Roman der Fall ist. Für die Begegnung mit
dieser Person muss sich der Leser auf den Autor, bei dem er einen
Wissensvorsprung voraussetzen darf, verlassen können. Auch seine
Beziehung zu dieser Figur, der tatsächlichen, aus dem Leben ins Buch
transportierten, ist abhängig vom Blick des Schriftstellers auf den
Gegenstand seines Schaffens. Kann die Verbindung über Bande gelingen?
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Ronald Reng: Robert Enke. (Foto: Verlag) |
„Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“ – die 427-Seiten starke Biografie des Sportjournalisten
Ronald Reng über den Torwart, der sich im November 2009 das Leben nahm, stiftet die Beziehung zwischen
Enke
und dem Leser in beinahe schmerzlicher Intensität. Das einfühlsame
Portrait gelingt dank seines hervorragenden Autors auf allen Ebenen.
Nicht nur ist Reng ein weit gereister Sportjournalist, der den Fußball
versteht und mit Leidenschaft für das Spiel brennt, seine Schreibe ist
warm, klug und spannend. Die enge persönliche Verbindung des Autors zu
Enke und dessen Witwe Teresa spricht aus jeder Zeile über den
Privatmenschen Robert Enke; und Reng vermag es ohnehin, jedes Thema, das
er anpackt, mit einer beinahe poetischen Zärtlichkeit zu unterlegen –
die niemals zu weit geht, nie in den Kitsch abdriftet. In einem Satz:
Dieses Buch ist ein Geschenk.
Ein Geschenk allerdings, dessen Auspacken dem Leser schmerzlich vor
Augen führt, in welcher Welt wir leben. Wie wir, als gesellschaftliche
Gemeinschaft, viel zu häufig versagen dabei, die aufzufangen, die
schwach sind oder sich als schwach empfinden. Der Druck, der auf Enke
lastete, seine furchtbare Scham im Umgang mit der
Depression, hält uns den Spiegel vor – der Blick hinein ist beschämend.
„Ein Glückskind, eigentlich“ – so lautet das erste Kapitel des Buches.
Und die Erkenntnis, dass Enke doch, eigentlich, irgendwie, ein
Glückskind war, begleitet den Leser auf seiner Reise durch dessen
Lebensgeschichte. Die große Liebe zu Teresa, mit der Robert Enke sein
Leben schon früh teilte, das Elternhaus, das ihm scheinbar alles mitgab,
der Beruf, den er liebte. Wieso dann immer wieder diese Angst? Woher
dann diese Verunsicherung, warum die Zweifel und dunklen Gedanken?
Weil eine Krankheit, egal welche, dem Anspruch widerspricht, zu
funktionieren. Der Hoffnung auf Glück. Weil eine Depression, scheinbar
muss man das immer wieder betonen, eben genau das ist: eine Krankheit.
Die den Menschen genauso schonungslos attackiert wie ein Herzleiden, wie
Krebs – weil sie den Körper ebenso belastet, den Betroffenen ebenso
durchschüttelt, ihn angreifbar macht, schutzlos und abhängig von der
Hilfe anderer. Um die es sich aber umso schwerer bitten lässt, weil
neben der Angst vor der eigenen Schwäche die noch größere vor der
Stigmatisierung mitschwingt.
Der Eindruck, der nach der Lektüre von Enkes Biografie zurückbleibt ist
so schlicht wie bitter: Der Torwart hat sich immer wieder dagegen
entschieden, Hilfe offen anzunehmen, weil er sich nicht vorstellen
konnte, anschließend seinen Beruf weiter ausführen zu dürfen. Die
Berufung als Nummer Eins ins Nationalteam, für Enke großartige Chance
und immense Belastung zugleich, besiegelte dabei auf tragische Weise
sein Schweigen, alle Überlegungen, mit der Krankheit doch an die
Öffentlichkeit zu gehen, wurden für ihn so hinfällig. Ein Torwart muss
stark sein, muss alles aushalten können, dieses öffentliche Bild war
auch Enkes Überzeugung. Die Angst, mit der vermeintlichen Schwäche seine
Chance zu vergeben, war zu groß. Und am Ende mit und in dieser Angst
auch der Druck.
Dass der sensible, stets um seine Mitmenschen besorgte Enke sich gerade
vor einen Zug wirft und einen anderen zum Komplizen seines Selbstmordes
macht, die Tatsache steht für Reng wie ein Symbol: Robert Enke hat an
diesem Novembertag keine Hoffnung mehr gehabt, keinen Ausweg mehr
gesehen. Und nein – es gibt kein gesellschaftliches Schuldprinzip für
Selbstmord. Doch es gibt eine Verantwortung, die wir tragen, im Umgang
miteinander, auch und gerade im Angesicht von Krankheit, Not und
Schwäche. Prominente Schicksale wie das von Robert Enke erinnern uns
daran – es bleibt zu hoffen, dass sich daraus in kleinen Schritten ein
gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Enkes Tod und die tragischen
Umstände haben das Land im November 2009 betroffen gemacht und den Ruf
nach Veränderungen laut werden lassen – aber was ist seither tatsächlich
passiert? Rengs Buch leistet einen wichtigen Beitrag: für den Wandel
und gegen das Vergessen. Lesebefehl!
Ronald Reng
Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben
427 Seiten
Piper Taschenbuch
9,99 Euro
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