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Montag, 27. Januar 2014

Am Ende ein Sonntagskind



Mein Vater wuchs im festen Glauben daran auf, ein Sonntagskind zu sein. Ich kann nicht sagen, warum ihm das so wichtig war – aber ich erinnere mich, dass er oft davon sprach: Meine Oma hatte ihn an einem Sonntag auf die Welt gebracht, damals, ein paar Jahre vor Kriegsbeginn. Und das, davon schien er aus vollem Herzen überzeugt, hatte sein Gemüt geprägt, seinen Glücksstern bestimmt.

Am 50. Geburtstag meines Vaters aber kam es bei den Festlichkeiten zu einem Eklat, der meine Oma als Lügnerin enttarnte. Zum runden Jubiläum hatte meine Tante sich ein ganz besonders Geschenk für ihren jüngeren Bruder einfallen lassen: die Ausgabe einer Berliner Tageszeitung, vom Tag seiner Geburt. Mein Vater war begeistert, meine Großmutter wirkte hingegen seltsam angespannt. Und bald zeigte sich auch warum – der Wochentag, der mit fetten Lettern auf der Zeitung prangte, war kein Sonn- sondern ein Montag.

Stein des Anstosses: Berliner Lokal-Anzeiger. (Foto: WP)
Mein Vater war ein sehr leidenschaftlicher Mann, das galt auch für seine Wut – und er wurde schrecklich wütend. Auf seine Mutter, die ihn belogen hatte. Auf seine Schwester, die ihm die Lüge aufgedeckt hatte, wenngleich unbeabsichtigt. Darauf, dass er ausgerechnet montags auf die Welt gekommen war, als würde mit diesem Wochentag etwas nicht stimmen. Auch meine Großmutter, eine kleine, energische Person, wurde wütend – auf meine Tante, natürlich, die doch nur das Beste im Sinn gehabt hatte. Und redete sich erbost raus, die zwei Minuten nach Mitternacht könne man getrost vernachlässigen.

Aber mein Vater blieb unversöhnlich. Denn es hatte ihm immer etwas bedeutet, diese Rolle des Sonntagskindes. Er hatte sein Leben darauf bezogen und jedes Glück, das ihm in all der Zeit widerfahren war. Nun fühlte er sich betrogen.

Bereits ein paar Jahre zuvor hatte mein Paps, noch sehr jung, den ersten Herzinfarkt erlitten, dem über die Jahre viele weitere Herzsorgen folgen sollten. Die Ärzte hatten meiner Mutter damals kaum Hoffnung auf sein Überleben gemacht; wir Kinder waren viel zu klein, um zu verstehen, was da passierte. Nur erschrocken, dass unser Vater plötzlich im Krankenhaus lag und dazu noch einen Rollstuhl brauchte, obwohl man uns doch erklärt hatte, sein Herz wäre krank. Aber das steckte doch nicht in seinen Füßen!

Mein Vater überlebte, fast schon zur Verwunderung seiner Ärzte. Die ihm gratulierten, als er verkündete, dies hier sei ab heute sein zweiter Geburtstag, weil ihm das Leben neu geschenkt worden war. Diesmal ist es ein Sonntag gewesen, tatsächlich, als er die OP überlebte und sich wieder einließ auf das Leben; doch noch ein Sonntagskind wurde, im zweiten Anlauf. Es war nur das erste von vielen Überlebensmomenten, die ihm und uns beschieden wurden; doch der letzte Infarkt hat sein schwach gewordenes Herz tödlich getroffen. Uns hat er überwältigt und die Sprache geraubt, weil wir so gewohnt waren, an sein Überleben.

Am Tag seines Todes saßen wir vier Kinder bei meiner jüngsten Schwester zusammen und beratschlagten, was nun zu tun sei. Weil dies doch alles war, das uns blieb – nun, da er von uns gegangen war: beratschlagen, entscheiden und Dinge erledigen, in seinem Namen. Als aber schließlich einer von uns damit anfangen wollte, notwendige Telefonate zu führen, da schüttelte mein Schwager den Kopf; und wir begriffen, noch bevor die Worte seinen Mund verließen, was er sagen wollte: „Geht nicht. Heute ist Sonntag.“

*


Freitag, 3. Januar 2014

Odenwald-Tapete: Eine elende Jugend


Es ist ein goldener Herbsttag in den späten Neunzigern. Ich bin in meinem Auto, einem alten, blauen Einsergolf, auf der B45, Höhe Shelltankstelle/Michelstadt in Richtung Zell unterwegs: Eltern frisch getrennt, Mutter langfristig im Krankenhaus, Liebeskummer und Abiturvorbereitung – es hatte schon bessere Zeiten gegeben. Da zwitschert dieser Typ im Radio, das Wochenende werde er im Odenwald verbringen: tolle Luft, schöne Landschaft, nette Leute, genau der richtige Ort, um sich mal zu erholen. Meine ganze Teenagerwut entlädt sich und ich brülle das Radio an, dass die Menschen im Odenwald von genau den gleichen Katastrophen heimgesucht werden wie im Rest der Welt, ob ihm das nicht klar sei? Es kommt eben immer darauf an, wo man wohnt und wo Urlaub macht; auch der Pazifik vor der Haustür schützt nicht vor Schicksalsschlägen.

Wer hat da was gegen den Odenwald gesagt?
Obwohl mir diese Szene so intensiv in Erinnerung geblieben ist, kann ich nicht sagen, eine besondere Haltung gehabt zu haben gegenüber der Gegend, in der ich aufwuchs – außer dass ich es als Kind toll fand, immer draußen zu sein, durch die Wälder zu streifen, Baumhäuser zu bauen. Mein Vater, ein Berliner, der sich in den Odenwald zunächst verirrte und dann verliebte, der hatte eine Haltung, konnte stundenlang schwärmen über das wunderschöne Fleckchen Erde, an den es ihn verschlagen hatte. Ich fühlte mich von meiner Umgebung weder besonders bedrängt noch beflügelt, kann aber sagen, dass ich mich unterm Strich wohlgefühlt habe. Natürlich wird es einem als Teenager zwischenzeitlich immer zu eng dort, wo man lebt, aber Heidelberg war nah, Frankfurt erreichbar und außerdem konnte ich schon damals das Gefühl nicht abschütteln, man nimmt doch all die inneren Kämpfe mit, egal wohin man geht – weil sie genau da sind: innen; der Odenwald hatte damit nichts zu tun.

Im Online-Feuilleton der F.A.Z. erschien an Neujahr nun ein Wutausbruch der Autorin Antonia Baum, in dem sie sich über diesen Odenwald ereifert, auf den sie dereinst „im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden“ ist und der sie, verkürzt gesagt, umgebracht hätte, wäre ihr Deutschlehrer nicht gewesen. Der Odenwald ist nämlich, erfährt der Leser, ein Ort, der für Heranwachsende nicht weniger als „ein Todesurteil“ bedeutet, ist „lebensgefährlich“ für den Kopf – und alles dort „eine Wand, gegen die man im Kopf den ganzen Tag dagegenrennt“.

Idylle sieht überall gleich aus. Auch im Odenwald.
Schon als Kind sei man diesem Ort „hilflos ausgeliefert“, erinnert sich Baum, selbst zeit ihrer Kindheit und Jugend „der Odenwalddurchschnittlichkeit Inhaftierte und mit (ihrer) Familie an diesem Ort total Deplazierte“, wobei jene Deplatzierung auch darin begründet zu sein scheint, dass die Menschen im Odenwald offenbar allesamt mit eher minderer Intelligenz ausgestattet sind. Besonders gilt das für die Jungs im jeweiligen Alter der Autorin, die sogar richtig dumm sind, „das konnte einem nicht entgehen, selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte“.

Die Gegend an sich sei im Übrigen eine schöne, das Problem die hässlichen Gebäude, erdacht und erbaut von Menschen, denen die Region wohl egal sein müsse; aber auch – das wird weniger klar benannt und spricht doch mit Macht aus den Atempausen zwischen den Zeilen – die Leute, die hier leben, ohne zu begreifen, sie müssten eigentlich fort.

„Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine einzige Chance. Die Familienoberhäupter waren Männer, die Frauen meistens zu Hause, die Männer schrien die Frauen an, wenn sie selbst versagt hatten, die Frauen ließen sich von ihren Männern anschreien, und beide, Männer wie Frauen, wollten in der Nachbarschaft einen gepflegten Eindruck machen. Es gab dekorative Vasen und Glasfiguren, modische Sitzgarnituren, Helmut-Kohl- Biographien und Mädchen, die Schlampen waren, wenn sie im Alter von fünfzehn Jahren häufiger den Freund wechselten.“

Die Kindheit und Jugend der Antonia Baum scheint eine elende gewesen zu sein und so, wie andere Menschen dafür ihre Eltern verantwortlich machen, wälzt sie die Verantwortung ab auf das, was sie im Heranwachsen umgab, ohne ihr Inspiration gewesen zu sein. Dabei ist sie leider furchtbar beliebig: Mit diesem Teenagerfrust im Bauch könnte man sämtliche Vorwürfe, die sie dem Odenwald macht, einfach jeder ländlichen Region in Deutschland (und überall auf der Welt) entgegenschleudern. Der Gedanke ist der Journalistin zwar offenbar auch kurzzeitig gekommen (der Odenwald ist „an Hässlichkeit und Traurigkeit eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind“), allein er ändert nichts daran, dass die Mittzwanzigerin auf ihrer Teenagerwut seltsam hängengeblieben scheint.

Es macht den Artikel aber zu allem auch noch furchtbar unoriginell, weil er wiederkäut, was schon oft beschrieben wurden: Die Wut Heranwachsender auf eine sie eng umschließende Ländlichkeit, in der einfach nichts passieren will – und auf die Weite eines Landkreises, die in diesem Alter gefühlt mehr Freiheit nimmt denn gibt, weil eben nicht im Minutentakt eine U-Bahn durch sie hindurchrauscht, um uns an einen anderen, vermeintlich besseren Ort zu bringen. Ob aber das alleine gefährlich ist für den Kopf, ein Todesurteil oder auch nur ein Alleinstellungsmerkmal des Odenwaldes darf, wie gesagt, bezweifelt werden.

Daneben hadert Baum mit der Frage nach einer Heimat. Man kann nun dem Begriff an sich misstrauen, sollte es auch oft genug – denn er ist missbraucht worden für Schrecklichkeiten, von denen man sich fernhalten muss, wenn einem der Kopf und das Herz funktionieren. Es nutzt aber nichts, all seine Angst vor den Dummen, Rechten und Unverbesserlichen diesem Wort aufzuladen, und zu glauben, man habe sie ausgetrickst, indem man es nicht mehr verwendet. (Man stelle sich zum Beispiel den Versuch vor, mit Peter Kurzeck, was ja leider nicht mehr möglich ist, über sein Werk zu sprechen, ohne den Begriff Heimat zu benutzen.)

Heimat – Home – Zuhause, rein emotional betrachtet wird damit zunächst lediglich ein Ort, Mensch oder Ding beschrieben, zu dem wir eine emotionale Verbindung haben, wohin wir zurückkehren können und wissen, wir werden erkannt und erkennen wieder. Das kann, wie Baum selbst schreibt, für Bücher gelten (in ihrem Fall darüber hinaus für ihre Kleidung und besonders ihr Bett), für Menschen oder Musik und natürlich auch Orte; solche, an denen wir aufgewachsen sind oder solche, an denen wir uns niedergelassen haben. So richtig konsequent wirkt Baum aber ohnehin auch mit dieser Skepsis nicht, da sie das Wort erst dem rechten Lager zuordnet und später munter weiter verwendet; Lektorate sind heutzutage eben überflüssiger Luxus.

Warum die F.A.Z nun einen Artikel veröffentlich, der das Spießertum bejammert, dabei aber mit den ausgelutschtesten aller Klischees über den ländlichen Raum und das, was es bedeutet, darin aufzuwachsen, hantiert, die man überhaupt zusammentragen kann, bleibt allein ihr Geheimnis. Die Verfasserin ist nebenbei übrigens Buchautorin, ihren Roman rezensierte die F.A.Z. einst mit folgenden Worten:

„Antonia Baums vollkommen lebloses Debüt, in dem eine junge Frau in Berlin nach der Liebe sucht, wird als neue deutsche Literatur verkauft. Was für ein Irrtum! Sapperlot! Welch eine Verzweiflung muss herrschen auf den deutschen Verlagsfluren, wo offenbar jedes noch so missglückte Debüt mit Handkuss angenommen wird.“

Das war Ende 2011, seit Februar 2012 arbeitet Baum laut Autorenvita für die Zeitung. Offenbar wurde ihr dort eine zweite Chance gegeben, vielleicht sollte sie selbiges mit dem Odenwald tun – nicht etwa dieser Region, sondern sich selbst zuliebe...


Der Originalartikel in der F.A.Z. – klick.
Der Odenwald(kreis) bei Wikipedia – klick, klick.
Peter Kurzeck über Heimat als Ort und Sprache – klick, klick.

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Dienstag, 17. Juli 2012

Tomorrow you'll still be here

Es ist heiß, die Sonne scheint. Um nicht zu sagen, sie strahlt. Und ich weiß nicht, ob das Trost ist – oder Spott. In meinen Gedanken: Kälte und das Licht eines Dezembernachmittages; Väter sterben, wenn Schnee fällt. Mütter verschwinden hinter der Sonne. Meine Hand hält und wird gehalten: It’s not how (far) you fall, it’s the way you land; ich stolpere, doch mir kann nichts passieren.

Damals, im Dezember, wolltest du in das offene Grab hinterher kippen. Ich konnte es in deinem Blick sehen, der mich an meinen eigenen erinnerte, zwei Winter zuvor. Dein Schmerz war so greifbar, dass er allen, die dich liebten, den Atem aus den Lungen presste; in kleinen, traurigen Wölkchen stieg er in den Himmel auf. Leere Blicke und kein Trost, kein Gott, kein Mittel gegen diesen Kummer.

„Schreibst du mir eine Geschichte, über Schorsch?“ In meiner Erinnerung wird der Schnee zu kaltem Regen. Die verdammte Grube ist irgendwo links unterhalb der Kapelle. Wir stehen in einer kleinen Gruppe, abgeschieden, unter uns, nah beieinander; ich schrieb die Geschichte in jenem Winter. Für dich, deinen Sohn und seine Frau.

Als ich nun auf die Blumen starre, die dich begleiten sollen auf dem letzten Stück deines viel zu kurzen Weges, wundere ich mich, dass die Grube viel weiter in der Mitte des Friedhofes liegt, als ich es erinnere – als ob derlei Details eine Rolle spielten. Dabei fällt mir deine Bitte wieder ein und ich hoffe, ich liege richtig, wenn ich nun ganz ungebeten dir diese Zeilen widme; wo immer sie dich erreichen. I'll hold your head my dear, make sure no one's gonna wake you.

Dinge, die mir einfallen, wenn ich an dich denke: deine Küche. Der Italiener in dieser kleinen Gasse, deren Namen ich vergessen habe. Dein Kleid mit den türkisenen Karos. Die Küche und der Ofen unterm Fenster, dazu Sekt. Fasching, mit meiner Mutter als Katze – oder Maus? Nina und ich als Chinesen, aber nicht im selben Jahr. Mohrle, die wilde Katze, die sich einfangen, aber niemals zähmen ließ.

Deine Küche und die vielen klugen, liebevollen Zettel. Das Buch vom Häschen, das fragt: „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?“ Das gelbe Bad mit der Stufe. Wiesenmarkt. Josy, die Katzendame, die sich einfangen ließ – und zähmen. Die Hollywoodschaukel im Garten deiner Mutter. „Schorsch, mach mir den Hengst!“ Der Tag, an dem Bashimba kam: Wir saßen alle mit den Hundebabys im Hof, dazu Pizza, Sonne, Sekt – und eine beschwipste Heimfahrt.

I hold your hand till you fall apart. (Foto: PW Braun)

Du warst kein Mensch, der sich verstellt. Hast die Dinge offen angesprochen, keinen Konflikt gescheut – und Kompromisse nur gemacht, wenn du an sie geglaubt hast. Du hast Streit ausgetragen und damit Platz gemacht für Versöhnung. „Ich kann aus meinem Herzen keine Mördergrube machen“, hast du mir geschrieben. Du warst mutig und stark für deine Menschen. Hast Ungerechtigkeiten nicht hingekommen. Gekämpft, wenn es darauf ankam. Bei dir durfte man sich sicher sein – du hast deine Menschen an allen Tagen aus jeder Situation gerettet, aus der sie Rettung bedurften. Du hast geliebt mit dem Herzen einer Löwin.

Mehr Dinge, die mir einfallen, wenn ich an dich denke: Silvester. Idefix, der krummbeinige Dackel, den wir Kinder im Schubkarren umhergefahren haben. Rotwein und jener Abend, an dem ich in Lauerbach übernachtete, weil wir etwas zu viel davon hatten. Die Beerdigung deiner Mutter; du hast die Trauer nicht versteckt, deinen Schmerz nicht verborgen. Please don’t cry, we’re designed to die. Der Tag, an dem du mir das Buch vom Häschen geschenkt hast. Jakob und die Pferde.

Die Küche und die blauen Dönig-Becher am Holzbalken. Jockel, der Minikater, der sich einfangen, aber nicht retten ließ. Deine liebevolle Ruppigkeit. Die Art, wie du deinen Körper durch diese Welt getragen hast. Der Abend, an dem mein Schoko-Nachtisch in deinem Backofen übergekocht ist. Der Dunnerschdach, das europäische Dorf, die eine Wiesenmarktszigarette. Die Hochzeit von Alex und Sarah, noch ein letzter Schnaps, das geteilte Hotelzimmer – „ach, Marjellchen“: Der Tod ist ein Arschloch mit gezinkten Karten. Tränen, Ratschläge und tröstliche Umarmungen. Telefonate. Urlaubsgrüße von der Nordsee. Geburtstagspost und Weihnachtskarten.

Und dann bist du gestorben, in einem Moment, der viel zu kurz war um zu begreifen, was passierte – die Zeit schien knapp, doch sie war bereits vorbei. Ein letztes Treffen, für das ich ewig dankbar bin. „Was machst du bloß für einen Scheiß?“ „Ich werde kämpfen.“ I hold your hand till you fall apart. Du aber hast tapfer lächelnd abgewunken – wolltest keine Hände, sondern Kummer fernhalten von denen, die du liebst; so warst du immer.

In den Herzschlägen deiner Menschen aber hat dich eine Armee von Händen begleitet. Die hängen nun ratlos an Körpern, durch die ein Strom von Trauer fließt. Dein Tod war schnell, das Begreifen aber braucht Zeit – und an manchen Tagen taucht das schmerzliche Vermissen auf wie ein wilder Boxer mit Tarnkappe, gegen dessen unbarmherzige Faustschläge es keine Verteidigung gibt. Leere Blicke und kein Trost, kein Gott, kein Mittel gegen diesen Kummer.

Doch da ist die Hand, die meine hält. Ein Pfarrer, der tatsächlich die richtigen Worte findet. Da sind die stummen Gesten des Trostes zwischen deinem Sohn und deiner Schwiegertochter. Die Strahlen der Sonne in der Kapelle. All die Menschen, fremd und vertraut, vereint in ihrer Trauer um dich. Da ist das ahnungslos, glückliche Glucksen deiner Enkelin. Ein Versprechen von Zukunft aus der gemeinsamen Erinnerung. Die Nordsee, gerade jetzt, genau richtig.

Es ist eine traurige Erkenntnis im Erwachsenwerden, dass wir mit dem Tod eines geliebten Menschen zu leben lernen. Trauriger noch, wenn der unschuldige Glaube daran stirbt, in einer Welt ohne unsere Eltern nicht überleben zu können. Ich meine, natürlich kannst du versuchen, es zu verstehen. Du kannst mitfühlen. Aber – bevor du diesen Verlust nicht selbst erlebt hast… Doch daraus wächst auch ein wertvolles Verständnis. Nein, es gibt keinen Weg zurück – nur den Blick nach vorn. Auf einen Weg, bei dem ihr uns nicht begleiten könnt; und doch bleibt ihr  an unserer Seite. Erklären lässt sich das nicht; aber spüren: Wir sind sicher in eurem Schutz.


Zitate:
1 – Boy
2 – Soulsavers
3 – Boy
4 – Wilco
5 – Self
6 – Get Well Soon
7 – Grey's Anatomy

*

Freitag, 8. Juni 2012

Schwimmen in den Gezeiten

Die Nacht, in der mein Vater starb, machte den Samstag zum Sonntag. Ich wollte ihn besuchen am nächsten Tag, und bei unserem letzten Telefonat hatte er mir stolz berichtet, nun hinge auch die letzte Lampe in seinem neuen Heim. Dass er den guten Rotwein aus dem Keller geholt hatte, für unseren Abend. Mir im Gästezimmer seines Häuschens das Bett gerichtet. Eigentlich sei das ohnehin mein Zimmer, da ich von den vier Kindern am weitesten weg wohnte: Sicher würde ich deswegen häufiger über Nacht bleiben als die anderen, die bequem in ein paar Minuten daheim waren. Und keiner bleibt allein. Dann hatten wir kurz geschwiegen, gerührt davon, wie gut und schön alles war.

Als das Telefon klingelte, in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag, war ich noch wach. Am anderen Ende der Leitung erkannte ich meinen Schwager, und weil er vom Telefon meiner Schwester anrief, um diese späte Zeit, bekam ich einen furchtbaren Schreck, ihr könnte etwas passiert sein. „Nein, alles okay. Aber dein Vater hatte einen Herzinfarkt.“ Da war ich zuerst noch erleichtert. Denn das Herz meines Vaters schlug unruhig, seit 21 Jahren. Damals hatte er den ersten Herzinfarkt gehabt und seitdem, mit der Regelmäßigkeit von Schaltjahren, muckte der lebensstiftende Muskel in seiner Brust immer wieder auf.

Wir Kinder hatten uns auf seltsam unaufgeregte Art und Weise daran gewöhnt. Unser Paps strahlte einen unerschütterlichen Glauben an seine eigene Unsterblichkeit aus, und wir zweifelten diesen Glauben nicht an, sondern teilten ihn längst – und vermehrten ihn so scheinbar noch. Nur langsam, ganz langsam begriff ich, dass diesmal alles anders war. Endgültig. Weil sich das Vaterherz nicht bloß verschlagen hatte, nicht nur aus dem Takt gekommen war – sondern Stille eingekehrt in seiner Brust.

Wir vier Kinder trafen uns zuerst bei der jüngsten Schwester, am ersten Tag im Leben ohne unseren Vater. Berieten uns, trösteten. Zankten auch ein wenig, darüber, was wie zu lösen sei. Wir fuhren ins Beerdigungsinstitut, suchten einen Sarg aus. Ein Kissen, für seine letzte Ruhe. Formulierten den Text der Todesanzeige. Heulten einander gegenseitig in die Hemdsärmel. Bestimmten einen Anzug, in dem er beerdigt werden sollte. Wir fuhren zu seinem neuen Haus, das wir mit ihm gerade erst fertig eingerichtet hatten. Die Kleider, die er am Vorabend ausgezogen hatte, bevor er das Haus zum Tanzen verließ, lagen im Schlafzimmer. Alles sah aus, als wäre er nur kurz Brötchen holen; das ganze Haus roch lebendig nach ihm.

Niemand konnte etwas sagen, das tröstete. Wer mir vom Tod seiner Großeltern erzählte, davon, wie einschneidend das gewesen sei, den warf ich sofort aus meiner Wohnung. Wer mir erklärte, mein Vater hätte nicht gewollt, dass ich so leide, durfte nur zwei Minuten länger bleiben. Hatte ich alle abgewiesen und rausgeworfen, fühlte ich mich verlassen. Versuchte, mich nützlich zu machen, indem ich Schreibkram erledigte, den mein Vater hinterlassen hatte. Und wollte dabei doch nicht zu schnell sein, weil es schien, als verschwände er mit jedem zugeklebten Briefkuvert ein wenig endgültiger.

Ich bekam viele traurige Geschichten zu hören in dieser Zeit. Wenn ich davon erzählte, dass mein Vater gestorben war, schien das bei Menschen, die selbst schon einen ähnlichen Verlust erlebt hatten, ein Ventil zu öffnen, und ihre Erlebnisse im Umgang mit der eigenen Trauer wurden hervorgespült. Ich war dankbar für diesen Reflex, weil die Geschichten mich ablenkten von den eigenen Tränen, und weil ich im Trost, den ich anderen spendete, auch wieder Hoffnung fand für mich selbst.

Trauern ist wie Ebbe und Flut. Und ich bin es, die in den Gezeiten schwimmt und sich mit ihnen arrangieren muss, weil ich es bin, die noch am Leben ist. So lerne ich mit der Zeit, meinen Vater loszulassen, ohne dabei Angst davor zu haben, dass ich ihn damit verliere. Erfahre das Glück, wenn die Erinnerung zärtlich wird, statt immer nur schmerzhaft zu sein. Und kann mich auch wieder an Streitigkeiten mit meinem Paps erinnern, ohne in Tränen auszubrechen. Denn ich brauche mir nicht vorzumachen, alles zwischen uns sei perfekt gewesen; das ist es nie.

Etwas von mir hat aufgehört zu existieren, in der Nacht als mein Paps gestorben ist. Da ist eine Wunde zurückgeblieben, die sich niemals richtig schließen wird. Und manchmal, wenn das Wetter umschlägt, ziept sie besonders, im Vermissen. Doch gleich daneben ist auch etwas Neues entstanden. Eine Kraft, aus der Liebe, die er zurückgelassen hat. Und das Wissen darum, dass zwar nicht alles gut wird, es aber immer weiter geht, wenn man sich nur traut.

*

 

Sonntag, 9. Mai 2010

Land of Milch and Horror

when ihr so eine
weapon habt
then shoot you
in the fuß
of blood
the letzte gruß

denn soon
wird sie euch
weggeschnappt
who wäre wohl
so dreist
the Gott der
father heißt…

*



Mittwoch, 5. Mai 2010

Ich tausche alles was ich bin und war, gegen ein Leben ohne Angst


Diese Träume waren nicht groß genug,
doch was dir fehlte ist unterm Strich –
nur ein lachendes Gesicht auf der anderne Seite dieses Spiegels.
Ein bisschen Stolz auf deinen Schultern, denn das steht dir gut.
Das seltsame Gefühl, dass all dein Glück nicht unverdient ist.
Der alte Glanz in deinen Augen – 
und ein bisschen Mut.



[Gisbert zu Knyphausen]

*



Montag, 29. März 2010

Youth is wasted on the Young

Close your eyes so you dont feel them
they don't need to see you cry
I can't promise I will heal you
but if you want to I will try



[Robbie Williams: Eternity]

*



Donnerstag, 18. März 2010

Licht bricht, wo keine Sonne scheint


Wo kein Meer wogt,
drängt das Herzwasser
seine Gezeiten herein.


Freitag, 12. März 2010

A Cold War Kid


And in that bright October sun
We knew our childhood days were done
And I watched my friends go off to war
What do they keep on fighting for?


[Billy Joel: Leningrad] 

*

 

Freitag, 26. Februar 2010

Haltestelle meines Herzens


Heimat 
ist wie Liebe:
unbeschreiblich
und nur erfahrbar.


[Ottfried Fischer]

*



Samstag, 30. Januar 2010

Dein letzter Tanz

Niemals werde ich die Stille der Nacht vergessen, in der du gestorben bist. Wenn ich die Augen schließe rieche ich den Schnee – und alles ist wieder da. Ich war noch nicht lange Zuhause, als das Telefon klingelte. Nachts um zwei, ein gutes Zeichen ist das selten. Es war die Nummer meiner kleinen Schwester, die mir aus dem Display des Handys entgegenfunkelte, doch als ich das Telefon abnahm, grüßte mich die Stimme ihres Mannes. Spätestens da wusste ich, dass etwas passiert war, sein musste; konnte nur noch nicht ahnen was.

Ob mit meiner Schwester alles in Ordnung sei, wollte ich wissen, gepresst verließ die Frage meinen Mund, ängstlich. Ja, alles gut. Aber? „Dein Vater hatte einen Herzinfarkt.“ Fast erleichtert war ich in diesem Moment, was seine Worte bedeuteten habe ich nicht begriffen. Denn dein Herz schlug unruhig, seit einundzwanzig Jahren. Mit der Regelmäßigkeit von Schaltjahren, muckte der lebensstiftende Muskel immer wieder auf – und ich habe nicht verstanden, warum mein Schwager so schrecklich ernst klang. Kannte er denn deine Krankenakte nicht?

Bis dann seine Antwort auf meine Frage fiel, wo ich hinkommen sollte, in welchem Krankenhaus an deinem Bett sitzen. Schimpfen, liebevoll. Dir die Zigaretten aus dem Nachttisch klauen. „Du brauchst nirgendwo hinkommen. Er ist tot, Mara.“ Und ich unendlich langsam begriff, dass dein Vaterherz sich diesmal nicht bloß verschlagen hatte, nicht nur aus dem Takt gekommen war – sondern Stille eingekehrt war in deiner Brust.

Solange ich denken kann, bist du immer wieder krank gewesen. Dass du irgendwann sterben musst, stand für uns trotzdem nie zur Debatte. Wir Kinder hatten gelernt, mit deinen Krankheiten zu leben, weil alles andere bedeutet hätte, daran verrückt zu werden. Du, der unverbesserliche Optimist, hattest uns beigebracht, ihnen lachenden Auges entgegenzutreten. Deswegen wussten wir, dass du alles überleben kannst. Mochte dein Herz auch eine organische Schwäche haben, sie wurde zig Mal ausgeglichen durch seine liebende Größe.

Denn wie kann ein Herz, das so tief und aufrichtig liebt, dermaßen schwach sein und schließlich brechen. Wie kann der Ort, der dich so lebendig macht, der gleiche sein, der dich tötet?

Die Menschen, die auf dem Fest waren, das dein letztes werden sollte, wussten hinterher viele Geschichten über deinen Tod zu erzählen. Die schönste war, du hättest einen Witz erzählt, Zigarette in der einen Hand, Bier in der anderen, bevor du plötzlich einfach umgefallen bist. Keine davon erwies sich als wahr, doch sie trugen in sich die positiven, frohen Bilder, die alle, die dich gekannt haben, von dir hatten.

Dein bester Freund hatte dich eingeladen an jenem Abend. Auf deiner Beerdigung stand er vor uns, die Tränen in seinen Augen dunkel und feucht. „Es tut mir so leid!“ Doch es gab nichts, wofür er sich zu entschuldigen hatte. Vielmehr schuldeten wir ihm Dank, dafür, dass er dich auf das Fest gebracht hatte. Denn du hast zwar keinen Witz erzählt, als du gestorben bist. Doch dein Herz ist froh und ausgelassen gewesen. Du hast getanzt und Rotwein getrunken, gefeiert und viel gelacht. Als dein Freund das Fest verlassen wollte, kamen just zwei junge Frauen an euren Tisch, um euch aufzufordern. „Den nehmen wir noch mit!“, hast du da gesagt. Es sollte dein letzter Tanz werden.

Die Ärzte, die zu dir geeilt kamen, als du beim Verlassen der Tanzfläche umgekippt bist, konnten dich nicht retten. Dein warmes, liebendes Herz war zu müde geworden zum Kämpfen, und hat in dieser Nacht für immer aufgehört zu schlagen. Zuvor aber ist es tanzen gewesen. Und so durftest du sterben, wie du immer gelebt hast: lachend, liebend – und irgendwie glücklich.

***


Du fehlst, in jedem Lachen, jeder Träne…

*

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Weihnachtswerkstatt


Als meine Schwester und ich kleine Mädchen waren, gab es zu Weihnachten jedes Jahr wundervolle, selbstgebastelte Geschenke. Es ging bereits Anfang Dezember damit los, dass wir jeden Tag eine kostbare Kleinigkeit aus dem Adventskalender enthüllten – und setzte sich unterm Weihnachtsbaum fort. Was gab es da nicht alles zu entdecken: einen Backofen mit Blechdosen als Herdplatten, Puppenbetten, deren Deckchen mit denselben Stoffen bezogen waren wie unsere eigenen Kinderbetten, Schränke, Tisch und Hocker für die Plüschfamilien. Und irgendwann sogar ein echtes Puppenhaus, das sah aus, wie unser eigenes.

Für all diese wundervollen Basteleien war unser Vater verantwortlich; abgesehen von allem, was mit Nadeln gestrickt oder an der Nähmaschine entstanden war, dahinter steckte unsere Großmutter. Die, bei der wir nach meiner Erinnerung selten öfter waren als einmal im Jahr: am zweiten Weihnachtsfeiertag. Um Geschenke abzuholen und Schokoladenkringel direkt aus dem Baum zu essen. Mit glücksverschmierten Gesichtern, da es so etwas bei uns nicht gab.

In seiner Weihnachtswerkstatt hatte unser Paps heimliche Helfer. In der Adventszeit ging an jedem Wochenende, kurz nach Anbruch der Dunkelheit, ein Licht in seiner Bastelstube an. Meine Schwester und ich konnten es sehen, denn die Holzwerkstatt war gegenüber unserer Wohnräume, auf der anderen Seite der Terrasse – und ab Ende November hingen wir jedes Wochenende ab dem späten Nachmittag im Wohnzimmer auf der Couch, und warteten auf den plötzlich aufflackernde Schein.

Oder, um ehrlich zu sein, warteten auf die Engel, denn wir hofften vor allem, einer von ihnen möge unaufmerksam genug sein, damit wir auch nur einem seiner Flügelschläge gewahr werden könnten. Die Engel waren es, die das Licht in der Papi-Werkstatt anmachten, um ihm zu signalisieren, dass sie nun Zeit hatten, ihm bei unseren Weihnachtsgeschenken zu helfen.

„Wieso dürfen wir nicht mal mitkommen, die Engel begrüßen?“, fragten wir Mädels meinen Vater, hüpften und sprangen um ihn herum und bettelten, er möge uns mitnehmen in seine Werkstatt. „Weil die Engel der Weihnacht sich den Kindern nicht zeigen“, sagte er sanft, strich uns über die blonden Schöpfe und verschwand, um stundenlang zu basteln, zu sägen und zu schrauben, in der kleinen, holzstaubigen Werkstatt, die den Rest des Jahres ihren Zauber für uns Mädchen nicht verlor.

Einen Tag vor Weihnachten hatte unsere Kinderfrau Geburtstag und jedes Jahr übernachteten meine Schwester und ich dort vom 23. auf den 24. Dezember. Unsere Eltern holten uns erst am frühen Nachmittag für den Kindergottesdienst ab und wir wussten, diese letzten Stunden vor dem Heiligen Abend gehörten meinem Vater und den Engeln. Während meine Mutter das Essen vorbereitete und letzte Plätzchen buk, stellten sie die Geschenke fertig und ich war mir sicher, dass unser Paps den Engeln die Weihnachtstanne aufstellte, da sie selbst nicht kräftig genug dafür waren.

Während wir vier anschließend in der Messe saßen, gesellte sich daheim das Christkind zu den Himmelsboten und half ihnen, unseren Baum zu schmücken. In jedem Jahr wurden sie fertig, kurz nachdem wir aus der Messe nach Hause zurückkamen – das Klingeln ihres kleinen Glöckchens bedeutete uns den Moment, da wir das Weihnachtszimmer betreten durften, zum ersten Mal den Baum sehen, der uns ehrfürchtig machte und glücklich.

Mein Vater freilich war in dem Moment nie dabei, er eilte uns voraus unter den Christbaum, um sich bei den Engeln noch einmal für ihre Hilfe zu bedanken. Wenn er zu uns zurücktrat, dann strahlte er, wie bezaubert – und auf seinen Schultern funkelte der sanfte Goldstaub der Himmelsboten.

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Später irgendwann, in ein paar Jahren, werde ich am Ende jedes Novembers losziehen und Zeitschaltuhren kaufen. Ich werde dem Mann, der dann der Eine sein wird, der meine, im Winter eine Hütte in unseren Garten stellen, in der an jedem Sonntag gegen Nachmittag das Licht angeht – und unsere Kinder werden glücklich und rotbackig durchs Wohnzimmer hüpfen und rufen, „Papi, die Engel sind da!“

Und der, der ihnen so gerne der weltbeste Opa gewesen wäre, wird auf seiner schneebedeckten Himmelswolke sitzen und nicken – und er muss es wissen. Denn er wird sie uns von dort oben schicken, jedes Jahr. Damit sie unsere Weihnachtszeit mir ihrem sanften Glanz erleuchten. Und wird so bei uns sein, unter jeder Tanne, in jedem Wohnzimmer und an jedem Weihnachtsfest.

*



Montag, 16. November 2009

Willst du gehen, lass mich vor dir sterben

Weißt du wie man einfach verschwindet,
wie gut die Zeit mir dir verrinnt
die uns bleibt, bis wir gehen, 

lass mich vor dir sterben…


Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Nachbarin oft auf mich aufgepasst, eine Frau mit einem Herzen, in dem Platz ist für die Welt und mehr. Für mich hieß sie „Tante Ilse“ und ich mochte es gerne, Zeit bei ihr zu verbringen. Es ging dort nicht streng zu, sondern warm und herzlich; außerdem konnte sie den besten Streuselkuchen der Welt backen und im Garten hinter ihrem Haus stand eine große Schaukel, auf der sie mich bis in den Himmel schubste. Mit ihr in dem kleinen Häuschen, das immer ein wenig verwunschen wirkte, wohnten ihr Mann –„Onkel Karl“, nachdem ich damals meinen Lieblingsplüschtier benannt habe – und ihr Sohn Wolf, der einmal vor Jahren, als junger Kerl, im Übereifer das neue Auto meines Vaters gegen die Grundstücksmauer gesetzt hatte. Unterm Dach, in einer kleinen Wohnung, die ich vor allem als Farbe erinnere – grün – wohnten Tante Ilses Eltern.

Die beiden hätte ich als kleines Mädchen stundenlang beobachten können. Selten habe ich in meinem Leben zwei Menschen gesehen, die so zärtlich, so liebevoll waren im Umgang miteinander. Mehr als ein halbes Jahrhundert Ehe hatte die Grenzen zwischen den beiden weggewaschen und sie waren Eins geworden in ihrer aufrichtigen Zuneigung füreinander. Die Liebe, die Ilse an die Welt verteilte, hatte sie federleicht gelernt von diesen Zweien.

Jahre später, als ich schon aufs Gymnasium ging, wurden beide fast gleichzeitig krank und schließlich bettlägerig. Wolf war damals längst ausgezogen – so wurde aus seinem früheren Kinderzimmer eine Krankenstation. Ich weiß noch, dass Ilse und Karl damals zwei echte Krankenhausbetten anschafften, in denen man aufrecht sitzen konnte und an deren Rand sich ein Tablett befestigen ließ, und über den Betten hin- und her bewegen.

Ich bewunderte Ilse dafür, wie sie sich um ihre Eltern kümmerte. Einen kranken Menschen rund um die Uhr zu versorgen zehrt mit der Zeit an den Kräften, auch wenn man ihn noch so liebt. Doch da war nichts Leidendes an ihr, keine stumme Fügung, fast strahlte sie so etwas wie ein stilles Glück darüber aus, ihren Eltern nun von der Liebe, Geduld und Energie zurückgeben zu können, mit der sie selbst einst von ihnen beschenkt worden war. Ab und an besuchte ich die beiden Alten nach der Schule oder am späteren Nachmittag, wenn alle Hausaufgaben erledigt waren. Dann saß ich zwischen ihren Betten und sie wollten ganz genau wissen, was in der Welt außerhalb ihres kleinen Zimmers geschah.

Mit der Zeit ging es beiden immer schlechter und ich begriff langsam, dass dies kein vorübergehendes Tief war: Sie würden sterben, beide. Der Gedanke traf mich kalt und unvermittelt – mit dem Tod war ich in meinem jungen Leben bisher noch nicht in Berührung bekommen, nun riss er sein fürchterliches Maul auf und der Gestank, der mir daraus entgegenschwappte, ängstigte und verstörte mich. Bei einem meiner Besuche schlief Ilses Vater noch, als ich kam. Ich wollte mich bereits wieder aus dem Zimmer schleichen, um ihn nicht zu wecken, aber da winkte seine Frau mich zu sich und deutete mir an, ich solle mich neben sie setzen. Ihr Atem ging schwer und sie wusste längst nicht mehr, wie sie sich legen sollte, da ihr Körper voll wunder Druckstellen war. Aber ihre Augen waren immer noch so strahlend und wach wie vor all der Zeit, als ich sie als kleines Kindergartenmädchen kennengelernt hatte.

Sie sprach leise und flüsternd, setzte ihre Worte dabei genau – und ich spürte den Ernst, der sanft über der Situation lag, auch wenn ich ihn vielleicht damals noch nicht vollständig begreifen konnte. „Weißt du, was er heute gesagt hat?“, fragte sie mich, den Blick zärtlich ihrem schlafenden Mann zugewandt. Ich schüttelte stumm den Kopf. „Ich soll ihn nicht alleine lassen.“ Sie lächelte mich an mit einer Kraft, die den Raum erhellte. „Ich hab ihm versprochen, dass ich bleibe, bis er gegangen ist.“ Dabei hielt sie mich, mit ihren alten, faltigen Händen, die schon so viel Kummer hinweggetröstet und Liebe verteilt hatten – und aus denen immer noch tiefes, ehrliches Glück über dieses Leben zu mir übersprang.

In derselben Nacht ist ihr Mann gestorben. Tante Ilse rief nachmittags bei uns an und sprach die Worte gefasst, „mein Vater ist jetzt tot“. „Wie geht’s deiner Mutti damit?“, fragte mein Paps – und ich hörte Ilses Stimme aus dem Hörer rauschen, wie sie sagte, ihre Mutter sei sehr gefasst und: „Ich denke, sie bleibt noch ein bisschen bei uns.“ Am nächsten Morgen wurde ich geweckt durch das Klingeln des Telefons. Alle außer mir schienen noch zu schlafen, doch ich konnte mich nicht überwinden, den Anruf entgegen zu nehmen. Ich wusste doch ohnehin schon, wer es war – und warum.


Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt, 
schreit den Namen meines Vaters, der mich machte 
zu einem glühenden Verehrer der Sachen des Lichts. 
[Tomte – Schreit den Namen meiner Mutter]


*



Samstag, 3. Oktober 2009

Meine Einheit: Splitter

Nachrichten schauen mit meinem Vater: „Papi, wann kommt wieder der Mann mit dem Ei auf dem Kopf?“ Und er, bei jedem Auftritt von Gorbatschow, lässt sich die geschlossene Faust auf den Vorderkopf plumpsen, öffnet sie langsam, macht dabei ulkige Geräusche und zieht sie in Richtung Stirn. Ich sitze auf einem unserer schwarzen Sofas und lache mich kringelig. In meiner Erinnerung ist es das hinten an der Wand, er sitzt links, mit dem Rücken zu mir, doch wenn er das Ei platzen lässt, dann dreht er sich in meine Richtung, lachend.

Diese Heiterkeit bei den Nachrichten ist neu. Mein Vater ist ein aufmerksamer, interessierter, inhaltlich engagierter Nachrichten-Schauer, der nicht gestört, nicht unterbrochen werden will, während die Neuigkeiten aus aller Welt in unserem Wohnzimmer landen. Bis dann, plötzlich, der Eier-Witz. Und mein Vater, der immer sagt, die Mauer werde fallen. Meine Mutter, die hinter uns durch die Wohnung wuselt und sagt: „So ein Quatsch.“ Das sagen die meisten Freunde und Bekannten, wenn es bei Einladungen meiner Eltern auf das Thema kommt: Die Mauer fällt nicht.

Erklärstunden vor dem Fernseher: Was ist die DDR, wie kam die Mauer zwischen den Osten und den Westen. Mein Vater, der früh die Hoffnung hat, sein Berlin könne wieder Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands sein. Ich erinnere meine Gänsehaut bei den Montags-Demos. „Wir sind das Volk!“ Ich erinnere Auftritte von Politikern, Kohl, Genscher – aber niemanden so intensiv wie Gorbatschow. Bilder aus den Kirchen, im Osten, ewige Debatten, irgendwann auch meine Mutter, mit auf der Couch: „Ob die Mauer wohl fällt?“ Bilder vom Tag der Grenzöffnung, von drängenden Menschenmassen, Reportern, die ihre Mikros in die Menge halten; Tränen in den Augen meiner Eltern. Und dieses absurde Gefühl, etwas geschafft zu haben.

In die Bilderkette reiht sich nahtlos David Hasselhoff, in dieser absurd blinkenden Jacke, der „Looking for Freedom“ singt, umringt von Menschen. Mein Bruder, der nach Berlin reist und mit Mauerstücken für alle zurückkommt. Mein Besuch bei der bislang unbekannten Brieffreundin in Eisenach, die Postkarte an meine Eltern: „Anja und ihre Familie sind sehr nett, aber hier riecht es komisch!“ Ausflüge durch den Osten, der Wartburg, an dem beim heißen Ritt über die Landstraße eine Tür auffliegt. Das fremde Licht der Straßenlaternen, nachts, das bis unter meine Decke im Hochbett fällt.

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Montag, 31. August 2009

My personal Diana

Am 31. August 1997 starb, in einer sternenklaren Nacht, auf dem Weg von Erbach im Odenwald ins niederländische Edam die Prinzessin von Wales. Ich hatte damals den ersten ernstzunehmenden Liebeskummer meines Lebens und war noch einige Jahre entfernt von der Erkenntnis, dass durchfeierte Nächte Probleme nur kurzzeitig verschwimmen lassen, nicht etwa lösen. Auch, dass der Konsum von rund dreißig Zigaretten am Tag nicht meine Stimme sexy werden, sondern das Krebsrisiko ansteigen lässt, ignorierte ich erfolgreich. Zumal der schmerzlich vermisste Ex die kleinen Glimmstängel hasste – und sie deswegen umso besser in meine Spätteenagerlogik passten.

Meine Schwester war mit unserem Paps verreist in jenem Sommer, die Mutter zur Kur. Ich nutze meine ungewohnte Freiheit auf alle erdenklichen Weisen. Tage verschlafen, Nächte durchfeiern, Frühstück im Bett, Liebeskummerheulkrämpfe in jeder Ecke der Wohnung. Fernseher auf dem Zimmer, Papis Zigaretten im Kirschbaum und Dauertelefonate im Liegestuhl auf der Terrasse. Außerdem lud ich permanent alle Menschen ein, die ich kannte, dazu etliche, die ich nicht kannte, versaute meinen Eltern 20 Jahre Nachbarschaftspflege binnen weniger Nachtstunden – und gab das Geld aus meinen Ferienjobs für billiges Bier und Tiefkühlpizzen aus.

Als ich an einem dieser Partyabende mit meinen Mädels hinterm Haus in der Wiese lag und Sternschnuppen zählte, kam uns die Idee, zu verreisen. Einfach abhauen, das klang so unglaublich verwegen, dass wir uns in den Plan verliebten, noch bevor er zu Ende geschmiedet war. Am nächsten Abend, einem Samstag, wollten wir los. „Holland“, schlug ich vor. Und nannte, weil ich das auf seine Weise romantisch fand, einen kleinen Zeltplatz, von dem ich wusste, der vermisste Ex hatte ihn kürzlich erst bereist.

Das wussten natürlich auch meine Mädels, doch weil dieses Alter seine eigene Logik hat, in der wir uns alle einig waren, äußerte niemand Protest oder machte einen Gegenvorschlag. Am nächsten Abend packten wir meinen blauen Golf voll mit Zelten, Taschen und Bier und hinterließen unseren Eltern Zettel an den Kühlschränken, die verkündeten: „Wir sind dann mal in Holland.“ Unterwegs sammelten wir eine weitere Freundin von einer Party ein, die auf der Rückbank sofort tequilaseliger Schlaf übermannte – und los ging das Abenteuer. Es war der 30. August 1997.


„Mach mal lauter!“, erklang es plötzlich vom Rücksitz. Ich kann mich an den Streckenabschnitt erinnern, auf dem wir gerade unterwegs waren. Ich sehe die Bäume am Wegrand neben uns vorbeiziehen in der sternenklaren Nacht, die viel zu hell war. Julia erwachte aus ihrem Schnapskoma, Sanne drehte am Radio und Nadine schob ihren Kopf in die Lücke zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und erklärte: „Irgendwas hat der gesagt mit Lady Di.“

Das, was der Sprecher im Radio gesagt hatte, war, dass Lady Diana, Princess of Wales, und ihr Lebensgefährte, Dodi al Fayed, in einem Tunnel in Paris verunglückt waren. Genauere Einzelheiten waren noch nicht bekannt, lediglich von überhöhter Geschwindigkeit und einem eintreffenden Krankenwagen war, nach meiner Erinnerung, von Anfang an die Rede. Im Auto hing atemlose Stille. Von uns vier Mädchen hatten drei Mütter oder Omas mit starkem Hang zur Klatschpresse, wir waren mit den Bildern der Prinzessin aufgewachsen. Als sie 1981 den englischen Thronfolger geheiratet hatte, war meine Schwester geboren worden, als im darauf folgenden Jahr ihr erster Sohn auf die Welt kam, hatte meine Mutter mir die Bilder gezeigt. Beim zweiten Kind konnte die erste von uns schon die Bildunterschriften lesen. Es gab keine öffentliche Person, von der wir uns über die Jahre eingebildet hatten mehr zu wissen als Lady Di. Sie war bereits länger das Gesicht des englischen Königshauses als Kohl deutscher Kanzler – daran hatte auch die Scheidung nichts geändert. Wir kannten die Prinzessin. Jede von uns.

Die nächsten Stunden klebten wir am Radio. Alle dreißig Minuten verkündete uns der Sprecher Neuigkeiten über den Zustand der Unfallbeteiligten. So erfuhren wir sehr schnell, dass Dodi den Unfall nicht überlebt hatte und es flossen die ersten Tränen, um die traurige Prinzessin, deren Schicksal ihr das Glück dieser neuen Liebe nicht gönnte. Diana war indes ins Krankenhaus gebracht worden und wurde operiert. Wir dachten an die kleinen Prinzen, an den untreuen Ehegatten, seine böse Geliebte – und fieberten mit, als säßen wir vorm Operationssaal. Der Diana-Glorifizierungsmodus hatte uns bereits ergriffen, als die Prinzessin noch zwischen Leben und Tod schwebte.

Dieser Zustand hielt mehrere Stunden, bis sie schließlich, kurz vor der niederländischen Grenze, ihren Verletzungen erlag. Wir saßen bizarr berührt miteinander vor dem Radio, draußen flog die Landschaft vorbei und die ersten Hände fielen in Handtaschen und fingerten im Dunkel nervös nach Zigaretten, die wir auf den Schock rauchen mussten. Die Tatsache, dass wir, zwar nicht vor Ort, aber dennoch irgendwie live dabei gewesen waren, irritierte uns: Es war, als hätten wir gegenüber dem Rest der Welt einen Wissensvorsprung – einen, der uns quälte. „Krass“, sagte Julia nach einer gefühlten Ewigkeit und ihr Schnapsatem entleerte sich mit einem Rülpsen, bevor sie wieder einschlief. Nadine fing an zu heulen, ich stellte mir die ganze Zeit vor, wie Charles mit hängendem Kopf ins Schlafzimmer seiner Söhne schlich und musste trocken schlucken, beim Gedanken an die fremden Jungs. „Ich frag mich ja bloß, wer jetzt auf die Titelseiten von diesen ganzen Zeitschriften soll?“, wunderte sich Sanne und Nadine schluchzte noch lauter. Wir fühlten uns, als hätten wir einen guten Freund verloren.

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Zwölf Jahre später ist der Hype um die Prinzessin kleiner geworden, doch regelmäßig zu ihrem Todestag taucht das immer noch vertraute, junggebliebene Gesicht in den Medien auf. Ich feiere wider besseres Wissen immer noch die eine oder andere Nacht durch und Charles hat seine Camilla geheiratet. Das Rauchen habe ich bereits dreimal aufgegeben, zuletzt vor drei Jahren – und bin guter Hoffnung, diesmal wird es halten. Aus den kleinen Prinzen sind erwachsene junge Männer geworden. Mein Herz hat andere Männer geliebt, verstoßen oder vermisst und die Mädels, neben denen ich heute im Sommer in der Wiese liege und Sternschnuppen zähle, sind andere geworden – ebenso wie die Gesichter auf den Magazincovern.

Ein Ereignis wie der Tod der unglücklichen Prinzessin bleibt uns nicht selbständig im Gedächtnis, sondern gekoppelt an die Situation, in der wir zu dem Zeitpunkt steckten. Das Gesellschaftsgeschehen verbindet sich mit der individuellen Vita, schon allein das ist Grund dafür, warum eine den Prinzessinentod im Gedächtnis behält, ein anderer eher den Absturz einer Boeing, zwei Tage vor dem eigenen achtzehnten Geburtstag. „Das war die WM als ich mit Jochen zusammen war!“, oder: „Bei der Beerdigung hat Bine mich begleitet!“ – so strukturieren wir Erinnerungen. Das kollektive Gedächtnis hält Stützpfeiler für das persönliche, emotionale bereit.

Der Sommer in dem Lady Di starb, war unser letzter Schul- und Jugendsommer, bevor wir uns aufmachten in die Welt. Er war der Sommer meiner ersten Liebesversuche und der, den wir gefühlt zu 67 Prozent in meinem blauen Golf verbrachten. Der Sommer, in dem Julias Schwester nach England zog, wir Sanne ein um Monate verspätetes Geburtstagsgeschenk machten – und Nadine zum ersten Mal das Meer sah. Es war der Sommer, in dem wir noch einmal intensive Zeit miteinander verbrachten, bevor uns im darauffolgenden Jahr das Abitur im Hier und Jetzt verschluckte, und an ganz unterschiedlichen Enden der Welt wieder auftauchen ließ. Und auch dafür steht der Tod Dianas in unserer Erinnerung, wie ein Symbol für das Ende der gemeinsamen Stunden.

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Dienstag, 21. Juli 2009

Zauberhafte Mädchen (6)


Buben! Sie nannten die Jungs Buben! Mir verschlug es den angehaltenen Atem und ich wurde so aufgeregt, dass ich husten musste. Die Jungs blieben ruhig und höflich. Sie beschwerten sich nicht über die Belagerung ihrer Tischtennisplatte, sie titulierten die Mädchen nicht mit Unverschämtheiten, vielmehr lächelten sie schüchtern und rangen sich ein einziges Wort ab: „gut“. Aber die Mädchen hörten die vorsichtig hervorgebrachte Antwort gar nicht, denn sie waren mit etwas beschäftigt, wovor ich mich den Rest meines Lebens fürchten würde – sie lachten. Und ich meine nicht das bezaubernde, glockenhelle, amüsierte Kichern, dass ich bisher mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht hatte, ich meine ein abfälliges, hässliches Gelächter, von dem ich nie geglaubt hätte, es könne aus so perfekt geformten, jungen, unschuldigen Hälsen kommen.

Es war zum Fürchten, und es war auch so gedacht, denn sie lachten die Tischtennisspieler aus. Ich begriff schnell warum, und es tat mir weh. „Habt ihr denn schon Haare auf den Bällen?“, schrie meine Schöne die beiden an, die anderen fünf quietschten vor Begeisterung. Die Jungs blieben immer noch ruhig, aber ich sah, wie sie rot wurden und ihr Körper drückte schmerzhaft aus, wie sehr sie sich schämten. Zum ersten Mal seit Beginn dieses seltsamen Schauspiels hatten sie ihr Spiel völlig unterbrochen. Der Schmächtigere der beiden hielt den Tischtennisball fest in der einen Hand, in der anderen den Schläger – und für einen Moment setzte er einen Gesichtsausdruck auf der sagen wollte, sie sollten nicht zu weit gehen. Aber so wie er ihnen seinen Kopf zuwandte verschwand der trotzige Ausdruck und machte einem Platz, der Furcht ausdrückte: Furcht vor etwas Unbekanntem, das er auf sich zukommen sah und von dem er wusste, er würde sich nicht davor schützen können.

Das Mädchen direkt neben ihm streckte die Hand nach seinem Schatz aus: „Lass uns mal spielen!“, forderte sie ihn auf. Er sah unsicher zu seinem Mitspieler. Doch die drei Mädchen waren von der Platte zu einem hingelaufen, um ihn zu umzingeln, die anderen umzingelten den, der den Ball hielt – so wurde es für die beiden unmöglich, Blickkontakt miteinander aufzunehmen und sie übergaben ihre Schläger kampflos. Albern, kichernd und prustend machten sich die Mädchen abwechselnd über die Tischtennisplatte her. Sie trafen keinen einzigen Ball; vielleicht konnten sich die Jungs damit trösten. Mir war kein Trost geblieben. Ich beobachtete das Schauspiel mit einem wachsenden Gefühl von Ekel, Wut und blankem Entsetzen. Ich verstand die Welt nicht mehr.

Frauen, Frauen waren schön und deshalb beeindruckend, sie besaßen eine gewisse Schläue, ohne so klug zu sein, dass sie einem Mann eine ernsthafte Gefahr darstellten, sie waren liebend und gut, waren Mütter, Tanten und Schwestern, sie trugen stolze Brüste vor sich her und rochen nach mehr, auch nach Meer, nach Sommer, nach einer steifen Brise, sie rochen wie Flüsse, waren die Natur, der Ursprung der Dinge und hatten ein großes, gutes Herz. So waren Frauen… so hatte ich gedacht dass Frauen wären… so aber waren sie: nicht.

Frauen waren nicht harmlos, waren nicht Mütter, Tanten und Schwestern oder wohlriechende Backstuben. Vielmehr waren sie Walküren, Kriegerinnen, aber nicht im Namen der Ehre oder Gerechtigkeit, sondern mit dem Auftrag, die Männer zu unterwerfen. Sie waren fies und gemein, hinterlistig und – was das Schlimmste war – nicht nur schlau, sondern auch klug und gerissen; und offenbar übertraf ihre Intelligenz die der Männer. Zu alledem waren sie mit körperlichen Reizen ausgestattet, die den letzten, jämmerlichen Rest männlichen Verstandes unter die Vorhaut seines verdammten Schwanzes kehrten: Sie waren uns über! Ich konnte und wollte es nicht begreifen.

Die Mädchen verloren schnell das Interesse am Tischtennis. Achtlos warfen sie Schläger und Bälle in die Wiese und wanderten weiter auf ihrem blutigen Streifzug. Die beiden Spieler näherten sich vorsichtig ihrem Eigentum, aber auch ihnen war die Lust am Spiel vergangen. Sie sammelten ihr Hab und Gut ein und trollten sich. Unvermittelt stand plötzlich meine Mutter hinter mir und drückte mit der Hand sanft meine Schulter. Ich wollte mich in ihrer Umarmung betäuben und ihr erzählen, was ich Fürchterliches gesehen hatte, doch wurde mir bewusst, sie war eine von ihnen! Mein Weltbild zerbrach. Mein Leben war nichts mehr wert.

Meine Mutter spürte zwar, dass eine Veränderung in mir vorgegangen war, bohrte aber nicht weiter nach. Ich hätte es ihr niemals sagen können. Denn eines begriff ich in Sekunden: nicht allen Männern erschloss sich die Gewaltherrschaft der Frauen so früh wie mir, manch einer begriff es nie und ließ sich sein Leben lang einlullen vom süßen Duft ihrer Weiblichkeit. Wäre ich nur einer von denen geblieben… Denn was das Schlimmste war: Obwohl ich die schäbigen Absichten der Frauen früh durchschaute, konnte ich mich ihrem Reiz nie entziehen.

Ich heiratete früh und bekam drei Töchter. Die Ehe zerbrach, weil ich mich mit einer Jüngeren einließ und die Scheidung ruinierte mich finanziell. Meine Töchter sprachen nie wieder ein Wort mit mir, nachdem ich meine dritte Frau, jünger als die Mädchen selbst, geheiratet hatte. Meine zweite Frau nahm sich ihr verkorkstes Leben in der heimischen Badewanne, nachdem sie dahinter gekommen war, dass ich sie mit der Nachbarstochter betrog; nicht ohne einen Brief zu hinterlassen, indem sie mir die Schuld gab für ihr Leid. Ihre Schwestern quälten mich fortan mit bösen Briefen – und was ich nach meiner Scheidung an bescheidenem Vermögen wieder zusammengetragen hatte, fraßen die Schadenersatzklagen fast gänzlich auf. Alles in allem war es ein elendiges Leben.

Doch es zog nicht vorüber, ohne mir einen späten Triumph zu gönnen: Als ich 57 war, gebar mir meine vierte Frau einen Sohn. Nach all den kleinen Mädchen, die ich dem Bund der Walküren unfreiwillig zur Verstärkung beigesteuert hatte, endlich einer, der war wie ich! Ein kleiner, prächtiger Schwanzträger, ein Mäxchen! Er ist heute etwa so alt wie ich damals, im Schwimmbad. Doch er wird nicht arglos ins offene Messer laufen. Ich werde da sein und ihn schützen, wenn es so weit ist, dass die Frauen sich seiner armen Seele bemächtigen. Er wird meinen Erfahrungsschatz zu seinem machen und an die eigenen Söhne weitergeben. So dass vielleicht irgendwann die Männer der Übermacht der Frauen doch entfliehen können.

Ob das jedoch wirklich einmal möglich sein wird, vermag ich erst endgültig einzuschätzen, wenn ich nicht mehr auf dieser Erde wandle. Denn eine einzige, quälende Frage ist mir seit jenem Sommertag geblieben, die ich mir nicht mit Sicherheit beantworten kann, bevor ich nicht dort angekommen bin, wo alles irdische Leben unweigerlich endet. Dann endlich werde ich erfahren, ob Gott eine Frau ist…

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Mittwoch, 15. Juli 2009

Zauberhafte Mädchen (5)


Zum ersten Mal seit einer halben Stund atmete ich halbwegs befreit auf. Doch es sollte bei dem einen Mal bleiben. Denn die nun folgende halbe Stunde veränderte mein Leben für immer; veränderte meine Sicht der Dinge, meine Gedanken über den Lauf der Welt und – was das Schlimmste ist – mein sicheres, wohliges Bild von Frauen. In dieser halben Stunde haben alle Ängste meiner erwachsenen Tage ihren Ursprung, wurden meine jahrelangen Sitzungen beim Psychiater eingeläutet, ja – ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, die Beziehung zu meiner liebenden, großbrüstigen Mutter war hinterher nie mehr dieselbe, ganz zu schweigen von denen, die ich mit ihren Freundinnen gehegt hatte; ihnen misstraute ich fortan aufs Schärfste. Dies war der Moment, in dem ich das wahre Gesicht des weiblichen Geschlechts zum ersten Mal erblickte, die grauenvolle, hässliche Fratze, die sie hinter all ihrer Lieblichkeit verbergen und mit der sie uns Männer in den Wahnsinn treiben.

Die beiden Jungs an der Tischtennisplatte hatten augenscheinlich Probleme damit, sich ob der Anwesenheit der Schönheiten um sie herum auf ihr Spiel zu konzentrieren. Doch sie blieben tapfer, spielten sich weiter die Bälle zu und versuchten, möglichst nicht zu schauen. Offenbar störte das aber die Mädchen, und hier bereits fing meine Verwirrung an. Waren nicht wir Männer auf der Welt, um den Mädchen den Hof zu machen, ihre Aufmerksamkeit auf uns zu lenken und sie zu erobern, wie die Ritter es einst mit den Burgfräulein getan hatten, damals, als es noch Drachen gab? Ich war zumindest bisher der festen Überzeugung gewesen, dass es genau so abzulaufen hatte. Aber diese Mädchen, offensichtlich beleidigt vom Desinteresse der Jungs, drängten sich ihnen ins Bewusstsein. Zuerst noch harmlos, jedenfalls verzeihlich, wenn ich auch allein den Ansatz bedenklich fand. Sie näherten sich wie zufällig der Platte, so weit, bis die erste von ihnen schließlich mit ihrem Po daran anlehnte. Die Jungs waren zusehend irritiert von dem schleichenden Streifzug, aber weiter tapfer. Ich konnte sehen, dass einer von ihnen nun, da der weiche, verlockende Po sich unübersehbar in sein Sichtfeld geschoben hatte, Probleme bekam, sich auf sein Spiel zu konzentrieren. Aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Das stachelte die Mädchen erst recht an. Nicht genug damit, dass mittlerweile drei von ihnen auf der Platte saßen, womit selbstverständlich das halbe Spielfeld belegt war, sie drehten sich nun auch noch leicht zu Seite, um den beiden Spielern etwas mehr als nötig von ihren Reizen zu präsentieren. Die drei, die sich noch nicht auf die Platte gesetzt hatten, stellten sich knapp neben den Jungen, der mir den Rücken zugewandt hielt, und reckten ihre kleinen Brüste in seine Richtung.

Meine Irritation stieg vermutlich in ähnlichem Ausmaß wie die der beiden Spieler. Zugleich bewunderte ich, wie ruhig sie blieben, inmitten dieses Meeres aus wogenden Brüsten, vollen Schenkeln und sanft sprießender Achselbehaarung. Bereits von meinem Standpunkt aus ergab sich daraus ein beeindruckendes Bild. Zumal die Schöne, nein, Schönste von allen, sich mit ihrer Pracht gänzlich in meine Richtung gewandt hatte. Für einen Moment vergaß ich deshalb, sie alle unmöglich zu finden, weil sie plump waren und undamenhaft, weil sie die Jungs bedrängten und mich meiner Illusionen beraubten. Es war der Moment, indem ich hätte aussteigen können, es nicht länger hinnehmen, sondern aus der Schlange ausbrechen und zu meiner Mutter rennen. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, hätte ich nur geahnt – nicht gewusst. Doch ich konnte mich nicht rühren.

Eingeklemmt zwischen einem jungen Mann hinter und dem Breitarsch vor mir, in dessen Pofalten ich mittlerweile fast Zuflucht suchte, verfolgte ich weiter das grausame Schauspiel. Ich hätte fliehen müssen. Doch ich erlag der Faszination und blieb bis zum bitteren Ende. Die Mädchen ließen die letzten Barrieren zwischen sich und den Jungs einstürzen – und sprachen sie an. Ich hielt den Atem an, flach eingedrückt in meiner Brust, und lauschte angestrengt. „Na, ihr Buben, wie läuft’s so mit den Bällen?“

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Donnerstag, 9. Juli 2009

Zauberhafte Mädchen (4)


Die Sonne strahlte bereits satt vom Himmel und ich war mir sicher, dass Wetter würde heute herrlich werden. Wir hatten im Mai bereits ein paar richtig heiße Tage gehabt und offenbar noch mehrere von der gleichen Sorte vor uns. Ich blinzelte gegen den brennenden Planeten, als ich plötzlich ein glockenhelles Lachen vernahm und gleich begann, mich nach der Kehle umzusehen, der es entfleucht war. Vor meinen Augen flanierte eine Gruppe junger Mädchen vorbei. Vier von ihnen, in knappen Bikinihöschen und Oberteilen, in denen das, was ihnen schon gewachsen war, kunstvoll drapiert dem Bertachter dargeboten wurde, lenkten meine komplette Aufmerksamkeit auf sich. Wäre ich nicht ohnehin schon erprobter Schweiger, der Anblick hätte mir die Sprache verschlagen. „Ich danke dir, Gott!“, dachte ich, und konnte nicht umhin, meine scheinbar beiläufige Haltung zu ändern, um mit verrenktem Hals zu glotzen. Diese Perfektion berührte mich, zumal da sie nicht im Einzel sondern einer Gruppe auftrat. Diese Schönheit! Diese Unschuld! Berge, die kein Mann je bestiegen, Täler, die noch kein Mann je durchwatet hatte. Mir war, als schwänden meine Sinne.

Am faszinierendsten erschien mir die Kleinste der vier. Im Stehen dürfte ich ihr gerade bis an die Brüste heranreichen, der Gedanke allein ließ mich wohlig erschauern. Und was waren das für Brüste! Sie waren ihrer Zeit in Reife und Vollkommenheit voraus. Ihre Jugend gewährte ihnen die Gunst der völligen Straffheit, ihre Form war Vollendung von Schönheit und ihre Größe ein Geschenk. Ich wollte zwischen ihnen versinken, ihren Duft einatmen, das Leben spüren, ein Mann werden an diesen Hügeln. Zum ersten Mal in meinem Leben war mir das Bestaunen alleine nicht genug. Ich verfluchte die magere Anzahl von Lenzen, die ich bisher gesammelt hatte und wünschte mir, ihre Zeit bliebe stehen, während meine einen Sprung um zehn Jahre nach vorne machte, damit ich sie erobern, ihr den Hof machen und sie schließlich besitzen konnte. Ich schloss für einen Moment die Augen, besessen von den süßen Gedanken und Regungen, die das Mädchen in mir ausgelöst hatte. Sie war der fleischgewordene Traum aller männlichen Phantasien, allein war ich noch kein Mann sondern nur ein Knabe, und weit davon entfernt, auch nur in den Genuss einer einzigen Berührung dieser Vollkommenheit zu kommen.

Es ist dabei ja nicht so, dass es für einen Jungen gänzlich unmöglich wäre, sich einer Frauenbrust zu nähern. Dachte ich nur an die vielen Gelegenheiten, bei denen ich auf dem Schoß einer der Freundinnen meiner Mutter gesessen und wie zufällig ihre Brüste berührt hatte, die Nase darüber geschwenkt und ihren Duft eingeatmet, mich in ihre Fülle gekuschelt und, den Daumen im Mund, davon geträumt, wie sie wohl unter der Kleidung aussah, wie sich die zarte Knospe anfühlte, wenn keine störender Stoff dazwischen war, wurde mir wohl. Doch das hier war anderes. Es war eine junge, frische Brust, ein Busen von solch überwältigender Schönheit, wie ich ihn nie gesehen hatte.

So gut meine Mutter sich auch gehalten hatte, konnten sich ihre Brüste einem gewissen Abwärtstrend mittlerweile nicht mehr verschließen, wohingegen die kleinen Brüste meiner elfjährigen Cousine, die einzigen, die ich sonst je nackt gesehen hatte, einfach noch zu kümmerlich waren, um Aufsehen zu erregen. Ganz anders diese hier. Ich war mir sicher, dass es genau diese Oberweite war, die alle Männer nachts in ihren feuchten Träumen vor sich sahen. Und ich sah sie nun leibhaftig. Und konnte mich nicht von dem Anblick lösen.

Da die Mädchen in Richtung Kiosk gingen, erinnerte ich meine Mutter an ihr Versprechen, ich würde heute eine Wurst bekommen. Aufgeregt zuppelte ich an ihrem Arm, schüttelte sie, als sie nicht gleich reagieren wollte, hielt schließlich sogar meine Hand über die Zeilen ihres Buches, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Endlich reagierte sie und kramte nach dem Nylon Portemonnaie, das sie immer im Sommer und nur im Schwimmbad benutzte, fischte es schließlich mit einem siegessicheren Blick aus dem Wust im Tascheninnenleben und strahlte: „Los geht’s!“ Ich hätte es ahnen müssen – meine Mutter ließ sich nicht davon abhalten, mich zum Kiosk zu begleiten. Ich versuchte ihr zu schmeicheln, indem ich beteuerte, ihre Ruhe nicht stören zu wollen, probierte es mit dem Argument, ich sei längst alleine groß, behauptete, ich habe einen meiner Freunde dort unten anstehen sehen: vergebens. Sie kam mit – mein Schicksal war somit besiegelt. Schließlich konnte ich ihr unmöglich sagen, dass es meinen Magen nicht im Mindesten nach einer in Ketchup und Curry getunkten Wurst mit Brötchen verlangte, sondern ich viel mehr auf Brautschau war…

Als wir endlich den Weg zum Kiosk hinter uns gebracht hatten, konnte ich das Mädchen nirgends entdecken, auch von ihren Freundinnen war weit und breit nichts zu sehen. Ich war verzweifelt und wütend, mein Groll richtete sich gegen meine Mutter, die ich doch so liebte. Aber ihrer langsamen Reaktionszeit und dem verdammten Buch, über dem sie Tag und Nacht brütete, hatte ich es zu verdanken, dass sich meine Augen nun anstatt an den wunderschönen Mädchen an dem monströsen Hintern meines Vordermanns weiden durften. Hätte ich nicht einen peinlichen emotionalen Ausbruch bereits hinter mich gebracht, und das auch noch vor weniger als zwei Stunden, ich wäre in wütende, verzweifelte Tränen ausgebrochen.

„Und, Mäxchen, wie magst du die Wurst? Im Brötchen oder im Teller? Ketchup, Senf?“ Ich wollte überhaupt keine Wurst. Ich wollte auch kein Brötchen. Und vor allem anderen wollte ich kein Mäxchen mehr sein, sondern endlich ein strammer Max, ausgewachsen und ernst genommen, mit einer Schar wunderschöner Verehrerinnen umgeben. „Senf“, würgte ich mir schließlich irgendwie aus dem Hals, obwohl ich Senf hasste. Ich hasste alles, was grün war, denn in der Regel verbarg sich hinter der Farbe entweder Gemüse oder Schimmel.

Ein helles Kichern riss mich aus meinen Gedanken. Ich versuchte, den Kopf zu drehen, ohne mit meiner Nase den Hintern meines Vordermanns zu berühren – und da waren sie! Nur wenige Meter weiter, an einer der Tischtennisplatten, entdeckte ich die Mädchen wieder. Sie standen in einer Gruppe mit zwei weiteren, die sie vorhin noch nicht im Schlepptau gehabt hatten, unmittelbar daneben. An der Platte selbst spielten zwei Jungs, etwas älter als ich, mit ihren Schlägern. Ich witterte sofort Konkurrenz und spürte, wie Nervosität sich ungewohnt schnell in mir ausbreitete. Zu meinem großen Glück hatte meine Mutter unweit der Schlange eine ihrer Freundinnen in der Wiese entdeckt und mich mit meinen Groschen alleine gelassen. So konnte ich ungehindert starren, ohne als unhöflich getadelt zu werden.

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Samstag, 4. Juli 2009

Zauberhafte Mädchen (3)


Nun geschah etwas Seltsames. Ich hätte erwartet, meine Mutter würde böse werden. Wenn ich je die Kontrolle über mein Lächeln und Schweigen verlor und heulte oder schrie, weil etwas anders lief, als ich es mir vorgestellt hatte, zog ich mir stets den Unwillen meiner Mutter zu. Vorbei war es mit dem guten Jungen, dem Sonnenschein oder dem Stolz ihrer besten Jahre – sie verzog angewidert das Gesicht, als wäre ich ein ekliges Insekt, strafte mich nie, indem sie ebenfalls laut wurde oder schimpfte, sondern indem sie mir auf unbestimmte Zeit ihre Liebe und Aufmerksamkeit entzog; nichts schmerzte mehr!

Aber – nichts dergleichen! Meine Mutter sah mich an, als hätte sie mich noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen. Ihre Tränen versiegten im Bruchteil einer Sekunde. Mit einer eigentümlichen Faszination betrachtete sie den Rotzfaden, der noch immer aus meiner Nase auf den Kuchen tropfte. Und plötzlich begann sie zu lachen. Sie schüttelte sich vor lachender Begeisterung, gluckste und wieherte, dass es einem angst und bange werden konnte, und ich für einen Moment befürchtete, sie habe den Verstand verloren. Ich war hin und her gerissen. Einerseits hätte ich am liebsten noch lauter geschluchzt ob der neuerlichen Irritation, auf der anderen Seite war ich so verwirrt, dass mir das Weinen fast zu anstrengend vorkam. Da plötzlich streckte sie mir ihre Hände entgegen und ich stolperte rotzend und heulend in ihre Umarmung, stieß mir dabei den Knöchel an der Kuchenform und heulte noch lauter, bis ich endlich in ihrer Wärme ankam und mir der wohlige Geruch ihrer Brüste in die Nase stieg.

Ich war stets aufs Neue fasziniert davon, was eine Brust alles in sich vereinte. Sie war weich wie der Samt auf unseren Wohnzimmerstühlen und schien doch straff und belastbar wie mein frisch aufgeblasener Wasserball. Sie roch frisch wie eine Sommerwiese und herb wie der einsetzende Herbst, sie war aufregend und beruhigend zugleich und ich wollte sie einfach nur besitzen, eine nach der anderen, alle, die die Welt zu bieten hatte.

Zwischen den Brüsten meiner Mutter, den Daumen im Mund, war es ein Leichtes, sich zu beruhigen. Zumal ich überwältigt war von der plötzlichen, unerwarteten Zuneigung. Sie wiegte mich sanft, flüsterte mir zu, dass ich ihr Sonnenschein war, ein guter Junge. Ihre Worte beseelten mich. Den verunglückten Kuchen in einem Plastiksack, den wir auf dem Weg zum Auto in den Mülleimer warfen, machten wir uns doch noch auf zum Schwimmbad. Trotz des Vorfalls mit dem Kuchen und der Scham über meinen unkontrollierten Ausbruch in der Küche war ich glücklich, denn ich hatte noch den frischen Duft der mütterlichen Brust in der Nase. Und zum Ausgleich für den Verlust der selbstgebackenen Süßigkeit hatte meine Mutter mir eine Currywurst im Schwimmbad versprochen, ein Genuss, in den ich selten kam.

Endlich waren wir im Schwimmbad. Die vielen Frauenzimmer zu belauschen und zu beobachten machte hier noch mehr Spaß als anderswo, da sie halbnackt umherliefen. Und meine Position war perfekt, zumal niemand etwas Böses hinter meinem unschuldigen Augenaufschlag erwartete. Ich lag in der Wiese, den Kopf mal in die Hände gestützt, dann wiederum auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und beobachtete diese zauberhaften Wesen, die gerade einfältig genug waren, dass sie mir eben dies nicht zutrauten, aber nicht dumm genug, um abschreckend auf mich zu wirken.

Ich wusste zwar von meinem Vater, dass die Intelligenz nicht unbedingt ausschlaggebend sein sollte bei der Wahl eines Frauenzimmers, aber die Dummen redeten auch dummen Zeugs; das irritierte mich. Wenn ich das Gefühl hatte, die Gespräche konnten einen gewissen Anspruch nicht halten, begannen sie schnell, mich zu langweilen. Meine Mutter aber war eine kluge Frau und auch die meisten ihrer Freundinnen waren schlau und sprachen auf eine Art und Weise, die keinen Geist beleidigte.

Die Brille auf der Nasenspitze festgeklemmt saß meine Mutter in der Wiese und las. Bisher hatte sich noch keine ihrer Freundinnen blicken lassen, aber das konnte daran liegen, dass es noch nicht wirklich heiß war um diese Zeit, es war gerade halb elf, zudem noch nicht einmal Juli, und das Schwimmbad hatte letzte Woche erst eröffnet. Sicher würden sie im Laufe des Nachmittages eintrudeln. Überhaupt war das Schwimmbad nicht sehr voll, was ich aber als einen Vorteil ansah, denn wenn zu viele schöne Frauen auf einem Haufen auftreten, ist es oft schwer für den Blick eines Mannes, sich einen Punkt zum Verweilen auszusuchen. So aber konnte ich eine Insel aus Handtüchern nach der anderen anpeilen, die Frauen und jungen Mädchen in aller Ruhe mustern – und den Blick schließlich weiterschweifen lassen.

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Sonntag, 28. Juni 2009

Zauberhafte Mädchen (2)


Meine Eltern waren vor Jahren hier ins Dorf gezogen, und nachdem anfänglich die Frauen über meine Mutter ihre Nasen rümpften, weil sie eine arrogante Städterin in ihr vermuteten, besannen sie sich bald und integrierten sie in ihre Kaffeerunden. Dies geschah zunächst nicht völlig selbstlos, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass meine Mutter über ein Talent verfügte, das den Kaffeekränzchen der Damen sehr zugute kam: Sie war die beste Kuchenbäckerin der nahen und weiteren Umgebung. Fragte man meinen Vater, so war sie sogar die beste Kuchenbäckerin der Welt. Und weil sie außerdem eine hochanständige Frau war, buk sie für jedes Treffen mit den Damen aus der Nachbarschaft mindestens einen großen Kuchen und ließ die üppigen Reste anschließend bei der Dame des Hauses zurück. Fand die Kaffeerunde aber bei uns statt, durfte sich jede der Frauen über ein Kehrpaket freuen.

Mit der Zeit fanden sie heraus, dass meine Mutter wirklich eine sehr liebenswerte Person war, und sie wurde nicht mehr nur noch wegen ihrer Backkünste eingeladen. Aber die Liebe der Nachbarsdamen zu Mamas Kuchen blieb ungebrochen. So hatte es sich meine Mutter auch angewöhnt, nie ohne einen selbstgebackenen Kuchen ins Schwimmbad zu gehen. Natürlich war dies kein Ort, um ihre Backkunst voll zu entfalten, denn für den Aufenthalt im Schwimmbad eigneten sich nur trockene Kuchen. Dennoch dauerte es nach unserer Ankunft selten lange, bis die erste Bekannte sich mit einem kleinen Handtuch zu uns gesellte, meist kurz nachdem Mutter den Kuchen ausgepackt hatte.

Dann saßen sie zusammen da und klönten, über ihre Männer, Kinder, das Leben an sich, Job oder nicht – und natürlich Rezepte. Und ich, ja, ich konnte wieder lauschen, ungehindert mich dem süßen Fluss der Worte hingeben. Es war dabei nicht so, dass mich alles, worüber sie sprachen, auch wirklich interessierte. Es hatte schlicht einen ganz besonderen Reiz, in der Sonne auf dem Bauch zu liegen, ein Stück Streuselkuchen in der Hand, und nichts zu tun als zu schweigen und zu lauschen. Hin und wieder räkelte ich mich etwas geräuschvoller, meist, wenn mein Magen erneut Lust auf den süßen Teig anmeldete. Dann wurde den Frauen schlagartig bewusst, dass sie nicht alleine waren, sie herzten und küssten mich, flüsterten mir süße Worte ins Ohr und gaben mir ein neues Stück Kuchen in die Hand, bevor sie mich wieder absetzten und – vergaßen.

Heute war alles ein wenig anders als sonst; das hatte schon angefangen, bevor meine Mutter an der Kasse und auf dem ganzen Weg hinauf zur Liegewiese vor sich hin geschimpft hatte. Heute war etwas passiert, was ich in meinem jungen Leben noch nie erlebt hatte – meiner Mutter war der Kuchen verbrannt! Ich hätte es kommen sehen müssen, und vielleicht war es auch ein wenig meine Schuld, weil ich sie nicht gewarnt hatte, als ich diesen leicht strengen Geruch in der Wohnung wahrgenommen hatte. Aber ich war es einfach nicht gewohnt, dass jemand außer meiner Mutter sich mit der Küche befasste und hatte darauf vertraut, sie würde ihre Sache schon richtig machen; wie bisher. Doch dann klingelte plötzlich, in die aufregenden Vorbereitungen für das Schwimmbad hinein, das Telefon. Meine Mutter blickte kurz wie verwundert von der Tasche auf, die wir gemeinsam packten: Ich hielt den störenden Griff beiseite, während sie vor meinen staunenden Augen Badehose und Bikini, Schnorchel, Flossen, belegte Brote, Gummibärchen, Kinderbücher, Zeitschriften und mehr verschwinden ließ.

„Wer kann das sein?“, murmelte meine Mutter erstaunt. Ich tat, was ich am besten konnte: lächelte und schwieg. Meine Mutter kniff mir kurz liebevoll in die Backe, dann stand sie auf und lief hinüber zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung war die Not groß: Annegret, die jüngere Schwester meiner Mutter, hatte ihren Gatten mit einer anderen Frau erwischt. „In Flagranti!“, rief meine Mutter entsetzt aus. Ich kannte das Wort nicht und auch viele von denen, die nun folgten, hatte ich noch nie in meinem Leben gehör – also verließ mich schnell das Interesse an der Unterhaltung (zumal ich ja nur eine Hälfte mithören konnte), und ich verkroch mich nach oben ins Kinderzimmer, um mit meiner Autorennbahn zu spielen. Unten bahnte sich in meiner Abwesenheit die Katastrophe an: Meine Mutter, eine Hand am Hörer, die andere an der Kittelschürze, die sie heftig knetete und in alle Richtungen riss, hörte mit wütendem Gesichtsausdruck meiner Tante zu. Die heulte, jammerte und klagte ihr Leid über den untreuen Gatten. Und im Ofen verbrannte der Kuchen…

Nach dem Telefonat rief meine Mutter nach mir und wollte sich aufmachen ins Freibad, da plötzlich, als habe sie den Qualm bisher nicht wahrgenommen, schrie sie erschrocken auf: „Der Kuchen!“ Mit meiner kleinen Hand in ihrer großen rannte sie in die Küche und zog mich dabei hinter sich her. Dort angekommen umgab uns binnen Sekunden stinkiger Rauch, der noch schlimmer wurde, als meine Mutter den Ofen aufriss und mit einem Küchenhandschuh das Blech herauszog, dann aber auf den Boden krachen ließ, weil es selbst so noch zu heiß war. Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf. Als meine Mutter gar begann, mit dem Handschuh auf den Boden zu schlagen und dabei laut zu schreien vergaß ich mein Schweigen, meine Raffinesse und mein unschuldiges Lächeln und begann laut zu weinen. Sobald das erste glucksende Geräusch aus meiner eigenen Kehle an mein Ohr drang wurde ich mir meines Versagens bewusst und weinte noch viel lauter, schrie fast, getrieben von purer Verzweiflung, und der Rotz lief aus meiner Nase und tropfte neben den verunglückten Kuchen.

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