Es ist ein goldener Herbsttag in den späten Neunzigern. Ich
bin in meinem Auto, einem alten, blauen Einsergolf, auf der B45, Höhe
Shelltankstelle/Michelstadt in Richtung Zell unterwegs: Eltern frisch getrennt,
Mutter langfristig im Krankenhaus, Liebeskummer und Abiturvorbereitung – es hatte schon
bessere Zeiten gegeben. Da zwitschert dieser Typ im Radio, das Wochenende werde
er im Odenwald verbringen: tolle Luft, schöne Landschaft, nette Leute, genau
der richtige Ort, um sich mal zu erholen. Meine ganze Teenagerwut entlädt sich und
ich brülle das Radio an, dass die Menschen im Odenwald von genau den gleichen
Katastrophen heimgesucht werden wie im Rest der Welt, ob ihm das nicht klar
sei? Es kommt eben immer darauf an, wo man wohnt und wo Urlaub macht; auch der
Pazifik vor der Haustür schützt nicht vor Schicksalsschlägen.
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Wer hat da was gegen den Odenwald gesagt? |
Obwohl mir diese Szene so intensiv in Erinnerung geblieben
ist, kann ich nicht sagen, eine besondere Haltung gehabt zu
haben gegenüber der Gegend, in der ich aufwuchs – außer dass ich es
als Kind toll fand, immer draußen zu sein, durch die Wälder zu streifen,
Baumhäuser zu bauen. Mein Vater, ein Berliner, der sich in den Odenwald
zunächst verirrte und dann verliebte, der hatte eine Haltung, konnte
stundenlang schwärmen über das wunderschöne Fleckchen Erde, an den es ihn
verschlagen hatte. Ich fühlte mich von meiner Umgebung weder besonders bedrängt
noch beflügelt, kann aber sagen, dass ich mich unterm Strich wohlgefühlt
habe. Natürlich wird es einem als Teenager zwischenzeitlich immer zu eng dort, wo
man lebt, aber Heidelberg war nah, Frankfurt erreichbar und außerdem konnte ich
schon damals das Gefühl nicht abschütteln, man nimmt doch all die inneren
Kämpfe mit, egal wohin man geht – weil sie genau da sind: innen; der Odenwald
hatte damit nichts zu tun.
Im Online-Feuilleton der F.A.Z. erschien an Neujahr nun ein
Wutausbruch der Autorin Antonia Baum, in dem sie sich über diesen Odenwald
ereifert, auf den sie dereinst „im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden“
ist und der sie, verkürzt gesagt, umgebracht hätte, wäre ihr Deutschlehrer
nicht gewesen. Der Odenwald ist nämlich, erfährt der Leser, ein Ort, der für
Heranwachsende nicht weniger als „ein Todesurteil“ bedeutet, ist
„lebensgefährlich“ für den Kopf – und alles dort „eine Wand, gegen die man im
Kopf den ganzen Tag dagegenrennt“.
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Idylle sieht überall gleich aus. Auch im Odenwald. |
Schon als Kind sei man diesem Ort „hilflos ausgeliefert“,
erinnert sich Baum, selbst zeit ihrer Kindheit und Jugend „der
Odenwalddurchschnittlichkeit Inhaftierte und mit (ihrer) Familie an diesem Ort
total Deplazierte“, wobei jene Deplatzierung auch darin begründet zu sein
scheint, dass die Menschen im Odenwald offenbar allesamt mit eher minderer
Intelligenz ausgestattet sind. Besonders gilt das für die Jungs im jeweiligen
Alter der Autorin, die sogar richtig dumm sind, „das konnte einem nicht
entgehen, selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte“.
Die Gegend an sich sei im Übrigen eine schöne, das Problem
die hässlichen Gebäude, erdacht und erbaut von Menschen, denen die Region wohl egal sein müsse; aber auch – das wird weniger klar benannt und spricht doch mit Macht
aus den Atempausen zwischen den Zeilen – die Leute, die hier leben, ohne zu
begreifen, sie müssten eigentlich fort.
„Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man
alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine
einzige Chance. Die Familienoberhäupter waren Männer, die Frauen meistens zu
Hause, die Männer schrien die Frauen an, wenn sie selbst versagt hatten, die
Frauen ließen sich von ihren Männern anschreien, und beide, Männer wie Frauen,
wollten in der Nachbarschaft einen gepflegten Eindruck machen. Es gab
dekorative Vasen und Glasfiguren, modische Sitzgarnituren, Helmut-Kohl-
Biographien und Mädchen, die Schlampen waren, wenn sie im Alter von fünfzehn
Jahren häufiger den Freund wechselten.“
Die Kindheit und Jugend der Antonia Baum scheint eine elende
gewesen zu sein und so, wie andere Menschen dafür ihre Eltern verantwortlich machen,
wälzt sie die Verantwortung ab auf das, was sie im Heranwachsen umgab, ohne ihr
Inspiration gewesen zu sein. Dabei ist sie leider furchtbar beliebig: Mit
diesem Teenagerfrust im Bauch könnte man sämtliche Vorwürfe, die sie dem
Odenwald macht, einfach jeder ländlichen Region in Deutschland (und überall auf
der Welt) entgegenschleudern. Der Gedanke ist der Journalistin zwar offenbar auch
kurzzeitig gekommen (der Odenwald ist „an Hässlichkeit und Traurigkeit
eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland
viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind“), allein er ändert
nichts daran, dass die Mittzwanzigerin auf ihrer Teenagerwut seltsam
hängengeblieben scheint.
Es macht den Artikel aber zu allem auch noch furchtbar unoriginell,
weil er wiederkäut, was schon oft beschrieben wurden: Die Wut Heranwachsender
auf eine sie eng umschließende Ländlichkeit, in der einfach nichts passieren
will – und auf die Weite eines Landkreises, die in diesem Alter gefühlt mehr
Freiheit nimmt denn gibt, weil eben nicht im Minutentakt eine U-Bahn durch sie
hindurchrauscht, um uns an einen anderen, vermeintlich besseren Ort zu bringen.
Ob aber das alleine gefährlich ist für den Kopf, ein Todesurteil oder auch nur
ein Alleinstellungsmerkmal des Odenwaldes darf, wie gesagt, bezweifelt werden.
Daneben hadert Baum mit der Frage nach einer Heimat. Man
kann nun dem Begriff an sich misstrauen, sollte es auch oft genug – denn er ist
missbraucht worden für Schrecklichkeiten, von denen man sich fernhalten muss,
wenn einem der Kopf und das Herz funktionieren. Es nutzt aber nichts, all seine
Angst vor den Dummen, Rechten und Unverbesserlichen diesem Wort aufzuladen, und
zu glauben, man habe sie ausgetrickst, indem man es nicht mehr verwendet. (Man
stelle sich zum Beispiel den Versuch vor, mit Peter Kurzeck, was ja leider
nicht mehr möglich ist, über sein Werk zu sprechen, ohne den Begriff Heimat zu
benutzen.)
Heimat – Home – Zuhause, rein emotional betrachtet wird
damit zunächst lediglich ein Ort, Mensch oder Ding beschrieben, zu dem wir eine
emotionale Verbindung haben, wohin wir zurückkehren können und wissen, wir
werden erkannt und erkennen wieder. Das kann, wie Baum selbst schreibt, für
Bücher gelten (in ihrem Fall darüber hinaus für ihre Kleidung und besonders ihr
Bett), für Menschen oder Musik und natürlich auch Orte; solche, an denen wir aufgewachsen sind
oder solche, an denen wir uns niedergelassen haben. So richtig konsequent wirkt
Baum aber ohnehin auch mit dieser Skepsis nicht, da sie das Wort erst dem
rechten Lager zuordnet und später munter weiter verwendet; Lektorate sind
heutzutage eben überflüssiger Luxus.
Warum die F.A.Z nun einen Artikel veröffentlich, der das Spießertum
bejammert, dabei aber mit den ausgelutschtesten aller Klischees über den
ländlichen Raum und das, was es bedeutet, darin aufzuwachsen, hantiert, die man
überhaupt zusammentragen kann, bleibt allein ihr Geheimnis. Die Verfasserin ist
nebenbei übrigens Buchautorin, ihren Roman rezensierte die F.A.Z. einst mit
folgenden
Worten:
„Antonia Baums vollkommen lebloses Debüt, in dem eine
junge Frau in Berlin nach der Liebe sucht, wird als neue deutsche Literatur
verkauft. Was für ein Irrtum! Sapperlot! Welch eine Verzweiflung muss herrschen
auf den deutschen Verlagsfluren, wo offenbar jedes noch so missglückte Debüt
mit Handkuss angenommen wird.“
Das war Ende 2011, seit Februar 2012 arbeitet Baum laut
Autorenvita für die Zeitung. Offenbar wurde ihr dort eine zweite Chance
gegeben, vielleicht sollte sie selbiges mit dem Odenwald tun – nicht etwa
dieser Region, sondern sich selbst zuliebe...
Der Originalartikel in der F.A.Z. –
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Peter Kurzeck über Heimat als Ort und Sprache –
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