Samstag, 9. Mai 2009

Tick, tack – goes the Heart


An einem kalten Tag im Januar ist plötzlich deine Uhr stehen geblieben. Du hast sie mir geschenkt in dem Jahr, als es für mich an die Universität ging – weil du eine neue zu Weihnachten bekommen hast. „Die mochtest du doch immer so gern!“, hast du gesagt – und sie mir im Schein der Christbaumbeleuchtung über die Hand ans Gelenk gezogen. „Jetzt gehört sie dir.“

Manchmal, wenn du wieder krank geworden warst, habe ich die Uhr mit Argwohn betrachtet. Sanft gegen das Glas geklopft und geprüft, ob ihr Schlag noch regelmäßig tönte. Und mich dann wieder beruhigt, weil ich sicher war, solange das Ticken an meinem Arm noch erklang, würde auch dein Herz seinen Rhythmus wiederfinden.

Einmal, im Sommerurlaub mit der Besten, ist die Uhr überraschend stehen geblieben, als wir nachmittags faul unter der spanischen Sonne am Pool lagen. Es ist mir nicht gleich aufgefallen, erst als ich vor der Hitze mit Handtuch, Sonnenmilch, Fanta und Lektüre dem Schatten hinterhergewandert bin. Dort habe ich die Uhr, deren sonst so angenehm kühles Metall sich fast schmerzhaft aufgeheizt hatte, vorsichtig vom Arm genommen – und gemerkt, dass sie schon Stunden zuvor ihr Ticken aufgegeben hatte.

Dein Herz ist mir eingefallen und meines hat einen angstvollen Schlag ausgesetzt; als es sich selbst wieder angestoßen hat, sind ihm die Tränen hinterhergeflossen, aus Angst, dir könne etwas passiert sein. Es dauerte eine Weile, bis die Beste mich davon überzeugt hatte, dass nur ein Anruf daheim mir die Ruhe wiedergeben würde; zu groß war die Sorge, durch die Leitung zwischen dem Sommer und der alten Heimat würde eine schlechte Nachricht gespült werden.

Stattdessen – wurde mir deine vertraute Stimme ins Ohr geschwemmt, „Mädel, was rufst denn du aus dem Urlaub an, das ist doch viel zu teuer, ihr seid ja im Ausland!“, hast du gerufen. Und ich musste erleichtert lachen; und gegen meine Tränen anblinzeln, die du nicht sehen konntest oder hören solltest. „Ich wollte mich bloß mal melden und hören, wie es euch geht.“ Und am nächsten Tag habe ich der Uhr eine neue Batterie gekauft.

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Nach deinem Tod habe ich sie stets getragen; Tag für Tag um mein Handgelenk geschnallt, wo sie jeden meiner wachen Herzschläge gezählt hat. Bis sie wieder aussetzte, ich sie ablegte – doch jetzt sah es nackt aus, da, wo sie viele Jahre gesessen hatte; und ein bisschen kam es mir vor, als würde ich genau an dieser Stelle frieren. Also wollte ich eine neue Batterie kaufen, damit meine Herzschläge wieder bewacht werden, von diesem Ticken, in dem ich noch immer das Klopfen deines Herzens vermutete.

Da habe ich an den Abend gedacht, an dem du sie mir vermacht hast, an die vielen Augenblicke, in denen sie mich irgendwie mit dir zu verbinden schien – und an den Moment, als mir der Bestatter deine neue Uhr, das Weihnachtsgeschenk, zusammen mit ein paar Münzen und deiner Brille in einer durchsichtigen Plastiktüte übergeben hat, am Tag deiner Beerdigung.

Ich habe an unser letztes Telefonat zwei Tage vor deinem Tod gedacht, all die Dinge, über die wir gesprochen haben, ohne zu wissen, es würde das letzte Mal sein, dass ich deine Stimme hören darf. Deinen Rat annehmen, deinen Trost. Das letzte Mal auch, dass du am Ende eines Gespräches zu mir sagst: „So, Mädel, jetzt machen wir aber mal Schluss. Das wird doch sonst zu teuer für dich und dann gibt es morgen statt Butter wieder nur Margarine aufs Brot.“ Und ich habe gelacht. „Ach Papi, so teuer ist telefonieren doch gar nicht mehr!“

Ich habe an deinen Mut gedacht, an den unerschütterlichen Optimismus, mit dem du, wie in Gummistiefeln, durch die schlimmen Tage gewatet bist, mit denen das Schicksal beizeiten nicht gespart hat in deinem Leben. An deine wärmende Liebe, deine Begeisterungsfähigkeit und an deinen Durst, auf alles Neue, jeden frischen Tag. Daran, wie du dir das Leben in die Lungen gesogen hast, so, als könnte jeder Tag der letzte sein, weil es: genau so ist.

Und gespürt, dass noch so viele Momente, in denen meine Lippen ein leises „Auf Wiedersehen, Paps“, murmeln nichts nutzen, wenn mein Herz sich noch immer dagegen sperrt zu begreifen, dass es in diesem Leben nicht einen gemeinsamen Tag mehr für uns geben wird. Egal, wie sehr ich es mir noch immer wünsche.

Also vertraute ich noch einmal auf die Symbolkraft deiner Uhr, diesmal, indem ich sie ablegte; mich damit einen Block weiter diese Allee des Abschieds hinunterbewege, die ich so fürchte. Und statt ihrem nun verklungenen Ticken an meinem linken Arm pocht ein Stück weiter südlich sanft mein Herz in der Einsicht, dass es mich dir und meinem Leben näher bringt, wenn ich deinen Mut erlerne, als wenn ich stets aufs Neue die alte Uhr wiederbelebe.

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