
Meine Eltern waren vor Jahren hier ins Dorf gezogen, und nachdem anfänglich die Frauen über meine Mutter ihre Nasen rümpften, weil sie eine arrogante Städterin in ihr vermuteten, besannen sie sich bald und integrierten sie in ihre Kaffeerunden. Dies geschah zunächst nicht völlig selbstlos, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass meine Mutter über ein Talent verfügte, das den Kaffeekränzchen der Damen sehr zugute kam: Sie war die beste Kuchenbäckerin der nahen und weiteren Umgebung. Fragte man meinen Vater, so war sie sogar die beste Kuchenbäckerin der Welt. Und weil sie außerdem eine hochanständige Frau war, buk sie für jedes Treffen mit den Damen aus der Nachbarschaft mindestens einen großen Kuchen und ließ die üppigen Reste anschließend bei der Dame des Hauses zurück. Fand die Kaffeerunde aber bei uns statt, durfte sich jede der Frauen über ein Kehrpaket freuen.
Mit der Zeit fanden sie heraus, dass meine Mutter wirklich eine sehr liebenswerte Person war, und sie wurde nicht mehr nur noch wegen ihrer Backkünste eingeladen. Aber die Liebe der Nachbarsdamen zu Mamas Kuchen blieb ungebrochen. So hatte es sich meine Mutter auch angewöhnt, nie ohne einen selbstgebackenen Kuchen ins Schwimmbad zu gehen. Natürlich war dies kein Ort, um ihre Backkunst voll zu entfalten, denn für den Aufenthalt im Schwimmbad eigneten sich nur trockene Kuchen. Dennoch dauerte es nach unserer Ankunft selten lange, bis die erste Bekannte sich mit einem kleinen Handtuch zu uns gesellte, meist kurz nachdem Mutter den Kuchen ausgepackt hatte.
Dann saßen sie zusammen da und klönten, über ihre Männer, Kinder, das Leben an sich, Job oder nicht – und natürlich Rezepte. Und ich, ja, ich konnte wieder lauschen, ungehindert mich dem süßen Fluss der Worte hingeben. Es war dabei nicht so, dass mich alles, worüber sie sprachen, auch wirklich interessierte. Es hatte schlicht einen ganz besonderen Reiz, in der Sonne auf dem Bauch zu liegen, ein Stück Streuselkuchen in der Hand, und nichts zu tun als zu schweigen und zu lauschen. Hin und wieder räkelte ich mich etwas geräuschvoller, meist, wenn mein Magen erneut Lust auf den süßen Teig anmeldete. Dann wurde den Frauen schlagartig bewusst, dass sie nicht alleine waren, sie herzten und küssten mich, flüsterten mir süße Worte ins Ohr und gaben mir ein neues Stück Kuchen in die Hand, bevor sie mich wieder absetzten und – vergaßen.
Heute war alles ein wenig anders als sonst; das hatte schon angefangen, bevor meine Mutter an der Kasse und auf dem ganzen Weg hinauf zur Liegewiese vor sich hin geschimpft hatte. Heute war etwas passiert, was ich in meinem jungen Leben noch nie erlebt hatte – meiner Mutter war der Kuchen verbrannt! Ich hätte es kommen sehen müssen, und vielleicht war es auch ein wenig meine Schuld, weil ich sie nicht gewarnt hatte, als ich diesen leicht strengen Geruch in der Wohnung wahrgenommen hatte. Aber ich war es einfach nicht gewohnt, dass jemand außer meiner Mutter sich mit der Küche befasste und hatte darauf vertraut, sie würde ihre Sache schon richtig machen; wie bisher. Doch dann klingelte plötzlich, in die aufregenden Vorbereitungen für das Schwimmbad hinein, das Telefon. Meine Mutter blickte kurz wie verwundert von der Tasche auf, die wir gemeinsam packten: Ich hielt den störenden Griff beiseite, während sie vor meinen staunenden Augen Badehose und Bikini, Schnorchel, Flossen, belegte Brote, Gummibärchen, Kinderbücher, Zeitschriften und mehr verschwinden ließ.
„Wer kann das sein?“, murmelte meine Mutter erstaunt. Ich tat, was ich am besten konnte: lächelte und schwieg. Meine Mutter kniff mir kurz liebevoll in die Backe, dann stand sie auf und lief hinüber zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung war die Not groß: Annegret, die jüngere Schwester meiner Mutter, hatte ihren Gatten mit einer anderen Frau erwischt. „In Flagranti!“, rief meine Mutter entsetzt aus. Ich kannte das Wort nicht und auch viele von denen, die nun folgten, hatte ich noch nie in meinem Leben gehör – also verließ mich schnell das Interesse an der Unterhaltung (zumal ich ja nur eine Hälfte mithören konnte), und ich verkroch mich nach oben ins Kinderzimmer, um mit meiner Autorennbahn zu spielen. Unten bahnte sich in meiner Abwesenheit die Katastrophe an: Meine Mutter, eine Hand am Hörer, die andere an der Kittelschürze, die sie heftig knetete und in alle Richtungen riss, hörte mit wütendem Gesichtsausdruck meiner Tante zu. Die heulte, jammerte und klagte ihr Leid über den untreuen Gatten. Und im Ofen verbrannte der Kuchen…
Nach dem Telefonat rief meine Mutter nach mir und wollte sich aufmachen ins Freibad, da plötzlich, als habe sie den Qualm bisher nicht wahrgenommen, schrie sie erschrocken auf: „Der Kuchen!“ Mit meiner kleinen Hand in ihrer großen rannte sie in die Küche und zog mich dabei hinter sich her. Dort angekommen umgab uns binnen Sekunden stinkiger Rauch, der noch schlimmer wurde, als meine Mutter den Ofen aufriss und mit einem Küchenhandschuh das Blech herauszog, dann aber auf den Boden krachen ließ, weil es selbst so noch zu heiß war. Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf. Als meine Mutter gar begann, mit dem Handschuh auf den Boden zu schlagen und dabei laut zu schreien vergaß ich mein Schweigen, meine Raffinesse und mein unschuldiges Lächeln und begann laut zu weinen. Sobald das erste glucksende Geräusch aus meiner eigenen Kehle an mein Ohr drang wurde ich mir meines Versagens bewusst und weinte noch viel lauter, schrie fast, getrieben von purer Verzweiflung, und der Rotz lief aus meiner Nase und tropfte neben den verunglückten Kuchen.
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