Samstag, 3. Oktober 2009

Meine Einheit: Splitter

Nachrichten schauen mit meinem Vater: „Papi, wann kommt wieder der Mann mit dem Ei auf dem Kopf?“ Und er, bei jedem Auftritt von Gorbatschow, lässt sich die geschlossene Faust auf den Vorderkopf plumpsen, öffnet sie langsam, macht dabei ulkige Geräusche und zieht sie in Richtung Stirn. Ich sitze auf einem unserer schwarzen Sofas und lache mich kringelig. In meiner Erinnerung ist es das hinten an der Wand, er sitzt links, mit dem Rücken zu mir, doch wenn er das Ei platzen lässt, dann dreht er sich in meine Richtung, lachend.

Diese Heiterkeit bei den Nachrichten ist neu. Mein Vater ist ein aufmerksamer, interessierter, inhaltlich engagierter Nachrichten-Schauer, der nicht gestört, nicht unterbrochen werden will, während die Neuigkeiten aus aller Welt in unserem Wohnzimmer landen. Bis dann, plötzlich, der Eier-Witz. Und mein Vater, der immer sagt, die Mauer werde fallen. Meine Mutter, die hinter uns durch die Wohnung wuselt und sagt: „So ein Quatsch.“ Das sagen die meisten Freunde und Bekannten, wenn es bei Einladungen meiner Eltern auf das Thema kommt: Die Mauer fällt nicht.

Erklärstunden vor dem Fernseher: Was ist die DDR, wie kam die Mauer zwischen den Osten und den Westen. Mein Vater, der früh die Hoffnung hat, sein Berlin könne wieder Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands sein. Ich erinnere meine Gänsehaut bei den Montags-Demos. „Wir sind das Volk!“ Ich erinnere Auftritte von Politikern, Kohl, Genscher – aber niemanden so intensiv wie Gorbatschow. Bilder aus den Kirchen, im Osten, ewige Debatten, irgendwann auch meine Mutter, mit auf der Couch: „Ob die Mauer wohl fällt?“ Bilder vom Tag der Grenzöffnung, von drängenden Menschenmassen, Reportern, die ihre Mikros in die Menge halten; Tränen in den Augen meiner Eltern. Und dieses absurde Gefühl, etwas geschafft zu haben.

In die Bilderkette reiht sich nahtlos David Hasselhoff, in dieser absurd blinkenden Jacke, der „Looking for Freedom“ singt, umringt von Menschen. Mein Bruder, der nach Berlin reist und mit Mauerstücken für alle zurückkommt. Mein Besuch bei der bislang unbekannten Brieffreundin in Eisenach, die Postkarte an meine Eltern: „Anja und ihre Familie sind sehr nett, aber hier riecht es komisch!“ Ausflüge durch den Osten, der Wartburg, an dem beim heißen Ritt über die Landstraße eine Tür auffliegt. Das fremde Licht der Straßenlaternen, nachts, das bis unter meine Decke im Hochbett fällt.

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