Als ich an diesem Spieltag meine Wohnungstür öffne, steht
der Zwerg mit heftig in die Falten geworfener Stirn im Hausflur und sagt, den
Finger anklagend auf seinen Cousin gerichtet: „Der Sebi ist für die Eintracht!“
Knapp fünf Jahre ist mein Neffe alt und muss feststellen, rein fußballerisch
betrachtet hat sich der Feind bis in unsere Familie hineingewagt... Ich zupfe
an seinem Trikot, in das er langsam aber sicher hereingewachsen ist: „Das tut
mir leid für den Sebi, vor allem, weil wir ihn und seine Eintracht gleich
haushoch aus dem Stadion fegen.“ Mein großer Neffe lacht, während wir uns zur
Begrüßung umarmen, Jakob aber irritiert sein neues Wissen. „Und wenn ich jetzt
auch für die Eintracht bin?“, erkundigt er sich. „Dann nehmen wir dich nicht mit“,
scherze ich; Fußballerziehung verträgt kleine Drohgebärden. Jakob beeilt
sich zu sagen: „Ich mach doch nur Quatsch. Wir sind Mainzer.“ Und dabei
schlingt er seine kleinen Ärmchen um meine Beine und strahlt zu mir herauf.
Auf dem Weg zum Stadion fällt Jakob eine weitere
Besonderheit auf – fast alle Fans im Bus tragen ihre Trikots, sein Cousin aber
ein normales T-Shirt. „Hat der Sebi denn kein Trikot?“, wundert er sich. „Doch,
aber das darf er bei uns im Block nicht anziehen.“ Der Zwerg macht große Augen.
„Das ist verboten?“ „Ja.“ „Aber meins nicht, gell?“, versichert er sich. „Nein,
aber du trägst ja auch das richtige Trikot.“ Zart befühlt Jakob da das
Mainz05-Emblem, und als er den Blick des Großen sucht und findet, liegt
kindliche Genugtuung darin.
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Auf geht’s, Mainzer. (Foto: Sebastian Gölz) |
Die Atmosphäre im Stadion ist sensationell. Vielleicht ist
es, bei aller Abneigung gegen den inflationären Gebrauch dieses Begriffs,
tatsächlich eine Art Derby-Fieber,
vielleicht auch das gute Wetter, aber die Luft knistert definitiv. Jakob sitzt im
Q-Block direkt vorne am Gitter auf dem Geländer und saugt alles in sich auf.
„Heute ist mein erstes ganzes Spiel“, erklärt er Sebi – bei seinem ersten
Besuch im Stadion waren wir mit nur einer Halbzeit eingestiegen – und ist ein
wenig eifersüchtig, als der erklärt, er sei schon öfter für ganze Spiele hier
gewesen. „Und immer haben die Mainzer verloren“, grinst er. „Heute nicht“, sagt
Jakob gelassen voraus.
Als die Choreografie über unsere Köpfe hinwegrauscht werden
die Augen des Zwergs so groß und rund wie Wagenräder. Als „You’ll never walk
alone“ erklingt, beschwert er sich lautstark darüber, keinen eigenen Schal zu
haben. Und als das erste Tor fällt, bekommt er es nicht mit, weil er gerade
staunend die Menschen im Block beobachtet und dem Spielfeld seinen Rücken
zugewandt hat. In den Jubel fällt er natürlich trotzdem mit ein, hüpft auf dem
Geländer auf und ab, klatscht erst mich ab und dann den etwas unwilligen Sebi.
„Mist“, murmelt der.
„Wer ist der Mann mit dem gelben T-Shirt?“ „Das ist der
Schiedsrichter.“ „Und wieso haben die Schiedsrichter da draußen Fahnen in der
Hand?“ „Das sind die Linienrichter.“ „Wer sind die Kinder mit den Bällen?“
„Balljungen.“ Eine Frage jagt die nächste und es ist verrückt, wie viel der
kleine Mann wahrnimmt, was er alles wissen will und wie die neuen Informationen
in seinem Kopf zusammengesetzt und weiterverarbeitet werden.
Der Große beobachtet das Spiel mit zunehmender Sorge, ich
behalte mit demselben Gefühl ein paar Fans in unserem Rücken im Auge, die
Umstehende schubsen und bepöbeln. Als das vermeintliche 2:0 als Abseitstor
aberkannt wird, boxt sich einer von ihnen durch die Menge, klettert einen
halben Meter neben dem Zwerg am Absperrgitter hoch, schüttelt und brüllt. Ich
beuge mich zu Jakob. „Alles okay?“ Sein Blick hängt am Spiel, den Zaunaffen
scheint er nicht wahrzunehmen, geschweige denn, dass ihm die Situation Angst
macht. Stattdessen fällt er mir Minuten später zum tatsächlichen 2:0 um den
Hals und lacht sich kringelig über den leidenden Gesichtsausdruck seines Cousins.
„Wieso muss der Mann gehen?“ In der 43. Minute erlebt der
Kleine seine erste rote Karte. „Weil er einem anderen Spieler wehgetan hat.“
Jakob überlegt und ich kann beinahe sehen, wie hinter seiner Stirn die Parade
von Spielern abläuft, die heute bereits die Wiese geküsst haben. „Das machen
die aber doch dauernd“, stellt er erwartungsgemäß fest. „Aber diesmal war es
besonders schlimm.“ Die Erklärung stellt ihn zufrieden, zumal bereits erneut
Grund zum Jubeln besteht und dafür, Sebi auszulachen – es steht 3:0. Der Große
schlägt sich wacker angesichts seiner sich in ihre Bestandteile auflösenden
Mannschaft.
Die zweite Halbzeit – ereignislos. Umso ereignisreicher die
Minuten nach dem Spiel, als die komplette Mannschaft auf den Zaun beordert
wird, samt Manager und Präsidenten. Jakobs Augen gehen von rund auf kugelrund.
„Was machen die denn da“, wispert er, es klingt ein wenig ehrfürchtig. „Die
wollen den tollen Sieg mit uns feiern. Und sich bedanken, weil wir dabei
geholfen haben.“ „Wir?“ „Na klar, wir haben sie doch angefeuert.“ Die Idee
scheint dem Zwerg zu gefallen, er strahlt. „Schau mal Jakob“, ist es nun an mir
zu flüstern – denn inzwischen ist Ivanschitz direkt vor unserer Nase auf den
Zaun geklettert. „Was“, wispert er aufgeregt zurück. Ich deute auf Ivanschitz’
Fuß. „Mit dem hier hat er das 1:0 geschossen.“ Der Zwerg zögert nur einen
kurzen Moment. Dann streckt er die Hand aus – und berührt für einen kurzen,
unvergesslichen Moment den heiligen Schuh.
[Zuerst veröffentlicht im Juli 2011 in der TORToUR # 27]
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