Mein Vater wuchs im festen Glauben
daran auf, ein Sonntagskind zu sein. Ich kann nicht sagen, warum ihm das so
wichtig war – aber ich erinnere mich, dass er oft davon sprach: Meine Oma hatte
ihn an einem Sonntag auf die Welt gebracht, damals, ein paar Jahre vor
Kriegsbeginn. Und das, davon schien er aus vollem Herzen überzeugt, hatte sein
Gemüt geprägt, seinen Glücksstern bestimmt.
Am 50. Geburtstag meines Vaters
aber kam es bei den Festlichkeiten zu einem Eklat, der meine Oma als Lügnerin
enttarnte. Zum runden Jubiläum hatte meine Tante sich ein ganz besonders
Geschenk für ihren jüngeren Bruder einfallen lassen: die Ausgabe einer Berliner
Tageszeitung, vom Tag seiner Geburt. Mein Vater war begeistert, meine Großmutter
wirkte hingegen seltsam angespannt. Und bald zeigte sich auch warum – der
Wochentag, der mit fetten Lettern auf der Zeitung prangte, war kein Sonn-
sondern ein Montag.
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Stein des Anstosses: Berliner Lokal-Anzeiger. (Foto: WP) |
Mein Vater war ein sehr
leidenschaftlicher Mann, das galt auch für seine Wut – und er wurde schrecklich
wütend. Auf seine Mutter, die ihn belogen hatte. Auf seine Schwester, die ihm
die Lüge aufgedeckt hatte, wenngleich unbeabsichtigt. Darauf, dass er
ausgerechnet montags auf die Welt gekommen war, als würde mit diesem Wochentag
etwas nicht stimmen. Auch meine Großmutter, eine kleine, energische Person,
wurde wütend – auf meine Tante, natürlich, die doch nur das Beste im Sinn
gehabt hatte. Und redete sich erbost raus, die zwei Minuten nach Mitternacht
könne man getrost vernachlässigen.
Aber mein Vater blieb
unversöhnlich. Denn es hatte ihm immer etwas bedeutet, diese Rolle des
Sonntagskindes. Er hatte sein Leben darauf bezogen und jedes Glück, das ihm in
all der Zeit widerfahren war. Nun fühlte er sich betrogen.
Bereits ein paar Jahre zuvor hatte
mein Paps, noch sehr jung, den ersten Herzinfarkt erlitten, dem über die Jahre
viele weitere Herzsorgen folgen sollten. Die Ärzte hatten meiner Mutter damals
kaum Hoffnung auf sein Überleben gemacht; wir Kinder waren viel zu klein, um zu
verstehen, was da passierte. Nur erschrocken, dass unser Vater plötzlich im
Krankenhaus lag und dazu noch einen Rollstuhl brauchte, obwohl man uns doch
erklärt hatte, sein Herz wäre krank. Aber das steckte doch nicht in seinen
Füßen!
Mein Vater überlebte, fast schon
zur Verwunderung seiner Ärzte. Die ihm gratulierten, als er verkündete, dies
hier sei ab heute sein zweiter Geburtstag, weil ihm das Leben neu geschenkt
worden war. Diesmal ist es ein Sonntag gewesen, tatsächlich, als er die OP
überlebte und sich wieder einließ auf das Leben; doch noch ein Sonntagskind
wurde, im zweiten Anlauf. Es war nur das erste von vielen Überlebensmomenten,
die ihm und uns beschieden wurden; doch der letzte Infarkt hat sein schwach
gewordenes Herz tödlich getroffen. Uns hat er überwältigt und die Sprache
geraubt, weil wir so gewohnt waren, an sein Überleben.
Am Tag seines Todes saßen wir vier
Kinder bei meiner jüngsten Schwester zusammen und beratschlagten, was nun zu
tun sei. Weil dies doch alles war, das uns blieb – nun, da er von uns gegangen
war: beratschlagen, entscheiden und Dinge erledigen, in seinem Namen. Als aber
schließlich einer von uns damit anfangen wollte, notwendige Telefonate zu
führen, da schüttelte mein Schwager den Kopf; und wir begriffen, noch bevor die
Worte seinen Mund verließen, was er sagen wollte: „Geht nicht. Heute ist
Sonntag.“
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