Dienstag, 14. Januar 2014

Lese-Dezember [2013]













Lauren Graham
Someday, Someday, Maybe
Ballantine Books
352 Seiten
ISBN-10: 0345532740














Georges Simenon
Bellas Tod
Diogenes
194 Seiten
ISBN-10: 3257241313














Charles Bukowski
Pulp
Ecco
208 Seiten
ISBN-10: 0876859260



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Freitag, 3. Januar 2014

Odenwald-Tapete: Eine elende Jugend


Es ist ein goldener Herbsttag in den späten Neunzigern. Ich bin in meinem Auto, einem alten, blauen Einsergolf, auf der B45, Höhe Shelltankstelle/Michelstadt in Richtung Zell unterwegs: Eltern frisch getrennt, Mutter langfristig im Krankenhaus, Liebeskummer und Abiturvorbereitung – es hatte schon bessere Zeiten gegeben. Da zwitschert dieser Typ im Radio, das Wochenende werde er im Odenwald verbringen: tolle Luft, schöne Landschaft, nette Leute, genau der richtige Ort, um sich mal zu erholen. Meine ganze Teenagerwut entlädt sich und ich brülle das Radio an, dass die Menschen im Odenwald von genau den gleichen Katastrophen heimgesucht werden wie im Rest der Welt, ob ihm das nicht klar sei? Es kommt eben immer darauf an, wo man wohnt und wo Urlaub macht; auch der Pazifik vor der Haustür schützt nicht vor Schicksalsschlägen.

Wer hat da was gegen den Odenwald gesagt?
Obwohl mir diese Szene so intensiv in Erinnerung geblieben ist, kann ich nicht sagen, eine besondere Haltung gehabt zu haben gegenüber der Gegend, in der ich aufwuchs – außer dass ich es als Kind toll fand, immer draußen zu sein, durch die Wälder zu streifen, Baumhäuser zu bauen. Mein Vater, ein Berliner, der sich in den Odenwald zunächst verirrte und dann verliebte, der hatte eine Haltung, konnte stundenlang schwärmen über das wunderschöne Fleckchen Erde, an den es ihn verschlagen hatte. Ich fühlte mich von meiner Umgebung weder besonders bedrängt noch beflügelt, kann aber sagen, dass ich mich unterm Strich wohlgefühlt habe. Natürlich wird es einem als Teenager zwischenzeitlich immer zu eng dort, wo man lebt, aber Heidelberg war nah, Frankfurt erreichbar und außerdem konnte ich schon damals das Gefühl nicht abschütteln, man nimmt doch all die inneren Kämpfe mit, egal wohin man geht – weil sie genau da sind: innen; der Odenwald hatte damit nichts zu tun.

Im Online-Feuilleton der F.A.Z. erschien an Neujahr nun ein Wutausbruch der Autorin Antonia Baum, in dem sie sich über diesen Odenwald ereifert, auf den sie dereinst „im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden“ ist und der sie, verkürzt gesagt, umgebracht hätte, wäre ihr Deutschlehrer nicht gewesen. Der Odenwald ist nämlich, erfährt der Leser, ein Ort, der für Heranwachsende nicht weniger als „ein Todesurteil“ bedeutet, ist „lebensgefährlich“ für den Kopf – und alles dort „eine Wand, gegen die man im Kopf den ganzen Tag dagegenrennt“.

Idylle sieht überall gleich aus. Auch im Odenwald.
Schon als Kind sei man diesem Ort „hilflos ausgeliefert“, erinnert sich Baum, selbst zeit ihrer Kindheit und Jugend „der Odenwalddurchschnittlichkeit Inhaftierte und mit (ihrer) Familie an diesem Ort total Deplazierte“, wobei jene Deplatzierung auch darin begründet zu sein scheint, dass die Menschen im Odenwald offenbar allesamt mit eher minderer Intelligenz ausgestattet sind. Besonders gilt das für die Jungs im jeweiligen Alter der Autorin, die sogar richtig dumm sind, „das konnte einem nicht entgehen, selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte“.

Die Gegend an sich sei im Übrigen eine schöne, das Problem die hässlichen Gebäude, erdacht und erbaut von Menschen, denen die Region wohl egal sein müsse; aber auch – das wird weniger klar benannt und spricht doch mit Macht aus den Atempausen zwischen den Zeilen – die Leute, die hier leben, ohne zu begreifen, sie müssten eigentlich fort.

„Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine einzige Chance. Die Familienoberhäupter waren Männer, die Frauen meistens zu Hause, die Männer schrien die Frauen an, wenn sie selbst versagt hatten, die Frauen ließen sich von ihren Männern anschreien, und beide, Männer wie Frauen, wollten in der Nachbarschaft einen gepflegten Eindruck machen. Es gab dekorative Vasen und Glasfiguren, modische Sitzgarnituren, Helmut-Kohl- Biographien und Mädchen, die Schlampen waren, wenn sie im Alter von fünfzehn Jahren häufiger den Freund wechselten.“

Die Kindheit und Jugend der Antonia Baum scheint eine elende gewesen zu sein und so, wie andere Menschen dafür ihre Eltern verantwortlich machen, wälzt sie die Verantwortung ab auf das, was sie im Heranwachsen umgab, ohne ihr Inspiration gewesen zu sein. Dabei ist sie leider furchtbar beliebig: Mit diesem Teenagerfrust im Bauch könnte man sämtliche Vorwürfe, die sie dem Odenwald macht, einfach jeder ländlichen Region in Deutschland (und überall auf der Welt) entgegenschleudern. Der Gedanke ist der Journalistin zwar offenbar auch kurzzeitig gekommen (der Odenwald ist „an Hässlichkeit und Traurigkeit eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind“), allein er ändert nichts daran, dass die Mittzwanzigerin auf ihrer Teenagerwut seltsam hängengeblieben scheint.

Es macht den Artikel aber zu allem auch noch furchtbar unoriginell, weil er wiederkäut, was schon oft beschrieben wurden: Die Wut Heranwachsender auf eine sie eng umschließende Ländlichkeit, in der einfach nichts passieren will – und auf die Weite eines Landkreises, die in diesem Alter gefühlt mehr Freiheit nimmt denn gibt, weil eben nicht im Minutentakt eine U-Bahn durch sie hindurchrauscht, um uns an einen anderen, vermeintlich besseren Ort zu bringen. Ob aber das alleine gefährlich ist für den Kopf, ein Todesurteil oder auch nur ein Alleinstellungsmerkmal des Odenwaldes darf, wie gesagt, bezweifelt werden.

Daneben hadert Baum mit der Frage nach einer Heimat. Man kann nun dem Begriff an sich misstrauen, sollte es auch oft genug – denn er ist missbraucht worden für Schrecklichkeiten, von denen man sich fernhalten muss, wenn einem der Kopf und das Herz funktionieren. Es nutzt aber nichts, all seine Angst vor den Dummen, Rechten und Unverbesserlichen diesem Wort aufzuladen, und zu glauben, man habe sie ausgetrickst, indem man es nicht mehr verwendet. (Man stelle sich zum Beispiel den Versuch vor, mit Peter Kurzeck, was ja leider nicht mehr möglich ist, über sein Werk zu sprechen, ohne den Begriff Heimat zu benutzen.)

Heimat – Home – Zuhause, rein emotional betrachtet wird damit zunächst lediglich ein Ort, Mensch oder Ding beschrieben, zu dem wir eine emotionale Verbindung haben, wohin wir zurückkehren können und wissen, wir werden erkannt und erkennen wieder. Das kann, wie Baum selbst schreibt, für Bücher gelten (in ihrem Fall darüber hinaus für ihre Kleidung und besonders ihr Bett), für Menschen oder Musik und natürlich auch Orte; solche, an denen wir aufgewachsen sind oder solche, an denen wir uns niedergelassen haben. So richtig konsequent wirkt Baum aber ohnehin auch mit dieser Skepsis nicht, da sie das Wort erst dem rechten Lager zuordnet und später munter weiter verwendet; Lektorate sind heutzutage eben überflüssiger Luxus.

Warum die F.A.Z nun einen Artikel veröffentlich, der das Spießertum bejammert, dabei aber mit den ausgelutschtesten aller Klischees über den ländlichen Raum und das, was es bedeutet, darin aufzuwachsen, hantiert, die man überhaupt zusammentragen kann, bleibt allein ihr Geheimnis. Die Verfasserin ist nebenbei übrigens Buchautorin, ihren Roman rezensierte die F.A.Z. einst mit folgenden Worten:

„Antonia Baums vollkommen lebloses Debüt, in dem eine junge Frau in Berlin nach der Liebe sucht, wird als neue deutsche Literatur verkauft. Was für ein Irrtum! Sapperlot! Welch eine Verzweiflung muss herrschen auf den deutschen Verlagsfluren, wo offenbar jedes noch so missglückte Debüt mit Handkuss angenommen wird.“

Das war Ende 2011, seit Februar 2012 arbeitet Baum laut Autorenvita für die Zeitung. Offenbar wurde ihr dort eine zweite Chance gegeben, vielleicht sollte sie selbiges mit dem Odenwald tun – nicht etwa dieser Region, sondern sich selbst zuliebe...


Der Originalartikel in der F.A.Z. – klick.
Der Odenwald(kreis) bei Wikipedia – klick, klick.
Peter Kurzeck über Heimat als Ort und Sprache – klick, klick.

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Freitag, 20. Dezember 2013

Die TORToUR: Dies ist die Nacht, da mir erschienen


[Kaspar Friedrich Nachtenhöfer]

Alles hängt ja bekanntlich mit allem zusammen. Wenn also zwei Redakteure der TORToUR gemeinsam ein Buch über Mainz 05 verfassen, lässt sich zumindest vermuten, ihre Arbeit für das Fanzine war dem Zustandekommen dieses Vertrages nicht abträglich. Wenn dann just die Dame aus dem Autorenduo eingeladen wird, für einen Abend auf der orangegelben Couch im Studio der SWR-Sendung „Flutlicht“ platz zu nehmen, hängt das vielleicht damit zusammen, dass sich dereinst der Wunsch ihres Vaters erfüllte, und sie als Mädchen zur Welt kam. Mehr Fußballsachverstand hätte am End’ sogar der männliche Autor auf die Couch gebracht – alles Gerüchte, kann ich dazu nur sagen. Und überhaupt...

Willkommen auf der gelben Couch! (Foto: WP)
Was genau Kölnfan Wolfgang Niedecken ins Fußballfeindesland verschlägt, konnte vorab niemand ahnen, für ihn trudelten jedoch tonnenweise Autogrammwünsche ein; Hans-Peter Briegel, die Walz aus der Pfalz, hat angeblich eine Zweitwohnung in Studionähe: Niemand tritt häufiger bei Flutlicht auf als er (behaupte ich und mir wird nicht widersprochen). Am Anfang stand jedenfalls die Nervosität und von der ist es nur ein Katzensprung bis hin zum Schnaps; da es aber betüddelt auf der Fernsehcouch vermutlich schneller peinlich wird, als eine Katze springen kann, gab es stattdessen ein Trinkspiel im doppelten Sinne, wonach die Autorin für jede Erwähnung der TORToUR ein Stadionbier ausgegeben bekommt, einerseits, und andererseits vereinzelte Freiwillige aus der Redaktion bei jeder dieser Erwähnungen an den heimischen Fernsehgeräten einen Schnaps kippten.

Ob das angedrohte Public-Viewing zu diesem Anlass tatsächlich zustande kam, ich weiß es nicht, was ich aber sagen kann ist, mit dieser Anekdote einzusteigen, hat alles viel einfacher gemacht. Es ist ja schön leicht gesagt, dass man sich in einer derart ungewohnten Situation – Kameras, Prominenz, Publikum – einfach locker machen soll, am Ende hilft es doch, wenn ein Studio voller Menschen herzlich lacht und Wolfgang Niedecken, Hans Peter Briegel und Tom Bartels alles daran setzen, so oft wie möglich von einer Tortour zu sprechen. Immerhin, die Herren kannte man bisher auch nur aus dem Fernsehen. Gut, mit Tom Bartels hatte man sich am frühen Mittag schon beim Plausch vertraut gemacht, und das in Unterwäsche, aber davon ahnt der ja glücklicherweise nichts; solche Dinge passieren eben, wenn man quasi aus der Dusche direkt ans klingelnde Telefon stolpert. Vielleicht ist es ja wichtig!

Högschde Konzentration! (Foto: Jörg Braun)
Was bleibt von dem Abend? Die TORToUR ist jetzt endlich ein bisschen näher dran an der Berühmtheit, die sie verdient hat. Der Tom, der Wolfgang und der Hans-Peter sind echt drei nette Jungs. Mein Postfach war am nächsten Tag voller als an meinem Geburtstag. Ach und, einige verwirrte FCK-Fans haben sich tatsächlich die Mühe gemacht, mich zu googeln, dabei meinen Twitter-Account gefunden und mich da standesgemäß als „Labertante“ und „Fan von Depp 05“ beleidigt, die ihnen „voll auf den Sack geht“. Ich bin schon ein bisschen stolz.



PS: Pfalz halt, ihr Telefon können sie bedienen, aber zum Umschalten hat’s nicht gelangt.
PPS: Tausend Dank für die vielen gedrückten Daumen, fürs Mitkommen und Mitfiebern und Mitfreuen, lang lebe Die TORToUR, Prost und Hurra.


[Zuerst erschienen in der Adventsausgabe von Die TORToUR]

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Samstag, 14. Dezember 2013

Die TORToUR: Es kommt ein Schiff geladen


Das Schiff geht still im Triebe,
trägt eine teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast.
[Johannes Tauler]

Seinem neuen Buch „Wenn Spieltag ist – Fußballfans in der Bundesliga“ hat Hardy Grüne das wunderbare Zitat von Eric Cantona voran gestellt, in dem dieser treffend ausformuliert, was jeder Fan ohnehin weiß: „You can change your wife, your politics, your religion – but never, never can you change your favorite football team.“ Besser ist diese absolute Liebe niemals beschrieben worden.

Grüne unterteilt seine 256-Seiten-starke Reise durch die Geschichte der Fußballfans in acht thematische Kapitel, nämlich: Fans – Eine Typologie, Kurve – Die Seele der Fans, Farbe – Aktive Fankultur, Auswärts – Fans auf Reisen, Gewalt – Die dunkle Seite des Spiels, Frauen – Weibliche Fankultur, Kommerz – Moderner Fußball, Ultras – die Rebellen der Kurve. Für die Bereiche Frauen und Ultras hat er sich mit Nicole Selmer und Christoph Ruf zwei Co-Autoren ins Boot geholt, die über das jeweilige Thema bereits zuvor publiziert haben.

Foto: Verlag
Früher hatten neue Bücher einmal diesen besonderen Geruch. Ich weiß nicht, wohin genau der verschwunden ist, denn Druck ist Druck, sollte man meinen, doch die kleinen Softcover von heute verströmen nicht mehr den Duft, mit dem man sich tagelang am Kamin festlesen wollte. Grünes Spieltagsbuch ist von einer üppigen Haptik, die beinah vergessen scheint in Zeiten von Kindle & Co. – nicht nur ist die DinA4-Größe als Format fast ausgerottet, es ist auch ein dickes, schweres Buch – ein Wälzer im besten Sinne –, dabei aber keine Bleiwüste, sondern mit unzähligen Bildern liebevoll gestaltet und aufgewertet durch allerlei Zitate von Fußballgrößen. Und es duftet, lacht ihr ruhig, aber ich hatte vergessen, wie gut so ein neues Buch duften kann... Völlig egal also, ob auf einen Reader etwa zig Hundert Bücher passen, wer Grünes Buch durchblättert, glaubt (wieder) an die Zukunft von Druckerschwärze.

Was am Ansatz des Autors besonders angenehm ist – er betrachtet die Szene gleichermaßen als Aktiver und aus der Distanz. Fan ganz allgemein und auch speziell im Fußball, das ist er vor Jahrzehnten geworden, aber er setzt sich mit der Kultur und Entwicklungsgeschichte eben auch als Journalist und Historiker auseinander. Es ist genau dieser Spagat, der das Buch besonders macht, weil da einer schreibt, der sich ehrlich bemüht, beide Perspektiven auf Fans und Szene zu schildern, sie einander und jedem Leser, der sich weder zu der einen noch der anderen Seite zählt, nahe zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe doch zumeist gelingt der von ihm selbst benannte Spagat.

Bei aller Genauigkeit der Recherche, Aktualität und Liebe zum Detail sind es aber doch vor allem die Fotos, von denen dieses Buch lebt. Bilder aus zig Jahrzehnten Fußballliebe, in die nach und nach die Farbe einfließt, Abbildungen aus den Stadien der Republik, Impressionen begeisterter Fans, Erinnerungen an magische Momente – skurril, erstaunlich und emotional. Sie machen das Buch quasi zum Familienalbum, in dem sich die ganze weit verstreute Sippe wieder findet. Schön!

[Zuerst erschienen in der Adventsausgabe von Die TORToUR]

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