
Wenn ich durch die Tür das Café betrete, bemerkst du mich zunächst nicht. Du bist ganz vertieft, in alles, was du tust. Deine Geschichten, die unablässig aus dir heraussprudeln. Die unvermeidliche Zigarette, an der du tief und genussvoll ziehst, während du gleichzeitig deine Kaffeetasse anhebst, um sie zum Mund zu führen, sobald du die Marlboro freigegeben hast. Einer aus deinem Stammtisch sieht mich zuerst, er lauscht dir nur noch unaufmerksam, die anderen wenden wie er nach und nach die Köpfe, bis zuletzt auch du auftauchst aus diesem Moment, und wie sie zur Tür siehst.
„Mensch, Mädel!“, rufst du. Dann schiebst du die Kaffeetasse weiter in die Mitte des Tisches und kommst mir mit der Zigarette in der Hand entgegen. Du lachst. Ich kann sehen, wie sehr du dich freust. „Mädel! Was machst du denn hier?“ Du sagst immer Mädel, so, wie du uns Schwestern im Kollektiv gern Weiber nennst; ich mag das. Vielleicht, weil mich sonst niemand so nennt, es auch niemand dürfte. „Dich besuchen!“, antworte ich lächelnd. Und freue mich – darüber, dass du dich freust; und darüber, dich zu sehen.
Ich setze mich zu dir und deinem Stammtisch und du stellst mich jedem von ihnen vor, obwohl die Männer mich alle kennen. Ich spüre, dass du stolz bist, einfach so, ohne dass ich irgendetwas getan habe; nur weil ich hier bei dir sitze, weil ich deine Tochter bin. Dein Glück ist ehrlich und tut genau deshalb so gut, dein Strahlen wärmt alle, die es streift. Die Liebe, die du gibst, geht keine Umwege – sie trifft direkt ins Herz. Ich bestelle mir ein Frühstück und du bestellst dir noch einen Kaffee. „Für meine Tochter bitte nur die hellen Brötchen“, sagst du zu Frau Müller, weil du weißt, dass ich die mit den Körnern nicht mag. Frau Müller weiß das auch, aber es gehört zu unserem Ritual. Auch, dass du mir erklärst, jede fünfte Tasse Kaffee gibt es für euch umsonst. „Du sollst gar nicht so viel Kaffee trinken, Paps“, mahne ich – und einer der Männer meint, das ginge schon in Ordnung, die kostenlose fünfte Tasse sei koffeinfrei. Die Männer lachen und ich muss grinsen. So ist es immer.
Irgendwann verlassen wir das Café und fahren zu deinem Häuschen. Stolz zeigst du mir dort, was sich seit meinem letzten Besuch verändert hat, welche Lampe neu ist und wo du weitere Fotos von uns Kindern aufgehängt hast. Dein Heim strahlt Wärme aus, ebenso wie du. Ich bin gerne hier und das spürst du, als du mir erklärst, das Gästezimmer sei doch im Grunde für mich, die ich von uns vier Kindern am weitesten von dir entfernt wohne. Falls ich mal länger bleiben möchte.
Heute fahren wir anschließend zur Jüngsten der Geschwister. Dort kannst du mit deinem glücklichen Stolz ihren dicken Babybauch streicheln, bevor du und ihr Mann auf der Terrasse ein paar Bierchen auf diesen Tag zischen, während wir Mädels im Wohnzimmer plaudern. „Er freut sich so!“, wird si sagen; und ihre Wangen davon glühen. „Das hat er sich immer gewünscht!“, werde ich lächelnd nicken. Und jede Minute dieses Tages wird sich genau richtig anfühlen. Auch ohne Bollerwagen. Zumindest in meinem Traum. Denn so oft wir Kinder uns auch danach sehnen, nichts wird solche Tage mit dir je wieder aus der Welt unserer Gedanken und Träume ins wirkliche Leben zurückkehren lassen.
Vorhin habe ich lange mit der schwangeren Maus telefoniert. Wir haben über dich gesprochen, über diesen Tag, an dem Männer mit Bollerwägen und Bier losziehen und darüber, dass auch wir früher einen solchen Wagen hatten, in dem du aber nie Bier, sondern lieber uns Mädchen durch die Stadt gezogen hast – und uns dabei die Welt erklärt. Dann hat sie mir mit Tränen von dem Medaillon erzählt, das sie für dich gekauft hat, und dass es „Opa 2006“ liest. Sie wird es dir vorbeibringen, wenn sie in gut zwei Wochen mit ihrem Mann und dem Kleinen das Krankenhaus verlässt.
Auf dein Grab wird sie es dir legen, und ihrem frisch geschlüpften Sohn dabei erklären, was für ein Glück er hat, weil sein Großvater der beste von allen ist, der fabelhafteste Opa auf der ganzen Welt. Denn das soll er spüren, der Kleine, in unserer Liebe zu dir; auch wenn ihr beide einander verpasst habt…
[Vatertag 2006]
*