
„Du hast echt ein süßes Baby, ey, ganz ehrlich. Und dein Mann, ey, der liebt dich. Hab’ ich gleich gesehen!“ Ich luke vorsichtig unter meiner Krankenhausbettdecke hervor. Vermutlich war die mal gelb weiß gestreift, mittlerweile sieht sie allerdings eher aus, als sei sie im regelmäßigen Wechsel mal mehr und mal weniger dreckig. Außer mir und meiner Bettnachbarin ist niemand im Zimmer, also frage ich: „Meinst du mich?“ Sie nickt heftig. „Und sieht auch gut aus, dein Kerl!“
Ich rubble mir mit dem abgewinkelten Zeigefinger der linken Hand im Auge herum. Erstens, weil es dort juckt und zweitens, um meine Verwirrung zu überspielen. Schließlich brummle ich Unverständliches in Richtung Bettdecke. Vielleicht hört sie ja gleich auf zu reden?
„Wie lang’ seid ihr verheiratet?“ „Ich bin gar nicht verheiratet“, offenbare ich zögerlich. Und wundere mich selbst, wieso eigentlich zögerlich?, als sie schon nachhakt, „was, Kind ohne Ehe un’ so was? Ey, Schwester, ich schwör’, das geht bei uns nicht.“ Ich überlege, wo „bei uns“ ist und stelle erschrocken fest, warum meine Antwort eben nur zögerlich kam – der Gedanke an Ehe und Kind hatte nichts Abschreckendes. Mir ist ein bisschen übel.
„Woher kommst du denn?“ „Also, das is’ nich’ so leicht. Wir sind Türken, schon, aber mehr Kurden. Das lässt sich kompliziert erklären, auch wegen Mafia.“ Hat sie gerade Mafia gesagt? „Wie alt is’ dein Sohn?“ „Ich habe keinen Sohn.“ „Doch, Schwester, auf dem Foddo, oder was, klar, oder?“ Ich gebe auf. „Das ist nicht mein Kind.“ „Wem sein’s sonst?“ „Der Kleine ist mein Neffe, der Sohn von meiner Schwester“, lasse ich die Katze aus dem Sack, nur um trotzig hinterher zu schieben, „aber ich bin Patentante“.
„In der Mafia gibt’s auch Paten, aber mehr in italienischer!“, erklärt sie mir und fragt: „Ihr habt keine Kinder?“ „Wer?“ „Du und deine Mann?“ „Ich bin nicht verheiratet!“, erinnere ich sie freundlich. „Na, dann halt du und deine Fro-hoint!“ Ich seufze. „Das ist nicht mein Freund.“
„Der Blonde?“, fragt sie, ehrlich erstaunt. „Das ist nicht dein Macker, Schwester?“ „Nein!“, antworte ich. „Aber der liebt dich!“, ruft sie, scheinbar entrüstet. „Wer?“ „Der schöne Kerl!“ Ich muss grinsen darüber, dass sie offensichtlich einen meiner Jungs schneckig findet. „Ne, tut er nicht“, widerspreche ich dann.
„Wie alt bist du eigentlich?“, frage ich sie. „Schätz ma’!“ „Vierzehn.“ „Ey, Schwester, bingo! Du hast’s drauf, man, wenn du Kurdin wärst, vielleicht wärst du mit uns in der Mafia.“ Ich frage mich gerade, ob die auch Frauen aufnehmen, als sie sagt, „hast aber keine Angst, gell, im Krankenhaus sind Schusswaffen verboten, da bringt keiner was mit“. Ich nicke. Na dann… „Und wie alt bist du?“, fragt sie nun. „Schätz mal!“, fordere ich.
„Vierundzwanzig!“ Komm her, Kleine, lass’ dich küssen. „Ne. Achtundzwanzig.“ „Ey, Scheiße – und da bist du noch nicht verheiratet?“ Ich mag sie doch nicht küssen. „Nein.“ Mit einer jüngeren Schwester, die bereits verheiratet ist und Mutter, bin ich besorgt unter der Stirn herausgerunzelte Nachfragen der Art schon gewöhnt; von einem Mädchen, das halb so alt ist wie ich, wirken sie dennoch für einen Moment erschütternd.
„Ey, aber der Blondy liebt dich doch. Nimm den.“ Ich muss wieder grinsen. „Schätze, da hätte seine Freundin was dagegen“, lache ich. „Außerdem liebe ich ihn nicht – und er mich genauso wenig, ganz sicher.“ Meine Gegenüber schüttelt den Kopf. „Ey, Schwester, vertrau mir, die wird der verlassen. Wie der dich so anschaut. Und wie der immer herkommt. Und dich so anfasst. Vertrau mir.“
Ich freu mich drauf, zur Besuchszeit ihre Spekulationen mit Blondy und dem Rest der Bande zu teilen und komme nicht mehr zum gezielten Widerspruch, da meine Bettnachbarin für ihre OP abgeholt wird. Zum ersten Mal seit Tagen bin ich da allein: kein Besuch, kein Lämpchen schwingender Arzt, keine Zimmergenossin und keine Schwester.
Nur ich – und meine Gedanken.
Die Stille in meinem Kopf tut weh. Doch schlimmer noch pocht eine andere. Mir fehlt etwas, das ich nicht [mehr] kenne, verselbständigen sich die Gedanken in meinem Kopf. Und es wird schon seit einer Weile jeden Tag ein bisschen doller, stelle ich fest. Wie das passieren konnte, frage ich mich, dass ich auf die Frage, ob ich in festen Händen sei, mein nein nicht mehr strahle, sondern leise seufze. Und finde keine Antwort außer der einen, dass es wohl keine Phase, sondern eine Veränderung ist.
Weil mein Herz sich den alten Staub abgeschüttelt und seine Fenster weit aufgerissen hat, ohne zu fragen, was ich davon halte. Nun sitzt es da und friert, weil sich vor Zeiten etwas zwischen sein Klopfen und die Sonne geschoben hat: ich.
Mache ich Platz, wird mir bloß der Rücken kalt.
Und Schusswaffen sind im Krankenhaus verboten.
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